Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BGH, Beschl. v. 22.05.2019 – 1 StR 651/18: Anforderungen an die Feststellungen der Tatsacheninstanz zum Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20 und 21 StGB
Leitsatz der Redaktion:
Die Tatsacheninstanz hat in einer umfassenden Abwägung sowohl die handlungsleitenden Auswirkungen der Störung als auch die persönlichen Lebensumstände und die Lebensgeschichte des Täters zu würdigen. Die Diagnose einer Krankheit nach dem ICD.10 durch einen Sachverständigen ist kein hinreichendes Kriterium für das Vorliegen einer verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit.
Sachverhalt:
Das LG Kempten hat den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls verurteilt.
Nach den Feststellungen des LG war der an einer mit Krankheitswert versehenen Persönlichkeitsstörung gemäß ICD.10 F61.0 leidende Beschuldigte in zwei Wohnungen eines Mehrfamilienhauses eingebrochen und hatte in der zweiten Wohnung den Geschädigten angetroffen. Dies hatte ihn zumindest möglicherweise in einen extremen Anspannungszustand versetzt, der ihm die Steuerung seiner aggressiven Handlungen eventuell erschwert hatte.
Daraufhin hatte er das Opfer mit Tritten und Schlägen schwer verletzt und schließlich erwürgt. Anschließend hatte der Angeklagte das Haus in Brand gesetzt, um seine Tat zu verschleiern.
Entscheidung des BGH:
Der BGH hob das Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit der Begründung auf, dass das LG keine genügenden Feststellungen zur Persönlichkeitsstörung des Angeklagten und deren Auswirkungen auf die Tat getroffen habe.
Nach Ansicht des Senats sei es nicht auszuschließen gewesen, dass das LG eine Strafmilderung vorgenommen hätte, wenn es die mentale Störung des Angeklagten gründlicher aufgeklärt und aufgrund der dadurch gewonnen Informationen eventuell auch stärker gewichtet hätte.
Die Feststellung einer verminderten oder sogar aufgehobenen Schuldfähigkeit habe in einer mehrstufigen Prüfung zu erfolgen.
Zunächst sei eine psychische Erkrankung des Angeklagten erforderlich, die unter § 20 StGB subsumiert werden könne. Diese Erkrankung müsse zur Tatzeit des Weiteren auch derart ausgeprägt gewesen sein, dass die psychische Funktionsfähigkeit des Täters beeinträchtigt gewesen sei. Um einen solchen Schweregrad feststellen zu können, sei das Tatgericht zwar auf einen Sachverständigen angewiesen, dennoch seien die Anwendung des § 20 StGB und die Feststellung der Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Rechtsfragen, die vom Tatgericht ohne Bindung an die Wertung des Sachverständigengutachtens zu beantworten seien. Dafür müsse das Gericht bei nicht pathologisch bestimmten Störungen in einer umfassenden Abwägung sowohl die handlungsleitenden Auswirkungen der Störung als auch die persönlichen Lebensumstände und die Lebensgeschichte des Täters in nachprüfbarer Weise würdigen.
Die bloße Angabe einer Diagnose oder die Bezeichnung als Persönlichkeitsstörung reiche dafür nicht aus, so der BGH. Entscheidend sei viel mehr die Ausprägung der psychischen Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters.
Da sich die Urteilsgründe des LG darin erschöpfen würden das Sachverständigengutachten wiederzugeben und sich diesem pauschal anzuschließen, genüge das Urteil den oben genannten Grundsätzen nicht.
Auch der Vorwurf des Tatgerichts, dass der Angeklagte seinen psychischen Anspannungszustand vorwerfbar selbst verursacht hat, verfange im Ergebnis nicht, da dem Täter sein Vorverhalten aufgrund seiner Störung möglicherweise nicht vorgeworfen werden könne. Auch zur Beantwortung dieser Frage, habe das LG die Störung des Angeklagten nicht ausreichend untersucht.
Anmerkung der Redaktion:
Am 4. September 2019 ist ein Referentenentwurf vom Bundesjustizministerium vorgestellt worden, der unter anderem vorsieht die Begriffe „Schwachsinn“ und „Abartigkeit“ in § 20 StGB und § 12 Abs. 2 OWiG durch die Begriffe „Intelligenzminderung“ und „Störung“ zu ersetzen. Damit entspräche der Gesetzeswortlaut den in der Medizin verwendeten Fachbegriffen. Unseren Beitrag zu dem Entwurf finden Sie hier.