Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BGH, Urt. v. 17.10.2019 – 3 StR 170/19: Zur prozessualen Tat
Leitsatz der Redaktion:
Wird ein Teilgeschehen der prozessualen Tat in der Anklage einem anderen, nicht ermittelbaren Täter zugerechnet und stellt sich dann heraus, dass dieses Teilgeschehen doch vom Angeklagten verwirklicht worden ist, unterliegt auch dieses der Kognitionspflicht aus § 264 StPO.
Sachverhalt:
Das LG Düsseldorf hat den Angeklagten wegen Einschleusens von Ausländern in vier Fällen verurteilt und ihn von einem weiteren Tatvorwurf freigesprochen. Gegen diesen Teilfreispruch richtete sich die Revision der StA.
Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als Zahlungsstelle für Flüchtlinge fungiert und deren Zahlungen für die Schleusung nach Abzug einer Provision an die eigentlichen Schleuser weitergeleitet. Als dem Teilfreispruch zugrundeliegender Sachverhalt wurde vom LG festgestellt, dass der Angeklagte einen Anruf von einer sich in Deutschland aufhaltenden Eritreerin erhalten haben soll, die dem Angeklagten mitgeteilt haben soll, dass ihr Mann in Libyen von Schleusern gefangen gehalten werde und mit seiner Enthauptung bedroht worden sei. Der Angeklagte solle daraufhin von der Frau 1000€ als Gegenleistung für die Freilassung und Schleusung ihres Mannes zuzüglich einer 13,4 prozentigen Provision für sich selbst gefordert haben. Das Geld hatte die Frau am Hauptbahnhof einem – in jedem Fall anderen – unbekannt gebliebenen Mann gegeben, was zur Freilassung und Schleusung ihres Mannes geführt hatte.
Das LG hatte sich nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte den Anruf tatsächlich entgegengenommen hatte, da es auch möglich sei, dass der Angeklagte derjenige gewesen war, der das Geld am Bahnhof angenommen hatte. Für diese Geldannahme könne der Angeklagte allerdings nicht belangt werden, da diese Tat nicht angeklagt gewesen sei.
Entscheidung des BGH:
Der BGH gab der Revision der StA statt, da das LG seine umfassende Kognitionspflicht aus § 264 StPO nicht erfüllt habe.
Die Strafkammer sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Annahme des Geldes am Hauptbahnhof nicht Teil der angeklagten prozessualen Tat gewesen sei.
Die angeklagte Tat im prozessualen Sinne umfasse den gesamten umschriebenen geschichtlichen Vorgang. Maßgeblich sei nicht nur das dem Angeklagten angelastete, sondern sein gesamtes Verhalten, soweit es einen einheitlichen Vorgang mit der angeklagten Tat bilde. Dies gelte auch für Tatsachen, die sich erst in der Hauptverhandlung ergeben (§ 264 Abs. 1 StPO). Eine Grenze der Kognitionspflicht sei erst erreicht, wenn das zugrundeliegende Geschehen vollständig verlassen werde und die Identität der angeklagten Tat nicht mehr gewahrt sei.
Maßgebliche Abgrenzungskriterien seien die Merkmale, die eine Tat als einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichneten, zum Beispiel: Ort und Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die Handlungsrichtung und das Objekt des Täterverhaltens.
Daraus ergebe sich, dass auch ein Verhalten, das in der Anklage noch einer anderen Person zugerechnet worden war, das sich aber im Rahmen der Hauptverhandlung als Verhalten des Angeklagten darstelle, als Bestandteil der angeklagten Tat gewertet werden könne, wenn es sich um ineinander übergehende und sich überschneidende Geschehensabläufe handele, so der BGH.
Da die Annahme des Geldes am Hauptbahnhof schon in der Anklage beschrieben worden sei, könne deren strafrechtliche Relevanz vom LG durchaus geprüft werden, wenn sich in der Hauptverhandlung herausstelle, dass der Angeklagte das Geld persönlich in Empfang genommen habe.
Nach den oben genannten Kriterien, handele es sich noch um den angeklagten Verfahrensstoff, sodass das LG diesen rechtlich zu würdigen gehabt hätte.
Anmerkung der Redaktion:
Maßgeblich für die Beurteilung der Identität des geschichtlichen Vorgangs ist die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung (BGH, Urt. v. 20.12.1995 – 2 StR 113/95).