KriPoZ-RR, Beitrag 34/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 26.01.2021 – 1 StR 463/20: Rechtfertigende Einwilligung in Körperverletzung in einer Haftanstalt

Leitsatz der Redaktion:

Verabreden sich zwei Insassen einer Haftanstalt (auch konkludent) zu einer körperlichen Auseinandersetzung, die grundsätzlich nicht lebensgefährlich werden soll, sind die gegenseitigen Körperverletzungen aufgrund einer Einwilligung gerechtfertigt.

Sachverhalt:

Das LG Traunstein hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen waren der Angeklagte und das Opfer Insassen in verschiedenen Häusern derselben Justizvollzugsanstalt gewesen. Sie hatten sich in der Vergangenheit vermehrt gestritten und es war allen Beteiligten klar gewesen, dass es bald zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen würde. Bei dem nächsten Aufeinandertreffen der beiden Insassen hatten sie sodann mit Fäusten aufeinander eingeschlagen, wobei das Opfer nach einem wuchtigen Schlag gegen den Kopf aufgrund dessen Beschleunigung einen Gefäßabriss im Bereich der Hirnbasis erlitten hatte, was zu starken Blutungen und wenig später zu seinem Tod geführt hatte. Das LG hat weder feststellen können, wer die tätliche Auseinandersetzung letztendlich begonnen, noch welcher Schlag des Angeklagten zum Tode geführt hatte. Zugunsten des Angeklagten ist es davon ausgegangen, dass der zu Boden gestürzte Angeklagte noch für einen Moment eingeschränkt handlungsfähig war und versucht hatte, sich am Shirt des Angeklagten hochzuziehen, weshalb dieser ihm nochmals in das Gesicht geschlagen hatte. Schließlich hatte der Angeklagte dem Opfer noch einen Tritt auf die Stirn versetzt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge rechtsfehlerhaft erfolgt sei.

Da der Grundtatbestand der Körperverletzung aufgrund einer Einwilligung des Geschädigten gerechtfertigt gewesen sei, könne der Angeklagte sich nicht wegen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht haben, wenn man zu seinen Gunsten annehme, dass der erste Schlag gegen den Kopf bereits tödlich gewesen sei.

Beide Beteiligten hätten sich durch ihr Verhalten vor der Auseinandersetzung konkludent zu dieser verabredet, wobei sie davon ausgegangen seien, dass es zu gegenseitigen Körperverletzungen in Form von Schlägen gegen den Körper und ins Gesicht kommen werde. Dadurch hätten beide wirksam über ihre körperliche Unversehrtheit disponiert und in das Tatgeschehen rechtfertigend eingewilligt (§ 228 StGB).

Eine Unwirksamkeit der Einwilligung wegen Verstoßes gegen die guten Sitten sei abzulehnen, so der BGH.

Zwar sei eine Körperverletzung als sittenwidrig und damit einwilligungsunfähig zu bewerten, wenn bei objektiver Betrachtung unter Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht werde. Dabei seien auch Eskalationsgefahren von gruppendynamischen Prozessen zu berücksichtigen. Sorge das konkret vereinbarte Geschehen jedoch für eine ausreichende Sicherheit der Verhinderung solch gravierender Folgen und begrenze die Gefahr für die Beteiligten, sei dies als freie Disposition des Rechtsgutträgers hinzunehmen.

Nach diesen Maßstäben sei die Körperverletzungshandlung nicht als sittenwidrig einzustufen, da beide Kontrahenten abwehrbereit und abwehrfähig gewesen waren und mit einer konkreten Todesgefahr nicht hätte gerechnet werden müssen. Ebenfalls war ein Eingreifen anderer Gefangener nicht verabredet, sodass zwar im Grundsatz eine Eskalationsgefahr bestanden habe, diese jedoch aufgrund anderer Argumente, wie beispielsweise des präsenten Wachpersonals und ihrer Doppelrelevanz als deeskalierendes Eingreifen der anderen Gefangenen, nicht zu einer Sittenwidrigkeit führe.

Dass eine körperliche Auseinandersetzung in einer Haftanstalt unerwünscht sei und disziplinarisch geahndet werde, mache diese noch nicht sittenwidrig, so der BGH, da dieses ordnungsrechtliche Verbot nur den äußeren Rahmen der einverständlichen Körperverletzungshandlungen berühre.

Etwas Anderes gelte für den Sturz des Opfers auf den Boden bzw. den darauffolgenden Stampftritt des Angeklagten, da dieser Geschehensablauf nicht mehr von der Vereinbarung gedeckt gewesen und darüber hinaus aufgrund der konkreten Todesgefahr eines Tritts gegen den Kopf auch sittenwidrig gewesen sei. Allerdings müsse in dubio pro reo davon ausgegangen werden, dass dieses Verhalten des Angeklagten nicht todesursächlich gewesen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2013 hatte der BGH entschieden, dass die Eskalationsgefahr gruppendynamischer Prozesse zu einer Sittenwidrigkeit der Körperverletzungshandlung führen kann (BGH, Beschl. v. 20.02.2013 – 1 StR 585/12).

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 28/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 17.03.2021 – 2 BvR 194/20: Zur Sphäre vertraulicher Kommunikation bei Gefangenenpost

Leitsatz der Redaktion:

Führt ein Gefangener mit mehreren engen Vertrauenspersonen eine Unterhaltung per Brief, unterfallen diese dem besonderen persönlichkeitsrechtlichen Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation, was eine Einzelfallabwägung bei der Ermessensentscheidung nach Art. 34 Abs. 1 BayStVollzG erforderlich macht, selbst wenn Belange der Sicherheit und Ordnung der Anstalt betroffen sind.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Gefangener im Strafvollzug und hat sich gegen Entscheidungen des LG Augsburg – Strafvollstreckungskammer und des BayObLG mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG gewendet.

Durch beide Entscheidungen hat er sich in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG verletzt gesehen, da die Fachgerichte das Anhalten eines seiner Briefe durch die Anstaltsleitung als rechtlich zulässig erachtet hatten.

In dem Brief hatte er sich gegenüber seiner Lebenspartnerin abfällig über seinen ehemaligen Chef geäußert bzw. solche Aussagen wiedergegeben. Darüber hinaus hatte er den Freistaat Bayern als „Nazi- und Bullenstaat“ bezeichnet und von einem Plan berichtet, um über die Anstaltspsychologin an Informationen über eine ehemalige Bedienstete der Anstalt zu gelangen, für die der Beschwerdeführer ein (auch sexuelles) Interesse entwickelt hatte.

Daraufhin hatte die Anstaltsleitung den Brief anhalten lassen, da er gem. Art. 34 Abs. 1 Nr. 1 BayStVollzG die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdet hätte.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt, da die gerichtlichen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seiner Meinungsfreiheit in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und in seinem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz verletzten.

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit erzeuge in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht bei Briefwechseln von Gefangenen eine Sphäre vertraulicher Kommunikation, deren persönlichkeitsrechtlicher Schutz auch nicht dadurch entfalle, dass der Staat diesen überwache und sich Kenntnis vom Inhalt des Schriftwechsels verschaffe. Dieser Grundsatz betreffe nicht nur etwaige Beleidigende Äußerungen, sondern die gesamte Kommunikation, so das BVerfG.

Daher sei eine Abwägung der betroffenen Grundrechte und Rechtsgüter bei Entscheidungen nach Art. 34 Abs. 1 BayStVollzG generell erforderlich und nicht direkt entbehrlich, wenn die Sicherheit und Ordnung der Anstalt tangiert sei, wie das BayObLG meine.

Darüber hinaus sei es auch unschädlich, dass ein Gefangener mit mehreren Personen ein derartig enges Vertrauensverhältnis pflege, in dem Kommunikation stattfinde. Der besondere Schutz vertraulicher Kommunikation sei nicht auf eine Vertrauensperson begrenzt, sondern müsse bei allen Kommunikationsvorgängen Berücksichtigung finden, bei denen eine enge Vertrauensperson des Gefangenen auf der anderen Seite stehe.

Eine Abwägung, ob dem Sicherheitsinteresse der Anstalt mit einer milderen Maßnahme, beispielsweise dem Ablichten und Weiterleiten des Briefs, hätte Rechnung getragen werden können, ließen die Beschlüsse vermissen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den Grundsatz der vertraulichen Angehörigen Kommunikation hatte das BVerfG im Kontext einer Beleidigung in einem Brief eines Gefangenen entwickelt. Nach der aktuellen Entscheidung ist er allerdings nicht nur auf solche Fälle der sog. beleidigungsfreien Sphäre begrenzt. Die ursprüngliche Entscheidung finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 80/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 23.09.2020 – 2 BvR 1810/19: Zur Ermessensausübung bei körperlichen Durchsuchungen im Strafvollzug

Leitsatz der Redaktion:

Bei einer körperlichen Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung im Strafvollzug genügt ein Formblatt mit Ankreuzmöglichkeiten nicht, um eine genügende Ermessenausübung durch die Strafvollzugsbeamten zu dokumentieren.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Entscheidungen des LG Regensburg – Strafvollstreckungskammer und des Bayerischen Obersten Landesgerichts zum BVerfG gewendet.

Er war nach einem Familienbesuch in der Anstaltscafeteria unter vollständiger Entkleidung körperlich durchsucht worden. Die Durchsuchung war auf einem Formblatt mit Ankreuzmöglichkeiten von zwei männlichen Strafvollzugsbeamten protokolliert worden. Die Anstaltsleitung hatte zuvor die Durchsuchung jedes sechsten Gefangenen nach Besuchskontakten genehmigt, wobei die Maßnahme bei einer sehr fernliegenden Gefahr des Missbrauchs des Besuchsrechts unterbleiben solle.

Der Beschwerdeführer hatte daraufhin die gerichtliche Entscheidung über die Durchsuchungsanordnung beantragt, da sie ohne konkreten Anlass erfolgt und damit rechtswidrig gewesen sei.

Sowohl Land– als auch Oberstes Landesgericht hatten die Entscheidung der JVA bestätigt.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt.

Der angegriffene Beschluss des Landgerichts verletze den Beschwerdeführer in dem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Die Durchsuchung unter vollständiger Entkleidung stelle einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Gefangenen dar.

Deshalb habe der Bayerische Landesgesetzgeber in Art. 91 BayStVollzG ein ausdifferenziertes Regelungskonzept für Durchsuchungen geschaffen.

Nach der Konzeption der Regelungen in Art. 91 Absatz 2 und Absatz 3 BayStVollzG sei es zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn auf der Grundlage von Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG mit Entkleidung verbundene Durchsuchungen – etwa im Wege der Stichprobe – auch für persönlich an sich unverdächtige Gefangene angeordnet werden, sofern Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, gefährliche Häftlinge könnten sonst die für sie angeordneten Kontrollen auf dem Umweg über von ihnen unter Druck gesetzte Mithäftlinge umgehen. Dabei dürfe aber nicht die in Art. 91 BayStVollzG vorgesehene Abstufung der Anordnungsbefugnisse unterlaufen werden. Eine Anordnung auf der Grundlage des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG dürfe daher jedenfalls nicht zur Durchsuchung aller oder fast aller Gefangenen vor jedem Besuchskontakt und damit zu einer Durchsuchungspraxis führen, die das Strafvollzugsgesetz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nur in den Konstellationen des Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG erlaube.

Mit seiner Annahme, die Durchsuchungsanordnung sei sowohl auf Art. 91 Absatz 3 als auch auf Absatz 2 BayStVollzG zu stützen, habe das LG die abgestufte und ausdifferenzierte Regelung der Ermächtigungsgrundlagen im BayStVollzG verkannt.

Dies sei aber im Ergebnis nicht durchschlagend, da die Durchsuchung auch allein auf Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG hätte gestützt werden können.

Allerdings habe das LG Bedeutung und Tragweite des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dadurch verkannt, dass es angenommen habe, eine ausreichende Ermessensausübung durch die Justizbeamten ergebe sich ohne darüber hinausgehende Prüfung bereits aus dem bei der Durchsuchung ausgefüllten Formblatt.

Auf dem Formblatt habe sich lediglich ankreuzen lassen, ob die Gefahr des Missbrauchs des Besuchs nach den genannten Kriterien besonders fern gelegen habe oder nicht. Ein Feld zur Dokumentation konkreter Erwägungen oder eine sonstige Möglichkeit zur Begründung der Gefahr eines Missbrauchs des Besuchs durch den Gefangenen sei in dem verwandten Formblatt nicht vorgesehen gewesen. Daher habe das bloße Ankreuzen des vorgesehenen Feldes in dem konkret eingesetzten Formblatt nicht genügt, um bereits daraus auf eine sorgfältige Ermessensabwägung im Einzelfall zu schließen.

Zudem habe sich das LG nicht mit der Frage auseinander gesetzt, ob möglicherweise mildere Mittel zur Gefahrbeseitigung hätten eingesetzt werden können.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits im Jahr 2016 hatte das BVerfG entschieden, dass körperliche Durchsuchungen unter vollständiger Entkleidung auch stichprobenartig zulässig seien, solange in der Anordnung die Abweichungskompetenz des jeweiligen Beamten im Einzelfall vorgesehen sei. Die Entscheidung finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 31/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 26.11.2019 – 2 StR 557/18: Zur Entscheidung über vollzugslockernde Maßnahmen als Sorgfaltswidrigkeit im Rahmen des § 222 StGB

Amtliche Leitsätze:

1. Eine gerichtliche Überprüfung der Frage, ob die Gewährung einer vollzugsöffnenden Maßnahme sorgfaltswidrig war, hat den der Vollzugsbehörde zustehenden Beurteilungsspielraum und das ihr eingeräumte Ermessen zu berücksichtigen und die getroffene Entscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen.

2. Gewährte Vollzugslockerungen und hierzu erteilte Weisungen sind im Allgemeinen stichprobenartig auf ihr Einhaltung zu überprüfen. Frequenz, Art und Ausmaß solcher Kontrollen unterliegen als Annex zur getroffenen Prognoseentscheidung demselben Beurteilungs- und Ermessensspielraum wie die Grundentscheidung über die Gewährung vollzugsöffnender Maßnahmen.

3. Zur Vorhersehbarkeit im Sinne des Fahrlässigkeitstatbestandes bei komplexen Geschehensabläufen, insbesondere bei selbst- und fremdgefährdendem Verhalten eines Dritten.

Sachverhalt:

Das LG Limburg hat die Angeklagten, die jeweils in leitender Funktion als Bedienstete unterschiedlicher Justizvollzugsanstalten tätig waren, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte sich der rechtskräftig verurteilte K. selbst zum Haftantritt in der JVA, in der die Angeklagte D. als stellvertretende Anstaltsleitung und Vollzugsabteilungsleiterin gearbeitet hatte, gemeldet. K. war bereits mehrfach wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und anderen Verkehrsdelikten in Erscheinung getreten und hatte aufgrund dieser Delikte eine mehrjährige Hafterfahrung. Die Angeklagte D. hatte in diesem Zusammenhang, entgegen der Einschätzung eines Kollegen, der das Aufnahmegespräch mit dem Häftling geführt hatte, entschieden, den Verurteilten in den offenen Vollzug zu verlegen und ihm unbegleitete Vollzugslockerungen zu gewähren.

Beanstandungen hatte es danach nie gegeben. Der Verurteilte war auch nie negativ aufgefallen.

Nach einem Monat war der Verurteilte in die JVA, die der Angeklagte W. geleitet hatte, verlegt worden. Der Angeklagte hatte nach einer Zugangskonferenz mit dem Verurteilten und anderen Bediensteten entschieden, den offenen Vollzug aufrecht zu erhalten und später aufgrund der guten Führung des Häftlings, diesen noch auszudehnen.

Der Häftling hatte an 223 Tagen Dauerausgänge und an 89 Tagen Langzeitausgänge ohne Beanstandungen absolviert. Kontrollen der weisungsbedingten Ausgänge hatten nur bei dem auswärtigen Arbeitgeber des Verurteilten stattgefunden, eine weitere Kontrolle der Einhaltung der Weisungen (insbesondere der Weisung, kein KFZ zu führen) war unterblieben.

Daher war es unbemerkt geblieben, dass der Häftling während seiner Ausgänge regelmäßig mit einem KFZ am Straßenverkehr teilgenommen hatte und sogar einen Autoschlüssel an seinem Schlüsselbund bei sich führte, wenn er in die JVA zurückkehrte.

Nach zwei Jahren im offenen Vollzug war der Häftling während eines Ausgangs beim Führen eines KFZ von einer Polizeistreife entdeckt und zum Anhalten bewegt worden. Aus Angst, seine Vollzugslockerungen zu verlieren, hatte der Verurteilte beschleunigt und bei der sich anschließenden Verfolgungsfahrt mit den Polizeibeamten als Geisterfahrer eine junge Autofahrerin getötet.

Das LG wertete die Entscheidung für Vollzugslockerungen beim Verurteilten K. und die unterlassenen Kontrollen als Pflichtwidrigkeitsverstoß und hat die Angeklagten W. und D. wegen fahrlässiger Tötung der Autofahrerin verurteilt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH sprach beide Angeklagte frei, da die rechtsfehlerfreien Sachverhaltsfeststellungen des LG eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nicht trügen.

Eine Sorgfaltspflichtverletzung sei bei beiden Angeklagten nicht zu erkennen. Bei der Festlegung des zu wahrenden Sorgfaltsmaßstabs bestimmten sich Art und Maß nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen seien, so der BGH.

Damit habe sich der Sorgfaltsmaßstab für die beiden Angeklagten aus dem rheinland-pfälzischen Justizvollzugsgesetz ergeben. Dieses habe die Angeklagten in Umsetzung des verfassungsrechtlich garantierten Resozialisierungsanspruchs des Angeklagten berechtigt, bei Vollzugslockerungen vertretbare Risiken einzugehen.

Vollzugslockernde Maßnahmen seien nur dort zu versagen, wo eine konkrete Flucht- oder Missbrauchsgefahr bestünde. Bei dieser Gefahrenprognose stehe den Beamten ein Beurteilungsspielraum zu, der zu mehreren vertretbaren Entscheidungen führen könne. Eine in diesem Rahmen gerade noch vertretbare Entscheidung sei gerichtlich hinzunehmen und könne, da sie den gesetzlichen Anforderungen genüge, auch keine Sorgfaltsverstoß nach § 222 StGB darstellen.

Der Beurteilungsspielraum bei Prognoseentscheidungen sei nur übertreten, wenn eine falsche Prognose aufgrund einer relevant unvollständigen oder unzutreffenden Tatsachengrundlage oder unter nicht vertretbarer Bewertung der festgestellten Tatsachen zustande gekommen sei.

Dies sei in dem vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Es habe keine Pflicht der Angeklagten D. bestanden, noch weitere Vorstrafenakten des Verurteilten anzufordern, da keine besonderen Umstände für die Angeklagte ersichtlich gewesen seien, die eine weitergehende Aufklärung erforderlich gemacht hätten. Auch die abweichende Bewertung durch ihren Kollegen habe dazu keinen Anlass geboten, da dies lediglich eine abweichende fachliche Bewertung auf gleicher Tatsachengrundlage gewesen sei.

Demnach sei die Prognoseentscheidung der Angeklagten D. aus der ex ante-Perspektive fachlich und rechtlich vertretbar gewesen, da sie alle Umstände in ihre Abwägung einbezogen habe, so der Senat.

Gleiches gelte für den Angeklagten W. Zwar könne sich aus den unterlassenen Kontrollmaßnahmen eine Sorgfaltspflichtverletzung ergeben, dies könne jedoch dahinstehen, weil der eingetretene Kausalverlauf der Tötung – aufgrund einer Geisterfahrt während einer Verfolgungsjagd mit der Polizei – vom Angeklagten W. nicht vorhersehbar gewesen sei. Trete der Erfolg einer Fahrlässigkeitstat erst durch das Zusammenwirken mehrerer Umstände ein, müssten alle diese Umstände für den Täter vorhersehbar sein, so der Senat. Nach diesen Maßstäben habe der komplexe Geschehensablauf, der zum Tod der jungen Autofahrerin geführt habe, außerhalb des für den Angeklagten vorhersehbaren gelegen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Erst im Jahr 2019 hatte das BVerfG entschieden, dass die pflichtwidrige Versagung von Vollzugslockerungen den Resozialisierungsanspruch des Verurteilten verletze. Genaueres dazu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 40/2019.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 56/2019

Die Pressemitteilung finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 26.11.2019 – 2 StR 557/18: Keine fahrlässige Tötung nach Gewährung von Vollzugslockerungen

Leitsatz der Redaktion:

Gewähren Strafvollzugsbedienstete einem Gefangenen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums Vollzugslockerungen und wägen dabei alle maßgeblichen Argumente sorgfaltspflichtgemäß gegeneinander ab, sind sie für die unvorhersehbaren Folgen eines Fluchtversuchs nicht verantwortlich.

Sachverhalt:

Das LG Limburg hat die Angeklagten – beide Abteilungsleiter in verschiedenen Justizvollzugsanstalten – wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten sie einem Strafgefangenen Vollzugslockerungen mit der Maßgabe gewährt, dass dieser kein Kraftfahrzeug führen dürfe. Während seines Freigangs war der Häftling dennoch mit einem Auto gefahren und in eine Polizeikontrolle geraten. Er hatte versucht zu flüchten und dabei eine junge Frau getötet. Dafür war er wegen Mordes verurteilt worden.

Entscheidung des BGH:

Der BGH sprach die beiden Angeklagten frei.

Die Verlegung des Gefangenen in den offenen Vollzug sowie die Gewährung von Vollzugslockerungen seien nicht sorgfaltswidrig gewesen. Beide hätten im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums und auf Grundlage einer den Landesbestimmungen entsprechenden Entscheidungsgrundlage zwischen der Sicherheit der Allgemeinheit und dem Resozialisierungsinteresse des Gefangenen abgewogen. Somit sei die Gewährung der Lockerungen kein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine Fahrlässigkeitstat.

Ob möglicherweise Kontroll- oder Überwachungspflicht verletzt worden sind, hatte der BGH nicht zu entscheiden, da eine etwaige Verletzung mangels Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts auch keinen Fahrlässigkeitsvorwurf hätte begründen können, so der Senat.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der Volltext der Entscheidung ist mittlerweile veröffentlicht worden. Mehr dazu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 31/2020.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 40/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 18.09.2019 – 2 BvR 1165/19: Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit auch ohne konkrete Anzeichen einer drohenden Depravation

Leitsatz der Redaktion:

§ 53 Abs. 3 StVollzG NRW fordert im Lichte des Gebots, die Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen zu erhalten und zu festigen, keine konkreten Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation. Vor solchen konkreten Anzeichen soll das Gebot gerade schützen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war wegen Totschlags zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

Nachdem er etwas mehr als sechs Jahre verbüßt hatte, hatte er im Jahr 2018 bei der Justizvollzugsanstalt eine erste Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit beantragt, welche von der JVA mit der Begründung abgelehnt worden war, dass der Beschwerdeführer keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der Lebenstüchtigkeit aufweise.

Nachdem dieser Bescheid vom LG Bielefeld aufgehoben worden war, weil er keine ausreichende Abwägung erkennen lassen hatte, hatte die JVA den Antrag erneut negativ beschieden, da der Inhaftierte keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten zeige und eine Ausführung nur in gefesseltem Zustand möglich sei, was dem Zweck der Ausführung zuwiderlaufe.

Dieser Bescheid war sowohl vom LG als auch vom OLG Hamm aufrechterhalten worden. Der Beurteilungsspielraum, der der JVA zustünde, sei gewahrt worden, da alle Gründe die für und gegen eine Ausführung gesprochen hatten, abgewogen worden seien. Eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit sei rechtsfehlerfrei und unter Anwendung der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation abgelehnt worden. Die Eingangsvoraussetzung des § 53 Abs. 3 Satz 1 StVollzG NRW fordere, dass eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit entweder feststellbar sei oder nach konkreten Anhaltspunkten zumindest drohe, eine lange Haftdauer allein genüge unterdessen nicht.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die Beschlüsse des LG Bielefeld und des OLG Hamm auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG verletzten.

Dieses Grundrecht verpflichte zu einer auf Resozialisierung und Behandlung ausgerichteten Ausgestaltung des Strafvollzuges. Gerade bei langen Haftstrafen müsse den schädlichen Auswirkungen des Vollzugs entgegengewirkt werden, wobei das Gebot zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nicht erst dann eingreife, wenn der Gefangene bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweise.

Um dieses Ziel zu erreichen, seien dem Gefangenen Vollzugslockerungen oder vollzugsöffnende Maßnahmen, wie beispielsweise eine Ausführung, zu gewähren soweit dies möglich sei. Deren Ablehnung greife in das durch Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Resozialisierungsinteresse des Insassen ein.

Daher dürfe eine Ablehnung durch die JVA insbesondere nicht unter Hinweis auf pauschale Wertungen oder einer abstrakten Flucht- bzw. Missbrauchsgefahr erfolgen, so das BVerfG. Es sei vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die eine Prognoseentscheidung zur tatsächlichen Flucht- oder Missbrauchsgefahr des Gefangenen stützten.

Anhand dieser Maßstäbe hätten das LG und das OLG die Voraussetzungen an eine Ausführung nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW fehlerhaft ausgelegt.

Indem die Instanzgerichte eine konkrete Gefahr für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit gefordert hätten, hätten sie den Sinn des grundrechtlichen Gebots, den Strafvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, verkannt.

Weise ein Gefangener bereits Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation auf, handele es sich schon um konkrete haftbedingte Schädigungen, vor denen der Inhaftierte zu schützen gewesen sei.

Daraus folge, dass einem langjährig inhaftierten Gefangenen Ausführungen zu gewähren seien, auch, wenn er noch keine Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation zeige. Anders sei nur zu entscheiden, wenn eine konkrete und durch aktuelle Tatsachen belegbare Missbrauchs- oder Fluchtgefahr bestehe, der nicht durch die Begleitung von Bediensteten, der Festlegung von zusätzlichen Auflagen oder der verhältnismäßigen Anordnung einer Fesselung begegnet werden könne.

Ein pauschaler Verweis auf eine frühere aus dem offenen Vollzug heraus begangen Tat ohne aktuelle Gefahrenprognose genüge ebensowenig, wie eine Versagung mit dem pauschalen Argument, eine Ausführung unter Fesselung entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle daher ihren Zweck.

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2017 hatte das OLG Hamm entschieden, dass die Annahme einer Missbrauchs- oder Fluchtgefahr positiv festgestellt werden müsse (OLG Hamm, Beschl. v. 06.07.2017 – 1 Volz (Ws) 209/17).

Am 14. Dezember 2017 hat das OLG Hamm beschlossen, dass keine konkreten Anzeichen für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit zur Anordnung von Maßnahmen nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW erforderlich seien. Daher verwirrt das Abweichen von der eigenen Rechtsprechung in diesem Fall.

Den Beschluss vom Dezember 2017 finden Sie hier.

Zur Fesselung, die dem Zweck der Ausführung nicht entgegenwirke, hat das OLG Hamm am 28.12.2018 entschieden.

 

 

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