Alina Ehlers: Die strafbewehrte Missbilligung der Tötung auf Verlangen im Sinne des § 216 StGB. Zur Zukunft einer Strafvorschrift nach dem Urteil des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2024, Verlag Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-19136-9, S. 147, Euro 64,90.

 In der Tat ist § 216 StGB seit der Entscheidung des BVerfG und der Festschreibung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in den Fokus der kriminalpolitischen Debatte gerückt. Spätestens seit dem „Zombie“-Beschluss des BGH, der ersichtlich weniger von dogmatischen Überlegungen getragen als vielmehr von dem Ringen um eine „billige“ Entscheidung bestimmt war (NJW 2022, 3021), muss man sich die Frage stellen, wie „gerecht“ die verschwommenen Grenzen zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe sind. In einem obiter dictum hält der 6. Strafsenat hierzu fest: „… es … (ist) naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, wonach jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt“ (aaO, S. 3023). Warum nun aber verfassungskonform auslegen, wenn man auch neu regeln kann? Genau ersteres ist aber die Antwort der vorliegenden Dissertation, die an § 216 StGB in seiner jetzigen Form festhalten will.

Nach einer kurzen Einführung in die Thematik beleuchtet die Verfasserin die Genese des Verbots der Tötung auf Verlangen und stellt den aktuellen Stand vor. Dies hätte für den geneigten Leser durchaus etwas ausführlicher sein können, um so das historisch gewachsene Fundament besser in die gegenwärtige gesellschaftliche Debatte einweben zu können.

Die beschriebenen Entwicklungen veranlassen Ehlers dann zu der Frage der Legitimation des (strafbewehrten) Verbots der Tötung auf Verlangen. Nach Vorstellung des zugrundeliegenden normentheoretischen Konzepts, für das sich die Freud-Schülerin auf ihren Lehrer bezieht, stellt sie heraus, dass bereits auf abstrakt-genereller Ebene des Strafgesetzes maßgeblich darauf abzustellen sei, ob eine von diesem in Bezug genommene konkrete Verhaltensnorm überhaupt einen legitimen Zweck verfolgen könne. Legitimer Zweck könne nur der in einem weiteren Sinne zu verstehende Schutz von Rechtsgütern sein. Beziehe sich dagegen das Strafgesetz auf Verhaltensweisen, die überhaupt nicht gegen eine legitimierbare Verhaltensnorm verstoßen können, weil ein legitimer Schutzzweck gänzlich fehle, so suggeriere es den falschen Anschein rechtlich missbilligten Verhaltens und stelle daher eine erhebliche Gefahr für die Freiheit der Bürger dar (S. 40).

Die Legitimation des § 216 StGB untersucht Ehlers dann im  nächsten  Schritt  auf  normentheoretischer  Grundlage und erklärt § 216 StGB zum legitimen Strafgesetz (S. 51). Anschließend werden diverse Versuche der Legitimation des § 216 StGB anderer Autoren nachgezeichnet, wobei man sich die Frage stellt, warum hier der zweite Schritt vor dem ersten gemacht wird. Hätte es sich nicht angeboten, auf der Grundlage der, wie Ehlers es schreibt „verschiedenen (untauglichen) Versuche“ (S. 53) einen eigenen Vorschlag zu entwickeln, anstatt ihre Vorstellung relativ schmal auf wenigen Seiten voranzustellen?

Im nächsten Kapitel D werden die Einwilligung und das Einverständnis behandelt und zunächst deren Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand herausgearbeitet. Nachdem Funktion und Voraussetzungen von Einwilligung und Einverständnis beschrieben wurden, wird die Frage nach der Disponibilität des Rechtsguts Leben gestellt. Die Verfasserin spricht sich grundsätzlich für die Disponibilität aus, wobei auch bei verbleibenden Restzweifeln das Selbstbestimmungsrecht zu wahren sei (S. 77). In Bezug auf die Freiverantwortlichkeit werden prozedurale Regelungen zur Sicherung der Willensmangelfreiheit bereits grundsätzlich als problematisch erachtet. Sie stellten eine ernsthafte Gefahr für die effektive Realisierung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Person dar (S. 85). Unklar bleibt aber bei diesem Vorwurf, wie dann die Freiverantwortlichkeit belastbar festgestellt werden soll.

Letztlich hätten Einwilligung und Einverständnis im Ergebnis dieselbe Funktion, nämlich dem ausgeübten Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Person Rechnung zu tragen, so dass eine Unterscheidung nicht notwendig sei. Maßgeblich sei allein, unter welchen Umständen ein Rechtsgut als ein von einer konkreten Verhaltensnorm zu schützendes Rechtsgut anzusehen sei. Habe die Person als Rechtsgutsträger durch Ausübung des Selbstbestimmungsrechts wirksam über das Rechtsgut disponiert, so sei es nicht mehr durch eine legitimierbare Verhaltensnorm zu schützen. Wieder ganz Freud-Schülerin schlägt Ehlers daher vor, dies schon bei einer Güter- und Interessenabwägung auf der Ebene des Tatbestands im engeren Sinne zu berücksichtigen – allerdings führe auch eine andere dogmatische Einordnung zu keinem anderen Ergebnis (S. 91).

In einem Exkurs geht die Verfasserin noch auf die Patientenverfügung ein und stellt fest, dass es hier im Ergebnis auch zu keiner Sanktionierung nach § 216 StGB kommen dürfe. Dies sei strafrechtsdogmatisch mit der fehlenden Angemessenheit der konkreten Verhaltensnorm zu begründen. Das zu schützende Rechtsgut Leben werde durch die Ausübung der Selbstbestimmungsfreiheit in Form der Patientenverfügung derart relativiert, dass eine konkrete Verhaltensnorm nicht (mehr) legitimiert werden könne (S. 96).

In Kapitel E stellt die Verfasserin dann Überlegungen zu einer Reform des § 216 StGB an. Hierfür zeichnet sie zunächst die Gründe des BVerfGfür die Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB a.F. nach und greift auch die kritischen Stimmen der Literatur auf. Es werde deutlich, dass aufgrund dieser neuen Argumentationslinien das Verbot der Tötung auf Verlangen nicht absolut gelten könne. Allerdings könne der Selbstbestimmung sterbewilliger Personen auch unter Beibehaltung des § 216 StGB in seiner jetzigen Form Rechnung getragen werden. Auch das Urteil des BVerfGzeige, dass das Verbot der Tötung auf Verlangen in seiner jetzigen Form im Grundsatz durchaus Bestand haben könne (S. 109).

Im nächsten Unterkapitel werden daher die bisherigen Reformbestrebungen der Literatur bzgl. § 216 StGB zusammengetragen, bevor ein eigenes „Reformkonzept“ (S. 120) entwickelt wird. Ehlers hält eingangs noch einmal fest, dass sie § 216 StGB durchaus als legitimes Strafgesetz ansieht. Es lasse sich eine konkrete Verhaltensnorm zum Schutz des Rechtsguts Leben der sterbewilligen Person dadurch legitimieren, da nie mit absoluter Sicherheit gesagt werden könne, ob der Sterbewille mangelfrei gebildet und geäußert wurde. Sei aber bspw. in Ausnahmefällen wie der assistierten freiverantwortlichen Selbsttötung durch eine Pönalisierung die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts faktisch nicht mehr möglich, so wäre ein solcher Eingriff in die Rechte sterbewilliger Personen zu weitgehend und nicht mehr angemessen. Das Tötungsverlangen als Ausdruck der Selbstbestimmung negiere also den Lebensschutz insoweit, als er im Rahmen einer Abwägung mit den Gütern und Interessen sowohl der von der in Frage stehenden konkreten Verhaltensnorm betroffenen als auch der von dieser adressierten Person zurückstehen müsse (S. 122).

Bezugnehmend auf den vom BGH entschiedenen „Zombie“-Fall, stuft Ehlers das Verhalten der Ehefrau als grundsätzlich nicht zu missbilligen ein und nimmt eine Tatbestandsreduktion vor. Es gehe um eine verfassungskonforme Handhabung des Verbots der Tötung auf Verlangen. Es bedürfe immer dann einer verfassungskonformen Auslegung, wenn es um Fälle gehe, in denen die sterbewillige Person zur Durchführung ihrer freiverantwortlich getroffenen Sterbeentscheidung faktisch nicht in der Lage sei. Diese Fälle seien vom Anwendungsbereich des § 216 StGB auszunehmen. Für mich stellt sich die Frage, ob dies nicht einer Klarstellung und insofern eines entsprechenden de lege ferenda Vorschlags bedürfte. Die Verfasserin sieht diesen Bedarf nicht und sieht schon jetzt die Möglichkeit einer sachgerechten und verfassungskonformen Handhabung dieses Strafgesetzes (S. 130). Ehlers hofft darauf, dass es zu keiner (voreiligen) Änderung der Vorschrift mit falschen Weichenstellungen im Bezug auf den Anwendungsbereich der Vorschrift kommen werde (S. 135).

Die Arbeit von Ehlers stellt einen weiteren Baustein der neuerlichen Diskussion um § 216 StGB dar und setzt sich für eine Beibehaltung der Vorschrift und (nur) seine verfassungskonforme Auslegung ein. Ihre Vorschläge hat sie – wenn auch an einigen Stellen etwas knapp – begründet und insofern einen weiteren kriminalpolitischen Denkanstoß geliefert. Recht zu geben ist ihr insoweit darin, dass der Gesetzgeber sicher gut daran tut, nicht vorschnell Änderungen einer über 150 Jahre alten Vorschrift anzustoßen, sondern zu überlegen, wie Selbstbestimmungsfreiheit und Lebensschutz in einen sinnvollen Ausgleich gebracht werden können.

 

 

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