KriPoZ-RR, Beitrag 14/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 13.02.2020 – C-688/18: Angeklagte können auf Anwesenheitsrecht in Hauptverhandlung verzichten

Amtlicher Leitsatz:

Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für den Fall, dass die beschuldigte Person rechtzeitig über die sie betreffende Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet wurde und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt, den sie bestellt hat, vertreten wurde, vorsieht, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung nicht verletzt wurde, wenn

– sie unmissverständlich entschieden hat, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben, oder

– sie einem dieser Verhandlungstermine aus einem nicht von ihr zu vertretenden Grund ferngeblieben ist, sofern sie im Anschluss an diesen Verhandlungstermin über die in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Handlungen unterrichtet wurde und in Kenntnis der Sachlage die Entscheidung getroffen hat, entweder zu erklären, dass sie nicht unter Berufung auf ihre Abwesenheit die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen in Frage stellen werde, oder zu erklären, dass sie an diesen Handlungen mitwirken wolle, was das befasste nationale Gericht dazu veranlasste, diese Handlungen insbesondere durch Durchführung einer zusätzlichen Zeugenvernehmung, bei der die beschuldigte Person die Möglichkeit hatte, in vollem Umfang mitzuwirken, zu wiederholen.

Sachverhalt:

Gegen die Angeklagten war eine Hauptverhandlung in Bulgarien wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung eröffnet worden. Mehrere Angeklagte hatten aus verschiedenen Gründen an einigen Terminen der Hauptverhandlung nicht teilgenommen. Dies hatte das Gericht dazu veranlasst, eine Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten zu erörtern, was nach bulgarischem Recht möglich sei, und dafür folgende Bedingungen aufzustellen: Die zwingende Teilnahme eines Rechtsanwalts für den Beschuldigten, die Protokollversendung an den Beschuldigten, die Möglichkeit einen neuen Termin in seiner Anwesenheit zu beantragen, das Recht auf eine Wiederholung des Termins zu bestehen, wenn ein unverschuldetes Fernbleiben vorliegt und das Recht auf eine Wiederholung zu bestehen, wenn ein verschuldetes Fernbleiben vorliegt und die Anwesenheit des Beschuldigten zur Wahrung seiner Interessen erforderlich ist.

Daraufhin war die Hauptverhandlung an mehreren Terminen in Abwesenheit verschiedener Angeklagter durchgeführt worden, wogegen diese sich nicht gewendet hatten und die formalen Vorgaben eingehalten worden waren. Dennoch bezweifelte das bulgarische Gericht die Vereinbarkeit der nationalen Norm, die eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erlaubt, mit geltendem EU-Recht, namentlich der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen.

Daher hat das bulgarische Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, die für den Fall, dass die beschuldigte Person rechtzeitig über die sie betreffende Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet worden sei und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt, den sie bestellt habe, vertreten worden sei, vorsehe, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht verletzt worden sei, wenn

– sie unmissverständlich entschieden habe, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben, oder

– sie einem dieser Verhandlungstermine aus einem nicht von ihr zu vertretenden Grund ferngeblieben sei, sofern sie im Anschluss an diesen Verhandlungstermin über die in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Handlungen unterrichtet worden sei und in Kenntnis der Sachlage die Entscheidung getroffen habe, entweder zu erklären, dass sie nicht unter Berufung auf ihre Abwesenheit die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen in Frage stellen werde, oder zu erklären, dass sie an diesen Handlungen mitwirken wolle, was das befasste nationale Gericht dazu veranlasste, diese Handlungen insbesondere durch Durchführung einer zusätzlichen Zeugenvernehmung, bei der die beschuldigte Person die Möglichkeit hatte, in vollem Umfang mitzuwirken, zu wiederholen.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass Art. 8 Abs. 1 und 2 der in Rede stehenden Richtlinie einer etwaigen nationalen Regelung, die eine Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten ermögliche, nicht entgegenstehe, wenn bestimmte Mindestvoraussetzungen eingehalten worden seien.

Diese umfassten zunächst die Belehrung des Angeklagten über den Termin der Hauptverhandlung und über die Folgen seines etwaigen Nichterscheinens. Zudem sei die Vertretung des Beschuldigten durch einen vom ihm ausgewählten Rechtsanwalt zwingend. Dann sei die unmissverständliche Entscheidung des Beschuldigten, von der Verhandlung fernbleiben zu wollen, notwendig. Liege ein unverschuldetes Nichterscheinen vor, so müsse der Angeklagte über den Prozessablauf informiert werden und ihm müsse das Recht zugestanden werden eine Wiederholung des Termins zu verlangen.

Seine Entscheidung begründet der EuGH damit, dass die Richtlinie keine absolute Geltung des Anwesenheitsrechts vorsehe und die Möglichkeit, in Abwesenheit eines Beschuldigten zu verhandeln, bei Einhaltung der formalen Vorgaben auch nicht gegen die Grundrechtecharta oder die EMRK verstoße.

 

Anmerkung der Redaktion:

Weitere Informationen zur EU-Richtlinie finden Sie hier.

 

 

 

Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts (BT-Drs. 18/9534) Stellungnahme zur geplanten Änderung des Schöffenrechts

von Dr. Oliver Harry Gerson

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Abstract
Der Beitrag beleuchtet ausschließlich die geplanten Änderungen des Schöffenrechts. Die Modifikationen des Entwurfs der Bundesregierung laufen auf ein „ununterbrochenes“ Schöffenamt sowie eine strukturelle Reduktion der Auswahllisten für potentielle Kandidaten hinaus, was insgesamt als wenig nachvollziehbar und kontra-produktiv zu bewerten ist. Mit Blick auf die rechtlichen, demokratietheoretischen und sozial-psychologischen Implikationen der „Institution Schöffe“ ist zudem zu konstatieren, dass der „große Wurf“ durch die angedachten Änderungen jedenfalls nicht gelungen ist. Stattdessen verfängt sich das Vorhaben in inneren Widersprüchen und läuft darüber hinaus Gefahr, neue Asymmetrien im Strafverfahren zu verfestigen. Der Beitrag zeigt zudem auf, dass die erhofften Effekte von Laienrichtern auf das Strafverfahren oftmals hinter deren tatsächlicher Wirkung zurückbleiben.

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