Simon Funk: Gnade und Gesetz. Zum Verhältnis des Begnadigungsrechts zu seinen gesetzlichen Alternativregelungen

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2017, Duncker & Humblot, Berlin, ISBN: 978-3-428-15201-8, S. 289, Euro 79,90.

Den Spruch „Gnade vor Recht ergehen lassen“ kennt nicht nur der Jurist. In der Dissertation geht es aber nicht um Gnade und Recht in einem dualistischen Verhältnis, nicht um das Nebeneinander von Gnade und Recht, sondern um das Begnadigungsrecht im Rahmen der geltenden Gesetze. Schwerpunkt der Arbeit bildet die Frage, ob die Ausübung des Begnadigungsrechts de lege lata bei jeder rechtskräftigen Verurteilung ohne weiteres möglich ist oder ob rechtliche Schranken gelten (S. 21). Dabei stellt der Autor schon einleitend fest, dass die fortschreitende Schaffung gesetzlicher Regelungen (z.B. § 57a StGB) im Laufe der Zeit der Gnade jedenfalls in faktischer Hinsicht viel von ihrem früheren Anwendungsbereich genommen habe (S. 22).

Im ersten Kapitel zeichnet Funk die Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders von Gnade und gesetzlichen Strafvergünstigungen seit der Aufklärung nach (S. 24 ff.). Durch diese rechtsgeschichtliche Betrachtung wird deutlich, dass die Entstehung und Fortentwicklung gesetzlicher Strafvergünstigungen im Laufe der Zeit von einem gewandelten Verständnis von Gnade und Gesetz zeugt (S. 85).

Während der Aufklärung büßt die Gnade ihr Wesen als Ausfluss unbeschränkter Souveränität ein, da sie nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern aus Gerechtigkeitserwägungen heraus ausgesprochen wird. Dieser Wandel hat aber Folge, dass dem Strafgesetzbuch zunehmend Bedeutung zugeschrieben wird: denn wenn dem Individuum bereits durch Normanwendung hinreichend Gerechtigkeit widerfährt, so bedarf es des Korrektivs der Gnade nicht. Daher wurden nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs im RStGB und in der RStPO Regelungen geschaffen, mit denen bereits bei der Gesetzesanwendung unbillige Härten vermieden werden sollten. In der Weimarer Republik wurden dann weitere gesetzliche Strafvergünstigungen eingeführt, wie z.B. die Geldstrafengesetze und die Strafaussetzung im Jugendstrafrecht. Hier sprach man sich dann auch zum ersten Mal dafür aus, in Anbetracht dieser gesetzlichen Strafvergünstigungen die Gnade re-striktiver zu handhaben. Trotz dieser „verhaltene(n) Stimmen“ (S. 86) wurde in der Rechtspraxis den gesetzlichen Alternativregelungen kein genereller Vorrang vor dem Gnadenverfahren eingeräumt.

Die Verrechtlichung ehemaliger Gnadenbereiche setzt sich in der Bundesrepublik Deutschland ab 1953 fort, wobei Funk die gesetzliche Regelung der Reststrafenaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach § 57a StGB zu Recht als „Meilenstein“ (S. 86) bezeichnet. Als Triebfeder der Verrechtlichung benennt der Verfasser die steigende Bedeutung der Spezialprävention. Obwohl der Anwendungsbereich der Gnade seit der Aufklärung stark eingeschränkt wurde, kam es nach Einschätzung des Autors bislang nicht zur Klärung der Frage, inwieweit diese Verrechtlichung den der Gnade verbleibenden Anwendungsbereich auch de lege lata verbindlich beschränkt (S. 87).

Zudem zeige die Entwicklung des Begnadigungsrechts und der gesetzlichen Strafvergünstigungen, dass die Gnade immer wieder als Mittel der Kriminalpolitik eingesetzt wurde und wird und insofern vielfach gesetzliche Regelungen einer solchen Gnadenpraxis nachfolgten. Auch heute noch seien in den meisten Bundesländern die alljährlich gewährten „Weihnachtsamnestien“ sowie die Praxis der gnadenweisen Verkürzung der Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach Belegung eines „Aufbauseminars“ zu beobachten (S. 88).  Dagegen seien Wesen und Funktion der Gnade auch heute noch nicht abschließend geklärt.

Daher wird im nächsten Kapitel zunächst das Fundament für die weitere Arbeit gelegt und ein – wenn auch sehr kurzer – Überblick über das geltende Gnadenrecht gegeben (S. 89 ff.). Funk macht deutlich, dass sich das Begnadigungsrecht nicht auf die Milderung von „Strafen“ beschränkt, sondern auch außerhalb des Strafrechts Anwendung findet. Im Bereich des Strafrechts können nur die Rechtsfolgen der Verurteilung Gegenstand des Gnadenrechts sein, wobei auch Maßregeln der Besserung und Sicherung nach h.M. gnadenfähig sind. Auch in Bezug auf die Nebenfolge nach § 45 StGB, die Einziehung (§ 73 ff.) und das Fahrverbot, kann Gnade gewährt werden (S. 90). Als Rechtsfolgen des Gnadenakts sind sämtliche Milderungsformen denkbar (S. 91).

Die Zuständigkeit für die Ausübung des Begnadigungsrechts ist formal-gesetzlich geregelt. Dem Bund steht das Begnadigungsrecht ausschließlich in solchen Sachen zu, die erstinstanzlich vor den Oberlandesgerichten verhandelt werden, also insbesondere bedeutende Staatsschutzsachen. In allen anderen Strafsachen steht den Ländern das Begnadigungsrecht zu. Für den Bund übt der Bundespräsident das Begnadigungsrecht aus, jedoch werden einige Fälle auf den Bundesjustizminister übertragen. In den Ländern behalten sich die Ministerpräsidenten das Begnadigungsrecht dagegen i.d.R. nur bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten sowie eventuell in weiteren bedeutsamen Sachen vor. Alle übrigen Fälle wurden in sämtlichen Bundesländern den jeweiligen Landesjustizministern bzw. Justizsenatoren übertragen, die wiederum Fälle der leichteren und mittleren Kriminalität den Generalstaatsanwaltschaften übertragen haben.

Formal-gesetzliche Regelungen zum Gnadenverfahren an sich gibt es mit Ausnahme des Saarlandes nicht. Die Länder haben aber eigene Gnadenordnungen durch ihre jeweiligen Justizminister erlassen, bei denen es sich allerdings um Verwaltungsvorschriften handelt, die lediglich verwaltungsintern wirken und aus denen der Bürger keine unmittelbaren Rechte ableiten kann. Auch wenn das Gnadenrecht insgesamt intransparent ist, so sind doch sämtliche Gnadenordnungen veröffentlicht und bilden daher laut Verfasser eine wichtige Erkenntnisquelle hinsichtlich der praktischen Handhabung von Gnadensachen (S. 98). Da die Gnadenordnungen im Ländervergleich sehr ähnlich oder gar gleichartig sind, lässt sich ein einheitlicher Ablauf des Gnadenverfahrens beschreiben, was der Autor näher ausführt (S. 98 ff.).

Dagegen sind die in den verschiedenen Gnadenordnungen genannten Gnadengründe fragmentarisch, neben allgemeinen Voraussetzungen, unter denen ein Gnadenerweis erteilt werden kann, bestehen zum Teil besondere Richtlinien für spezielle Vergünstigungen (S. 104).

Im folgenden Hauptkapitel (S. 106 ff.) geht Funk der Frage nach, ob die Gnade vor Recht oder im Recht ergeht, d.h. ob die Gnade Teil des Rechts ist. Dazu zeichnet er in einem ersten Schritt die Entwicklung der Rechtsprechung zum Verhältnis von Gnade und Recht sowie die Auffassungen in der Literatur nach. In seiner Auswertung kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass die Gnade vollständig in das Recht integriert ist. Die Gnade unterliege objektiv-rechtlichen Bindungen, die sich insbesondere aus der Verfassung ergeben. Die Gnadenentscheidung werde daher zum Rechtsakt, ergehe im Recht mit der Folge, dass auch dem im folgenden Unterabschnitt zu untersuchenden etwaigen Vorrang der gesetzlichen Alternativregelung Rechtsqualität zugesprochen werden könnte (S. 128).

Vor Einstieg in den Unterabschnitt „Gnade nach Gesetz“ wird deutlich gemacht, dass eine Begnadigung eine vorherige rechtskräftige Entscheidung voraussetzt, so dass sich die Frage des Verhältnisses der Gnade zu Regelungen, die bereits vor einer gerichtlichen Entscheidung Anwendung finden oder die das Gericht bei der Entscheidung anwendet, nicht stellt. Ebenfalls könne kein Konkurrenzverhältnis zwischen Gnade und der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB bestehen (S. 129). Der Verfasser kommt in einem ersten Zwischenergebnis zu dem Schluss, dass der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade de lege lata besteht. Biete das Gesetz seinerseits die Möglichkeit, die mit der Gnade erstrebte Vergünstigung zu erhalten, fehle es einem gleichwohl ergehenden originären Gnadenakt an der erforderlichen Legitimität. Rechtsdogmatisch sei der Vorrang des Gesetzes gegenüber dem Gnadenverfahren als Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes zu verstehen. Dieser Vorrang gelte ausnahmslos (S. 160 f.). Daran ändere sich auch nichts dadurch, dass der Verurteilte ausdrücklich oder konkludent eine inhaltliche Sachentscheidung über das Gnadengesuch begehre (S. 166).

Eine gesetzliche Alternativregelung kommt laut Verfasser dann in Betracht, wenn sämtliche formellen Merkmale der betreffenden Regelung erfüllt sind und es zugleich an den materiellen Merkmalen nicht offensichtlich fehlt.

Wegen dieses prinzipiellen Vorrangs des Gesetzes wird in einem Folgekapitel die Frage aufgeworfen, wann überhaupt ein Grund für einen Gnadenerweis vorliegt (S. 196). Für Gnade bestehe insbesondere dann Raum, wenn die Strafverhängung und die sich anschließende Strafvollstreckung ausnahmsweise unverhältnismäßig sind – das Gesetz also nicht auf den Einzelfall „passe“ und eine so nicht vertretbare „Gesetzeshärte“ vorliege. Die Verhältnismäßigkeit könne hier unter Umständen durch eine gnadenweise Vergünstigung wiederhergestellt und dadurch der Individualgerechtigkeit genüge getan werden. Allerdings habe der Einzelne keinen Anspruch auf Gnade, so dass die Gewährung von Gnadenakten von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht werden könne (S. 222).

Abschließend stellt der Verfasser noch die Gnade im Anwendungsbereich ausgewählter gesetzlicher Alternativregelungen vor und widmet sich der Reststrafenaussetzung zur Bewährung bei zeitiger und lebenslanger Freiheitsstrafe, dem Strafausstand nach §§ 455, 456 StPO, den Strafvollzugslockerungen, dem Fahrverbot und der Entziehung der Fahrerlaubnis sowie der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten. Hier werden verschiedene Räume aufgezeigt, die Gnadenentscheidungen möglich machen.

Der Raum für originäre Gnade sei aber sehr beschränkt. Die Gesetzeslücken, die Gnadenakte bedingen würden, könnten aber laut Auffassung des Verfassers durch eine gesetzliche Regelung de lege ferenda geschlossen werden (S. 263). Insofern spricht er sich für die vollständige Ablösung der Gnade durch ein gesetzliches Institut aus und macht einen Formulierungsvorschlag für eine in § 461a StPO verortete Generalklausel:

„(1) Das Gericht kann auf Antrag des Verurteilten oder von Amts wegen im Einzelfall nach Rechtskraft der Verurteilung eine Strafe, Nebenstrafe, Nebenfolge oder Maßregel der Besserung und Sicherung ganz oder teilweise erlassen, ihre Vollstreckung aussetzen oder unterbrechen. Insbesondere kann das Gericht

die Vollstreckung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder des Restes einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen, oder

die Vollstreckung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder eines nach § 44 des Strafgesetzbuches verhängten Fahrverbots unterbrechen.

(2) Eine Vergünstigung nach Absatz 1 setzt voraus, dass die Strafvollstreckung oder Fortsetzung der Strafvollstreckung für den Verurteilten ausnahmsweise eine unbillige Härte bedeutete. Eine unbillige Härte liegt vor, wenn die Strafvollstreckung oder Fortsetzung der Strafvollstreckung im Hinblick auf die hiermit verfolgten Zwecke nicht erforderlich ist oder ausnahmsweise die berechtigten Interessen des Verurteilten überwiegen, und eine Abhilfe nach sonstigen Rechtsvorschriften nicht in Betracht kommt.

(3) Berechtigte Interessen des Verurteilten können sich nur als[1] solchen Umständen ergeben, die dem erkennenden Gericht nicht bekannt waren.

(4) …“ (S. 267 f.).

Der Verfasser versteht den Vorschlag „lediglich als Anstoß“, sieht in einer ausdrücklichen Regelung gegenüber dem Gnadenverfahren aber ein „Mehr an Rechtsstaatlichkeit“ (S. 268). Allerdings stelle sich die rechtspolitische Frage, ob der Raum für Gnade durch eine gesetzliche Regelung weiter eingeengt werden sollte (S. 270). Letztlich spricht sich der Verfasser trotz dieser rechtspolitischen Zweifel dafür aus. Durch eine gesetzliche Generalklausel sei den originären Gnadenakten in jedem Fall der Boden entzogen, so dass es einer Streichung entsprechender verfassungsrechtlicher Artikel im Grundgesetz und den Länderverfassungen nicht mehr bedürfe, sondern diese ins Leere liefen. Den Anwendungsbereich des „Wunders Gnade“ möchte der Verfasser daher durch das Gesetz weiter verkleinern (S. 271).

Positiv hebt der Verfasser dabei hervor, dass zudem die Gnadensachen dann nicht mehr von den von Verfassungs wegen vorgesehenen Entscheidungsträgern, sondern direkt vom Gericht getroffen würden (S. 271). Ich bin mir nicht sicher, ob es so vorteilhaft ist, die Gnadenentscheidung in die Beurteilung der Gerichte zu stellen. Zudem ist die Frage, ob man nicht gerade im Strafverfahrensrecht neben einer Generalklausel das „Wunder“ der Gnade braucht, um jenseits der rechtlichen Rahmenbedingungen für Einzelfallgerechtigkeit sorgen zu können.

Ob diese Einzelfallgerechtigkeit durch den de lege ferenda Vorschlag in jedem Fall gewährleistet ist, gilt es in weiteren wissenschaftlichen Abhandlungen zu überprüfen. Ganz sicher aber bietet diese Arbeit neben einem sehr schönen Überblick über das doch eher unbekannte Thema des Gnadenrechts genügend Diskussionspotenzial, um dieser Randmaterie zu mehr Aufmerksamkeit in der Strafrechtswissenschaft zu verhelfen.

[1]     Hier handelt es sich offensichtlich um einen Tippfehler des Verfassers und „aus“ anstelle von „als“ ist gemeint.

 

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