KriPoZ-RR, Beitrag 16/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Urt. v. 05.07.2019 – 2 BvR 382/17: Begründete Zweifel an Aktualität eines psychiatrischen Gutachtens lösen Pflicht zur ergänzenden Sachverhaltsaufklärung aus

Leitsatz der Redaktion:

Wird die Aussetzung einer Maßregel zur Bewährung widerrufen, obwohl begründete Zweifel an der Aktualität des forensisch-psychiatrischen Gutachtens bestehen, verletzt dies den Beschwerdeführer in seinem Recht auf bestmögliche Sachverhaltsaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war vom LG Bonn im Juni 2004 wegen verschiedener Vermögensdelikte zu einer Haftstrafe unter Anordnung der anschließenden Sicherungsverwahrung verurteilt worden.

Nachdem er die Strafe verbüßt hatte, hat das LG Köln nach Einholung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens im Juli 2014 die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung angeordnet. Diese Anordnung war vom OLG Köln nach Einholung eines Ergänzungsgutachtens im November 2014 aufgehoben und die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ausgesetzt worden. Im November 2016 hat das LG Bonn (im Januar 2017 bestätigt vom OLG Köln) ohne erneute Begutachtung des Beschwerdeführers die Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung widerrufen, weil dieser gegen Weisungen der Führungsaufsicht verstoßen habe, was den Schluss zulasse, dass eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für den Zweck der Maßregel nunmehr erforderlich sei. Dabei haben sich sowohl LG als auch OLG auf die Prognosegutachten aus dem Jahr 2014 gestützt, obwohl der Beschwerdeführer von 2014 bis 2016 trotz seines Drogen- und Alkoholkonsums keine weiteren Straftaten begangen hat.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob den Beschluss des LG Bonn aus 2016 und den des OLG Köln aus 2017 auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG verletzten.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 GG stellten sicher, dass die Freiheit der Personen einen hohen Rang unter den Grundrechten einnehme und auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts vor allem zum Schutz der Allgemeinheit eingeschränkt werden dürfe. Dabei hätten die gesetzlichen Eingriffstatbestände durch die genaue Festlegung von Grenzen der zulässigen Freiheitsbeschränkung auch eine freiheitssichernde Funktion, welcher auch verfahrensrechtliche Bedeutung zukomme.

So sei es eine unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass freiheitsentziehende Maßnahmen auf zureichender und in tatsächlicher Hinsicht genügender Grundlage entsprechender richterlicher Sachverhaltsaufklärung beruhten.

Dieses Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung erschöpfe sich bei forensisch-psychiatrischen Prognosebegutachtungen nicht lediglich in der Beauftragung eines erfahrenen Sachverständigen, sondern es erfordere, dass nach dem, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls beeinflussten, pflichtgemäßen Ermessen des Richters weitere, an die aktuelle Entwicklung des Begutachteten angepasste, Gutachten einzuholen seien. Diese Pflicht bestehe, soweit im Rahmen einer gründlichen Prüfung hinreichende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass eine Beweisfrage offen oder unzulänglich beantwortet sei und die Befragung eines Sachverständigen Klärung erwarten lasse.

Nach diesen Grundsätzen hätte es nach der zweijährigen strafrechtlichen Unauffälligkeit des Beschwerdeführers trotz Alkohol- und Drogenkonsums und einer möglichen Nachreifung seiner Persönlichkeitsstruktur eines erneuten Prognosegutachtens bedurft, um den vom LG angenommen und im Gutachten aus dem Jahr 2014 bescheinigten Zusammenhang zwischen Suchtmittelkonsum und Anlassdelinquenz überprüfen zu lassen, so das BVerfG.

Anmerkung der Redaktion:

Schon in einem Urteil vom 14. Januar 2005 (2 BvR 983/04) legte das BVerfG Maßstäbe zur Prognosebegutachtung fest und stellte klar, dass die Fortdauer einer Unterbringung im Maßregelvollzug nur angeordnet werden dürfe, wenn sie dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gerecht werde. Mit Urteil vom 7. Juni 2017 (1 StR 628/16) forderte auch der BGH eine dem aktuellen Behandlungszustand entsprechende Gefährlichkeitsprognose.

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen