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Strafrechtlicher Wahrheitsschutz bei der politischen Meinungs- und Willensbildung?

von Prof. Dr. Armin Engländer 

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Abstract
Der Beitrag befasst sich mit der Frage, ob zum Schutz der Demokratie politische Fake News stärker als bislang mit dem Mittel des Strafrechts bekämpft werden sollen. Er zeigt auf, dass die Antwort auf diese Frage davon abhängt, welche Rolle Wahrheit in der politischen Meinungs- und Willensbildung spielt. Das wiederum steht im Zusammenhang mit der Frage, ob man Demokratie besser in einem deliberativen oder in einem elektoral-interessenbasierten Sinn versteht. 

The article examines whether political fake news should be tackled more vigorously through criminal law to protect democracy. It shows that the answer depends on the role that truth plays in the formation of political opinion and will. This, in turn, is linked to the question of whether democracy is better understood in a deliberative or in an electoral, interest-based sense.

I. Einleitung

Einer verbreiteten Ansicht zufolge leben wir in postfaktischen Zeiten. Wahrheit scheint – jedenfalls im politischen Raum – derzeit nicht hoch im Kurs zu stehen. „Fake News“, „alternative Fakten“ und Verschwörungsnarrative sind auf dem Vormarsch – begünstigt durch den tiefgreifenden Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation infolge der Etablierung des World Wide Web samt der zahlreichen und vielfältigen sozialen Medien.[1] Zugleich hat in den parlamentarisch-demokratisch verfassten Staaten der sog. westlichen Welt in den letzten dreißig Jahren das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen und Akteure in beunruhigendem Umfang abgenommen, einhergehend mit einer Erosion des Glaubens an die Vorzugswürdigkeit der Herrschaftsform der Demokratie selbst.[2]

Als eine Ursache für die Regression demokratischer Gesellschaften wird die zunehmende Verbreitung der vorgenannten Fake News, alternativen Fakten und Verschwörungsnarrative angeführt.[3] Sie lösten die gemeinsam geteilte Wirklichkeit als Fundament demokratischer Gesellschaften auf, verwandelten Wahrheiten in bloße Meinungen, bewirkten Verunsicherung, Misstrauen und Desorientierung in der Bevölkerung, erschütterten das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik, schürten negative Emotionen bis hin zu Hass und Wut, vergifteten den politischen Diskurs und spalteten die Gesellschaft. Ihre Bekämpfung wird daher von vielen als vordringliche politische Aufgabe gesehen. In diesem Zusammenhang ertönt in letzter Zeit verstärkt der Ruf nach dem Strafrecht. Es bedürfe zum Schutz der Demokratie eines Straftatbestandes, der – jedenfalls unter gewissen Bedingungen – das Inverkehrbringen und Verbreiten von politischen Fake News und Verschwörungsnarrativen unter Strafe stelle.[4] Verwiesen wird dabei nicht selten auf das Beispiel des § 264 öStGB.

Im Folgenden sollen einige Überlegungen dazu vorgestellt werden, ob und inwieweit es tatsächlich gute Gründe für eine umfassendere Pönalisierung von politischen Fake News gibt (alternative Fakten und Verschwörungsnarrative werden dabei für die Zwecke dieser Untersuchung als Unterarten von Fake News verstanden und deshalb im Folgenden nicht gesondert thematisiert). Hierzu wird zunächst ein Blick auf den Wert der Wahrheit für die Demokratie geworfen. Sodann schließen sich einige Überlegungen zu den Zwecken des Inverkehrbringens und Verbreitens politischer Fake News an. Schließlich geht der Beitrag kurz auf mögliche strafrechtliche Regelungen, ihre etwaigen Vorzüge, aber auch ihre Probleme ein.

II. Der Wert der Wahrheit für die Demokratie

Das Verhältnis von Wahrheit und Politik war und ist bekanntlich problembehaftet und konfliktreich. Lügen scheint „zum Handwerk … des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören“, wie Hannah Arendt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ bemerkt.[5] Dessen ungeachtet ist aber die Ansicht weit verbreitet, dass Wahrheit jedenfalls für die Demokratie einen zentralen, unverzichtbaren Wert bildet.[6] Die Gründe hierfür und die genaue Rolle der Wahrheit hängen freilich davon ab, welches Verständnis man vom Wesen der Demokratie hat. Diesbezüglich konkurrieren unterschiedliche Auffassungen. Der hiesige Beitrag geht auf zwei in der aktuellen demokratietheoretischen Debatte besonders verbreitete Vorstellungen ein: das deliberative und das elektoral-interessenbasierte Verständnis von Demokratie.

Das deliberative Verständnis stellt die Gedanken des Sich-Beratschlagens, des gemeinsamen Nachdenkens, des Argumentierens, des Austauschens von Gründen und Gegengründen in den Mittelpunkt. Es schließt an die Überlegungen von Jean-Jaques Rousseau zur Volkssouveränität an[7] und hält an der Vorstellung fest, dass es in der Demokratie nicht einfach um Stimmrechtsgleichheit, die Durchsetzung von Mehrheitsmeinungen oder Kompromisse zwischen widerstreitenden privaten Interessen der Bürger geht, sondern um die Herausbildung eines vernünftigen Gemeinwillens. Ermöglicht werden soll eine gemeinwohlorientierte politische Meinungs- und Willensbildung durch autonome Öffentlichkeiten, in denen herrschaftsfrei darüber deliberiert, also beraten wird, was im gemeinsamen Interesse aller liegt.[8] Als Teilnehmer an politischen Diskursen erhöben die Bürger für ihre Debattenbeiträge Wahrheitsansprüche (bzw. wahrheitsanaloge Richtigkeitsansprüche), die sie mit Argumenten, d.h. durch die Angabe von Gründen, zu belegen suchten – und gegebenenfalls im Lichte überzeugenderer Gegengründe revidierten oder modifizierten. Die parlamentarische Beratung und Beschlussfassung bilde daher hier nur das institutionelle Zentrum der politischen Meinungs- und Willensbildung. Sie bleibe stets angewiesen auf die angemessene Berücksichtigung der Themen, Meinungen und Argumente, die in den informellen öffentlichen Debatten zirkulieren.[9] Wahrheitssuche ist für das deliberative Verständnis von Demokratie somit eine kollektive Unternehmung, bei der die Staatsbürger sich prinzipiell ein Engagement wechselseitig schulden und durch ein gemeinsames Interesse verbunden sind.

Die deliberative Demokratiekonzeption stellt an die Partizipation der Bürger nicht eben geringe Anforderungen; sie operiert dabei teilweise mit ganz erheblichen Idealisierungen. Mit deutlich „sparsameren“ Annahmen kommt demgegenüber das elektoral-interessenbasierte Verständnis von Demokratie aus. Kennzeichnend für die Demokratie ist ihm zufolge zunächst, dass die Bevölkerung durch institutionelle Vorkehrungen die Möglichkeit erhält, diejenigen, die die politische Herrschaft ausüben, regelmäßig durch freie, gleiche und geheime Wahlen ohne Gewalt
und Blutvergießen wieder abzusetzen.[10] Die politische Meinungs- und Willensbildung, insbesondere die parlamentarische Beratung und Beschlussfassung, versteht das elektoral-interessenbasierte Modell dabei primär als soziales Kompromiss- und Ausgleichsverfahren.[11] Die Demokratie erkenne plurale und einander widerstreitende Interessen und Werte – jedenfalls innerhalb des Verfassungsbogens – als prinzipiell gleichberechtigt an und entschärfe sie im Wege der Kompromissbildung. In der Ermöglichung von im Großen und Ganzen tragfähigen Kompromissen trotz unvermeidlicher Interessen- und Wertungsgegensätze liegt nach diesem Verständnis die zentrale Leistung der Demokratie. Die entscheidende Funktion der Öffentlichkeit besteht demzufolge auch nicht darin, dass die Bürger in Bezug auf politische Fragestellungen bestimmte Wahrheitsansprüche erheben und kritisch debattieren, sondern darin, dass sie ihre persönlichen Interessen, Wünsche und Vorstellungen artikulieren, die Politik im Lichte dieser Parameter bewerten und den politischen Funktionsträgern – insbesondere (aber nicht nur) durch ihre Entscheidung in der Wahlkabine – ein ungeschminktes Feedback zu ihren bisherigen und geplanten Entscheidungen und Maßnahmen vermitteln.

Das heißt allerdings nicht, dass Wahrheit für das elektoral-interessenbasierte Demokratieverständnis gar keine Rolle spielt. Denn zum einen können die politischen Funktionsträger nur dann Mehrheiten gewinnen und tragfähige Kompromisse schmieden, wenn sie sich über die Interessen­lagen in der Bevölkerung ein einigermaßen zutreffendes Bild verschaffen und auch korrekt einschätzen, welche Wirkungen die von ihnen ergriffenen bzw. erwogenen Maßnahmen entfaltet haben bzw. entfalten werden. Und zum anderen vermögen die Bürger ihr Wahlrecht ihren Interessen, Wünschen und Werten entsprechend nur dann wahrzunehmen, wenn sie die zur Wahl stehenden politischen Angebote in sachlicher und personeller Hinsicht richtig erfassen und beurteilen. Freilich gilt letzteres aus Sicht des elektoral-interessenbasierten Ansatzes als ihre persönliche Obliegenheit. Das Kollektiv der Staatsbürger hat keinen Anspruch darauf, dass der Einzelne sein Wahlrecht nur in informierter Weise interessengerecht ausübt. Auf welcher Wissensbasis er von seinem Recht Gebrauch macht (sofern er es überhaupt ausübt), liegt vielmehr allein bei ihm selbst. Er muss dafür nicht Rede und Antwort stehen, sich gegenüber den anderen nicht rechtfertigen. Das bedeutet: Während die Wahrheitssuche aus Sicht des deliberativen Demokratieverständnisses eine kollektive Unternehmung darstellt, bei der sich die Staatsbürger prinzipiell ein Engagement wechselseitig schulden und sie durch ein gemeinsames Interesse verbunden sind, bildet sie für das elektoral-interessenbasierte Verständnis ein individuelles Vorhaben, das jeder nach eigenem Belieben verfolgen kann, aber nicht verfolgen muss.

III. Der Begriff der Fake News und ihre kommunikativen Funktionen

Wie spielen nun politische Fake News hier hinein? Politische Fake News sollen im hiesigen Kontext relativ weit gefasst einfach als unwahre und unwahrhaftige Tatsachenbehauptungen über politisch relevante Fragen verstanden werden.[12] Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob, inwiefern und inwieweit von Fake News Risiken für die Demokratie ausgehen (deren Bekämpfung sodann des Mittels des Strafrechts bedarf), sind ihre spezifischen kommunikativen Funktionen (sprechakttheoretisch: die intendierten perlokutionären Effekte) zu betrachten. Dreien kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu.

Zunächst sollen politische Fake News dazu dienen, Wahrheiten und Wissen zu bloßen Meinungen herabzustufen. Wahrheit ist – wie Arendt bemerkt hat – in gewisser Weise „despotisch“.[13] Sind Tatsachen einmal als bestehend festgestellt und Aussagen über sie als wahr erkannt, schafft das politische Anschlusszwänge.[14] Sie sind nicht mehr verhandelbar, nicht abhängig von Billigung oder Ablehnung, kein Gegenstand politischer Kompromissbildung oder politischer Dezision. Politischen Fake News kommt nun die Funktion zu, solches Tatsachenwissen zu erschüttern, es – bildlich gesprochen – zu verflüssigen. Dabei ist es nicht wichtig, welche alternativen Sachverhalte sie behaupten. Vielmehr haben Fake News als „kommunikativer Schachzug (…) die Form einer unbestimmten Negation.“[15] Sie besagen schlicht, dass alles auch ganz anders sein könne. Eben damit verwandeln sie Tatsachenwissen in bloße Meinungen, die man zwar teilen kann, aber nicht teilen muss, und beseitigen so die politischen Anschlusszwänge. Genau das macht sie anschlussfähig für ihre Adressaten. Sie müssen das, was die Fake News positiv behaupten, keineswegs glauben. Häufig tun sie das auch nicht. Vielmehr bieten ihnen die Fake News einen willkommenen Vorwand, um bestimmte aus ihrer Sicht unerwünschte politische Handlungszwänge zurückweisen zu können.

Des Weiteren werden Fake News eingesetzt, um das Vertrauen in die demokratischen Institutionen oder in demokratisch gewählte Amts- und Mandatsträger zu untergraben. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie lebt wesentlich vom Vertrauen ihrer Bürger – dem Vertrauen, dass die von ihnen als Repräsentanten gewählten Parteien und Politiker sowohl kompetent als auch verlässlich genug sind, politische Entscheidungen jedenfalls im Großen und Ganzen in Übereinstimmung mit den Präferenzen ihrer jeweiligen Wähler zu treffen.[16] Zur Einschätzung, ob bestimmte Parteien und Politiker vertrauenswürdig sind und damit ihre Stimme verdienen, müssen die Bürger indes regelmäßig auf Informationen Dritter zurückgreifen. Das eröffnet die Möglichkeit, mit Hilfe von Fake News entweder das Vertrauen in die Kompetenz oder die Integrität von Politikern oder politischer Gruppierungen direkt zu unterminieren oder aber Zweifel an der Verlässlichkeit anderer Informationsquellen zu schüren. Wiederum ist dabei nicht entscheidend, was diese Fake News im Einzelnen positiv behaupten; ihre kommunikative Funktion besteht darin, die vertrauensbegründenden Umstände durch Verneinung in Zweifel zu ziehen und so dem Vertrauen die epistemischen Grundlagen zu entziehen.

Schließlich sollen Fake News zur Bildung und Festigung von Gruppenidentitäten in der politischen Auseinandersetzung beitragen.[17] Ihre kommunikative Funktion besteht erneut nicht darin, ihre Adressaten vom Bestehen oder Nichtbestehen eines bestimmten Sachverhalts zu überzeugen. Vielmehr zielen diese Fake News darauf ab, durch ihre Anerkennung eine politische Gruppe nach innen zu integrieren und nach außen abzugrenzen. Es geht also nicht um Wahrheit, sondern um Identität. Dafür ist es sogar wichtig, dass die Tatsachenbehauptung nicht allgemein akzeptiert wird, da sonst ihre Integrations- und Abgrenzungsfunktion verloren ginge. So eignet sich etwa die offenkundig unwahre Behauptung von der „gestohlenen“ US-amerikanischen Präsidentenwahl 2020 gerade deshalb zur Identitätsstiftung von Anhängern Donald Trumps, weil sie von den Wählern Bidens oder neutral eingestellten Personen unmöglich anerkannt werden kann.

IV. Strafrechtlicher Schutz vor Fake News durch neue Straftatbestände?

Inwiefern kann und soll das Strafrecht hier nun Abhilfe schaffen? Derzeit ist das Inverkehrbringen und Verbreiten von Fake News nur unter besonderen Umständen strafbar – so etwa, wenn es volksverhetzenden Charakter besitzt oder in ihm eine Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung liegt.[18] Das ist freilich keineswegs immer oder auch nur regelmäßig der Fall. Hinzu kommt, dass der Unrechtsvorwurf bei den genannten Delikten nicht auf die Gefährdung der politischen Meinungs- und Willensbildung zielt, sondern auf die Beeinträchtigung ganz anderer Rechtsgüter wie die Ehre, den öffentlichen Frieden oder die Würde der Betroffenen. Daher plädiert, wie eingangs erwähnt, eine zunehmende Anzahl von Stimmen in der kriminalpolitischen Debatte für die Schaffung eines neuen Straftatbestandes. So wird entsprechend der Regelung des § 264 öStGB eine Ergänzung des Wahlstrafrechts in § 108a StGB erwogen[19] oder in Anlehnung an ihn ein neuer Straftatbestand befürwortet.[20] 

Die Frage, ob diesen Vorschlägen Folge geleistet werden sollte, führt zurück zur Frage nach dem richtigen Verständnis der Demokratie und dem Wert der Wahrheit für diese. Legt man die deliberative Vorstellung von Demokratie zugrunde,[21] greift die Fokussierung auf den Wahlakt, der die meisten Regelungsentwürfe verbindet, zu kurz. Wenn für eine gemeinwohlorientierte Meinungs- und Willensbildung die informellen öffentlichen Kommunikationsforen, in denen die Bürger die öffentlichen Angelegenheiten miteinander beraten, nicht weniger wichtig sind als der institutionalisierte parlamentarische Politikbetrieb, gibt es keinen Grund, ihnen einen geringeren strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen.[22] Berücksichtigt man ferner, dass sich der deliberativen Konzeption zufolge die Debatten der autonomen Öffentlichkeiten ihrer Idee nach durch einen umfassenden Wahrheits- und Richtigkeitsbezug auszeichnen und die Staatsbürger einander Wahrhaftigkeit schulden, spricht das zumindest im Grundsatz für eine umfassende Pönalisierung des Inverkehrbringens und Verbreitens von politischen Fake News, durch das strategisch handelnde Akteure die öffentlichen Diskurse gezielt kapern und so die Quellen der deliberativen Demokratie versiegen lassen wollen.[23] Dabei kommt es letztlich auch nicht darauf an, wie groß die Gefahr ist, dass die Fake News von den Adressaten tatsächlich geglaubt werden. Es genügt, dass sich die genannten Akteure ihren staatsbürgerlichen Mitwirkungspflichten entziehen und die Debatten mit Beiträgen stören, die von vornherein nicht auf eine gemeinwohlorientierte Meinungs- und Willensbildung gerichtet sind. Das gilt ganz besonders für die Fake News, die darauf abzielen, den Leitmaßstab der Wahrheit durch den der Identität zu ersetzen und so den politischen Diskurs gleichsam umzupolen.

Wie verhält es sich nun, wenn man statt des deliberativen ein elektoral-interessenbasiertes Verständnis von Demokratie zugrunde legt? Auf den ersten Blick passen die auf den Wahlakt bezogenen Gesetzesvorschläge deutlich besser zu diesem Ansatz, der in der Stimmabgabe bei gleichen, freien und geheimen Wahlen die entscheidende demokratische Mitwirkungshandlung der großen Masse der Bürger sieht. Indes: Während die genannten Vorschläge aus der Perspektive der deliberativen Demokratietheorie zu kurz greifen, gehen sie aus Sicht der elektoral-interessenbasierten Demokratietheorie auf den zweiten Blick womöglich zu weit. Folgende Probleme sind bei näherer Betrachtung mit der vorgeschlagenen Pönalisierung von politischen Fake News verbunden:

Zum einen ist bislang noch nicht geklärt, welchen Einfluss politische Fake News tatsächlich auf Wahlentscheidungen haben.[24] Insbesondere ist offen, ob sie nur „geglaubt“ werden, wenn, weil und soweit sie im Einklang stehen mit bestimmten politischen Überzeugungen, denen sich die betreffende Person bereits aus anderen Gründen vorbehaltlos verschrieben hat. Nicht das Fürwahrhalten der Fake News führte dann zur Identifikation mit einem bestimmten politischen Programm und einer bestimmten politischen Gruppierung, sondern die Identifikation mit diesem Programm und dieser Gruppierung führte zum Fürwahrhalten der Fake News – sofern die Fake News hier von den Adressaten überhaupt geglaubt und nicht ohnehin nur als kommunikatives Mittel zum Ausdruck einer politischen Identität verstanden werden. Träfe das zu, wäre die Verbreitung von Fake News aber keine Ursache der beklagten demokratischen Regression, sondern lediglich eine Begleiterscheinung, deren Pönalisierung kaum zur Bekämpfung der Krise der Demokratie beitrüge.

Zum anderen spielt es, wie erwähnt, aus Sicht des elektoral-interessenbasierten Demokratieverständnisses für das Kollektiv der Staatsbürger keine Rolle, aus welchen Gründen und auf welcher Wissensbasis seine Mitglieder ihr Wahlrecht so ausüben, wie sie das tun. Ob diese ihre Wahl wohlüberlegt nach ausgiebiger Befassung mit den politischen Angeboten unter sorgfältiger Abwägung zahlreicher Gesichtspunkte treffen oder sich auf bloß kursorische, oberflächliche, womöglich unzutreffende oder falsch verstandene Informationen stützen, ob sie streng programmatisch oder eher nach Sympathie für die zur Wahl stehenden Akteure entscheiden, ob ihre Gründe altruistischer oder egoistischer Natur sind, ob sie ganz spontan oder gar nach dem Zufallsprinzip wählen – die eine Stimme gilt so viel wie die andere. Niemand muss Rede und Antwort stehen; keiner ist den anderen rechenschaftspflichtig. Die Wahl und die Wahlgründe bleiben geheim. Ob der Einzelne die für ihn richtige Wahlentscheidung trifft, ist allein seine Sache. Es mögen die anderen wünschen oder hoffen, dass er möglichst wohlinformiert seine Stimme abgibt, einen Anspruch darauf haben sie nicht. Ein strafrechtlich schutzwürdiges Interesse der Allgemeinheit, dass die Bürger bei ihrer Stimmabgabe nicht von Fake News beeinflusst werden, lässt sich auf der Grundlage des elektoral-interessenbasierten Ansatzes deshalb nicht begründen. Ebenso wenig existiert ein strafrechtlich schutzwürdiges Interesse des einzelnen Wählers.[25] Von einem mündigen Staatsbürger, der eigenverantwortlich nach Maßgabe der von ihm selbst festzulegenden Parameter seine Stimme abgibt, darf erwartet werden, Informationen, die von den verschiedensten Quellen an ihn herangetragen werden, nicht einfach unbesehen zu übernehmen, sondern sie kritisch zu hinterfragen.[26]

V. Fazit

Zusammengefasst: Für die Frage nach der Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit des Inverkehrbringens und Verbreitens von Fake News ist zunächst zu klären, von welchem Verständnis von Demokratie ausgegangen werden soll und welcher Wert der Wahrheit hier zukommt. Folgt man einem deliberativen Ansatz, erscheinen recht weitreichende strafrechtliche Regelungen zumindest denkbar. Wer ein elektoral-interessenbasiertes Demokratieverständnis favorisiert, dürfte eine Pönalisierung hingegen kritisch sehen.

 

 

[1]      Dazu Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Demokratie, 2022, S. 9 ff.
[2]      Vgl. Mounk, Der Zerfall der Demokratie, 2018, S. 118 ff.; Schäfer/Zürn, Die demokratische Regression, 2021. Die Aussagekraft entsprechender Umfragen relativiert allerdings Przeworski, Crises of Democracy, 2019, S. 100 ff.
[3]      Hoven, ZStW 129 (2017), 718 (737); Preuß, Fake News, 2021, S. 108 ff.; Schreiber, Strafbarkeit politischer Fake News, 2022, S. 54 ff.
[4]      Lammich, Fake News als Herausforderung des deutschen Strafrechts, 2022, S. 194 f., 231 ff.; Preuß (Fn. 3), S. 171 ff.; Schreiber (Fn. 3), S. 246 ff., 298 ff.; Schünemann, GA 2019, 620. Krit. hingegen Rückert, in: Albrecht et. al. (Hrsg.), Strafrecht und Politik: 6. Symposium Junger Strafrechtlerinnen und Strafrechtler, 2018, S. 167; Rostalski, RW 2017, 436 (444 ff.); Weigend, NSW 2024, 67 (70 ff., 79 ff.).
[5]      Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, 2013, S. 44.
[6]      Pars pro toto Brunkhorst, WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 2019, 47; Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, 2006, S. 7.
[7]      Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1996 (1762).
[8]      Grundlegend Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. (1994), S. 349 ff.; ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 277 ff.; ders. (Fn. 1), S. 89 ff.; ferner Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, 1997, S. 19 ff.; Lafont, Unverkürzte Demokratie, 2021, S. 280 ff.; Nida-Rümelin (Fn. 6), S. 37 ff.
[9]      In diesem Sinne betont auch das BVerfG die Wichtigkeit des beständigen Dialogs zwischen Parlament und gesellschaftlichen Kräften; vgl. BVerfGE 20, 56 (98); 69, 315 (346); 107, 339 (360); 123, 267 (358).
[10]    Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, 1968, S. 23; Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 7. Aufl. (1992), Bd. I, S. 149 f., Bd. II, S. 188 f.; ders., Alles Leben ist Problemlösen, 1996, S. 208, 224 ff.; Przeworski (Fn. 2), S. 5; Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 10. Aufl. (2020), S. 355 ff.
[11]    Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. (1929), S. 22, 56 ff.
[12]    Zu engeren, insbesondere die Manifestation, die Verbreitungsweise, den Verbreitungsgrad und die Zielsetzung einbeziehende Definitionen s. Lammich (Fn. 4), S. 89; Preuß (Fn. 3), S. 29; Schreiber (Fn. 3), S. 54.
[13]    Arendt (Fn. 5), S. 61.
[14]    Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, 2021, S. 107.
[15]    Kumkar, Alternative Fakten, 2022, S. 278.
[16]    Vgl. Baurmann/Brennan, Grazer Philosophische Studien 79 (2009), 159.
[17]    Eingehend dazu Schulz/Scheller, Being a believer: social identity in post-truth political discourse, Inquiry 2024. https://doi-org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1080/0020174X.2024.231220
[18]    Im Detail Hoven, ZStW 129 (2017), 718 (719 ff.); Lammich (Fn. 4), S. 145 ff.; Preuß (Fn. 3), S. 147 ff.; Schreiber (Fn. 3), S. 164 ff.; knapp RW 2017, 436 (441 ff.); Rückert(Fn. 4), S. 169 ff.
[19]    Hoven, ZStW 129 (2017), 718 (741).
[20]    Lammich (Fn. 4), S. 233 f.; Schreiber (Fn. 3), S. 293.
[21]    Explizit Schreiber (Fn. 3), S. 42 ff., 57 ff., 99 ff., 289 ff.
[22]    Im Ergebnis mag das keinen großen Unterschied machen, da die für die öffentliche Meinungs- und Willensbildung relevanten Informationen prinzipiell auch geeignet sein dürften, Wahlentscheidungen von Bürgern zu beeinflussen. Vom Standpunkt eines deliberativen Demokratieverständnisses wird mit der Fokussierung auf den Wahlakt aber gleichwohl das Unrecht des Inverkehrbringens oder Verbreitens von Fake News nur unvollständig erfasst.
[23]    Zur – im Ergebnis zu verneinenden – Frage, ob darin eine Verletzung der von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit läge, siehe den Beitrag von Verf. in FS Ida (in Vorbereitung).
[24]    Dazu Benkler/Faris/Roberts, Network Propaganda, 2018; Bennett/Livingston, The Disinformation Order, European Journal of Communication, 2018, S. 122.
[25]    Ausf. hierzu der Beitrag von Verf. in FS Ida (in Vorbereitung).
[26]    Zutreffend Rostalski, RW 2017, 436 (445).

 

 

 

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