Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BGH, Urt. v. 26.11.2019 – 2 StR 557/18: Zur Entscheidung über vollzugslockernde Maßnahmen als Sorgfaltswidrigkeit im Rahmen des § 222 StGB
Amtliche Leitsätze:
1. Eine gerichtliche Überprüfung der Frage, ob die Gewährung einer vollzugsöffnenden Maßnahme sorgfaltswidrig war, hat den der Vollzugsbehörde zustehenden Beurteilungsspielraum und das ihr eingeräumte Ermessen zu berücksichtigen und die getroffene Entscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen.
2. Gewährte Vollzugslockerungen und hierzu erteilte Weisungen sind im Allgemeinen stichprobenartig auf ihr Einhaltung zu überprüfen. Frequenz, Art und Ausmaß solcher Kontrollen unterliegen als Annex zur getroffenen Prognoseentscheidung demselben Beurteilungs- und Ermessensspielraum wie die Grundentscheidung über die Gewährung vollzugsöffnender Maßnahmen.
3. Zur Vorhersehbarkeit im Sinne des Fahrlässigkeitstatbestandes bei komplexen Geschehensabläufen, insbesondere bei selbst- und fremdgefährdendem Verhalten eines Dritten.
Sachverhalt:
Das LG Limburg hat die Angeklagten, die jeweils in leitender Funktion als Bedienstete unterschiedlicher Justizvollzugsanstalten tätig waren, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte sich der rechtskräftig verurteilte K. selbst zum Haftantritt in der JVA, in der die Angeklagte D. als stellvertretende Anstaltsleitung und Vollzugsabteilungsleiterin gearbeitet hatte, gemeldet. K. war bereits mehrfach wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und anderen Verkehrsdelikten in Erscheinung getreten und hatte aufgrund dieser Delikte eine mehrjährige Hafterfahrung. Die Angeklagte D. hatte in diesem Zusammenhang, entgegen der Einschätzung eines Kollegen, der das Aufnahmegespräch mit dem Häftling geführt hatte, entschieden, den Verurteilten in den offenen Vollzug zu verlegen und ihm unbegleitete Vollzugslockerungen zu gewähren.
Beanstandungen hatte es danach nie gegeben. Der Verurteilte war auch nie negativ aufgefallen.
Nach einem Monat war der Verurteilte in die JVA, die der Angeklagte W. geleitet hatte, verlegt worden. Der Angeklagte hatte nach einer Zugangskonferenz mit dem Verurteilten und anderen Bediensteten entschieden, den offenen Vollzug aufrecht zu erhalten und später aufgrund der guten Führung des Häftlings, diesen noch auszudehnen.
Der Häftling hatte an 223 Tagen Dauerausgänge und an 89 Tagen Langzeitausgänge ohne Beanstandungen absolviert. Kontrollen der weisungsbedingten Ausgänge hatten nur bei dem auswärtigen Arbeitgeber des Verurteilten stattgefunden, eine weitere Kontrolle der Einhaltung der Weisungen (insbesondere der Weisung, kein KFZ zu führen) war unterblieben.
Daher war es unbemerkt geblieben, dass der Häftling während seiner Ausgänge regelmäßig mit einem KFZ am Straßenverkehr teilgenommen hatte und sogar einen Autoschlüssel an seinem Schlüsselbund bei sich führte, wenn er in die JVA zurückkehrte.
Nach zwei Jahren im offenen Vollzug war der Häftling während eines Ausgangs beim Führen eines KFZ von einer Polizeistreife entdeckt und zum Anhalten bewegt worden. Aus Angst, seine Vollzugslockerungen zu verlieren, hatte der Verurteilte beschleunigt und bei der sich anschließenden Verfolgungsfahrt mit den Polizeibeamten als Geisterfahrer eine junge Autofahrerin getötet.
Das LG wertete die Entscheidung für Vollzugslockerungen beim Verurteilten K. und die unterlassenen Kontrollen als Pflichtwidrigkeitsverstoß und hat die Angeklagten W. und D. wegen fahrlässiger Tötung der Autofahrerin verurteilt.
Entscheidung des BGH:
Der BGH sprach beide Angeklagte frei, da die rechtsfehlerfreien Sachverhaltsfeststellungen des LG eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nicht trügen.
Eine Sorgfaltspflichtverletzung sei bei beiden Angeklagten nicht zu erkennen. Bei der Festlegung des zu wahrenden Sorgfaltsmaßstabs bestimmten sich Art und Maß nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen seien, so der BGH.
Damit habe sich der Sorgfaltsmaßstab für die beiden Angeklagten aus dem rheinland-pfälzischen Justizvollzugsgesetz ergeben. Dieses habe die Angeklagten in Umsetzung des verfassungsrechtlich garantierten Resozialisierungsanspruchs des Angeklagten berechtigt, bei Vollzugslockerungen vertretbare Risiken einzugehen.
Vollzugslockernde Maßnahmen seien nur dort zu versagen, wo eine konkrete Flucht- oder Missbrauchsgefahr bestünde. Bei dieser Gefahrenprognose stehe den Beamten ein Beurteilungsspielraum zu, der zu mehreren vertretbaren Entscheidungen führen könne. Eine in diesem Rahmen gerade noch vertretbare Entscheidung sei gerichtlich hinzunehmen und könne, da sie den gesetzlichen Anforderungen genüge, auch keine Sorgfaltsverstoß nach § 222 StGB darstellen.
Der Beurteilungsspielraum bei Prognoseentscheidungen sei nur übertreten, wenn eine falsche Prognose aufgrund einer relevant unvollständigen oder unzutreffenden Tatsachengrundlage oder unter nicht vertretbarer Bewertung der festgestellten Tatsachen zustande gekommen sei.
Dies sei in dem vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Es habe keine Pflicht der Angeklagten D. bestanden, noch weitere Vorstrafenakten des Verurteilten anzufordern, da keine besonderen Umstände für die Angeklagte ersichtlich gewesen seien, die eine weitergehende Aufklärung erforderlich gemacht hätten. Auch die abweichende Bewertung durch ihren Kollegen habe dazu keinen Anlass geboten, da dies lediglich eine abweichende fachliche Bewertung auf gleicher Tatsachengrundlage gewesen sei.
Demnach sei die Prognoseentscheidung der Angeklagten D. aus der ex ante-Perspektive fachlich und rechtlich vertretbar gewesen, da sie alle Umstände in ihre Abwägung einbezogen habe, so der Senat.
Gleiches gelte für den Angeklagten W. Zwar könne sich aus den unterlassenen Kontrollmaßnahmen eine Sorgfaltspflichtverletzung ergeben, dies könne jedoch dahinstehen, weil der eingetretene Kausalverlauf der Tötung – aufgrund einer Geisterfahrt während einer Verfolgungsjagd mit der Polizei – vom Angeklagten W. nicht vorhersehbar gewesen sei. Trete der Erfolg einer Fahrlässigkeitstat erst durch das Zusammenwirken mehrerer Umstände ein, müssten alle diese Umstände für den Täter vorhersehbar sein, so der Senat. Nach diesen Maßstäben habe der komplexe Geschehensablauf, der zum Tod der jungen Autofahrerin geführt habe, außerhalb des für den Angeklagten vorhersehbaren gelegen.
Anmerkung der Redaktion:
Erst im Jahr 2019 hatte das BVerfG entschieden, dass die pflichtwidrige Versagung von Vollzugslockerungen den Resozialisierungsanspruch des Verurteilten verletze. Genaueres dazu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 40/2019.