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BGH, Urt. v. 03.07.2019 – 5 StR 132/18 & 5 StR 393/18: Keine Strafbarkeit des Arztes nach Suizidversuch des Patienten
Amtlicher Leitsatz (5 StR 132/18):
Angesichts der gewachsenen Bedeutung der Selbstbestimmung des Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben kann in Fällen des freiverantwortlichen Suizids der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln.
Amtlicher Leitsatz (5 StR 393/18):
Die Garantenstellung des Arztes für das Leben seines Patienten endet, wenn er vereinbarungsgemäß nur noch dessen freiverantwortlichen Suizid begleitet.
Leitsatz der Redaktion:
- Fallen Patienten während eines freiverantwortlichen Suizidversuchs in Ohnmacht, besteht für den begleitenden Arzt, keine Pflicht zur Einleitung lebensrettender Maßnahmen, wenn er von der Freiverantwortlichkeit wusste. Eine Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB scheidet dann aus.
- Auch eine Strafbarkeit nach § 323c StGB ist nicht gegeben, da Rettungsmaßnahmen entgegen den autonomen und fehlerfrei gebildeten Willen des Patienten nicht geboten sind.
Sachverhalt:
Im Verfahren vor dem LG Hamburg (5 StR 132/18) waren die Suizide zweier befreundeter Seniorinnen gegenständlich. Die beiden 85 und 81 Jahre alten Damen litten an mehreren Krankheiten, die zwar nicht lebensbedrohlich waren, aber ihre Lebensqualität massiv einschränkten. Daher entschlossen Sie sich, mit der Unterstützung eines Sterbehilfevereins aus dem Leben zu scheiden. Dieser Verein ließ ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten zur Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Seniorinnen vom Angeklagten anfertigen, in dem dieser zu dem Schluss kam, dass an einem ernstlichen und wohlüberlegten Sterbewillen der beiden Frauen kein Zweifel bestand. Auf Wunsch der Damen begleitete der angeklagte Arzt sie durch den Sterbeprozess und war vor Ort, als sie die letalen Medikamente einnahmen. Ihrem ausdrücklichen Willen entsprechend unterließ es der Angeklagte nach Eintritt der Bewusstlosigkeit, Wiederbelebungsversuche zu unternehmen.
Vor dem LG Berlin (5 StR 393/18) hatte sich ein Hausarzt zu verantworten, der einer Patientin tödliche Medikamente verschafft hatte. Die 44 Jahre alte Frau litt unter einer nicht lebensbedrohlichen Krankheit, die starke krampfartige Schmerzen auslöste und hatte ihren Arzt nach mehreren gescheiterten Suizidversuchen um Hilfe gebeten. Dieser betreute die, aufgrund der selbst eingenommen Medikamente, bewusstlose Frau über zweieinhalb Tage bis zu ihrem Tod ohne Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Dieses Vorgehen hatte er vorher mit seiner Patientin abgesprochen.
Beide Ärzte wurden von den Landgerichten mit der Begründung freigesprochen, dass im Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme keine Tatherrschaft ihrerseits bestanden hätte und auch im Zeitraum der Bewusstlosigkeit, aufgrund der getroffenen Absprachen mit den Patientinnen, keine Verpflichtung zur Vornahme lebensrettender Maßnahmen begründet worden sei.
Entscheidung des BGH:
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft wurden verworfen und die Urteile der Landgerichte vom BGH bestätigt.
Der BGH stellte klar, dass eine Strafbarkeit der Ärzte im Vorfeld des Suizids, aufgrund der von den Landgerichten fehlerfrei festgestellten eigenverantwortlichen Entscheidung der Suizidentinnen, ausscheide.
Bei der Abgrenzung von strafloser Beihilfe zu einem Suizid und strafbarer Tötung auf Verlangen sei das maßgebliche Kriterium die Tatherrschaft über den letztendlich totbringenden Akt. Diese habe in beiden Verfahren bei den Seniorinnen gelegen, da sie sich das letale Medikament selbst und eigenverantwortlich indiziert hätten.
Auch eine Zurechnung dieser Tötungshandlung im Rahmen der mittelbaren Täterschaft sei nicht möglich. Dafür sei erforderlich, dass der Suizident bei Vornahme der Tötungshandlung unfrei gehandelt habe, als sog. Werkzeug gegen sich selbst. Das dafür maßgebliche Wissen- oder Verantwortlichkeitsdefizit bei Begründung des Selbsttötungsentschlusses, sei bei den Seniorinnen ebenfalls rechtsfehlerfrei von den Landgerichten abgelehnt worden. Die Frauen hätten den Entschluss zum Suizid nach einer gründlichen Abwägungsentscheidung und der Berücksichtigung von Alternativen gefasst, was einen Wissens- oder Willensmangel, der die Tatherrschaft der Angeklagten begründen könne, ausschließe.
Zum gleichen Ergebnis kämen auch die sog. Exkulpationslösung, die auf einen die Verantwortlichkeit ausschließenden Zustand gem. §§ 19, 20, 35 StGB abstelle, und die sog. Einwilligungslösung, die die Kriterien der rechtfertigenden Einwilligung heranziehe.
Auch im Stadium der Bewusstlosigkeit seien die Angeklagten nicht zum Ergreifen lebensrettender Maßnahmen verpflichtet gewesen. Im Hamburger Fall sei der Angeklagte nicht der behandelnde Arzt der Seniorinnen gewesen, sodass schon deshalb kein Arzt-Patientinnen-Verhältnis und auch keine Garantenpflicht bestanden habe. Auch die vereinbarte Sterbebegleitung vermöge eine solche Pflicht, beispielsweise aus Ingerenz, nicht entstehen lassen, so der BGH. Zunächst stelle die Sterbebegleitung zwar möglicherweise einen Verstoß gegen ärztliches Standesrecht dar, für die Begründung einer Garantenpflicht aus Ingerenz müsse das Gebot aus dem Standesrecht, gegen das verstoßen werde, aber gerade dem Schutz des konkret gefährdeten Rechtsguts dienen. Dies sei schon zweifelhaft, da das ärztliche Standesrecht auf die Festlegung von berufsethischen Grundsätzen abziele und gerade nicht den Rechtsgüterschutz bezwecke. Jedenfalls entfalte das ärztliche Standesrecht keine strafbegründende Wirkung, wenn der Verstoß gegen eben solches dem autonomen Willen des Patienten entspreche.
Die Hilfeleistung in Form der Zerkleinerung der Tabletten oder die beratende Tätigkeit könnten ebenfalls kein pflichtwidriges Vorverhalten darstellen, da durch die eigenverantwortliche Einnahme der Medizin, das Vorverhalten weder gefahrerhöhend gewertet werden könne, noch den Verantwortungsbereich für die Tötung verschoben hätte.
Der Berliner Arzt stehe als Hausarzt zwar grundsätzlich in einer Garantenstellung zu seiner Patientin, diese habe aber im konkreten Fall durch das ausgeübte Selbstbestimmungsrecht der Seniorin keine Pflicht zur Rettung ihres Lebens begründet. Dies folge daraus, dass das vom EGMR aus Art. 8 EMRK hergeleitete Recht einer Person, selbst zu entscheiden wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden soll, eine enorme Aufwertung der Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen bedingt habe. Solange ein freiverantwortlicher Entschluss des Suizidenten vorliege und der Arzt diese Umstände kenne, könne er nicht durch das Strafrecht gezwungen werden, gegen den Willen seiner Patienten zu handeln. Dies folge aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG), aus denen das BVerfG ein sog. Recht auf Krankheit, also das Recht, medizinisch notwendige Behandlungen abzulehnen, hergeleitet habe. Gleiches ergebe sich aus der Menschenwürde, die dazu zwinge, den Willen eines eigenverantwortlich entscheidenden Menschen auch dann noch zu respektieren, wenn dieser mittlerweile zu solchen Entscheidungen nicht mehr fähig sei. Deklaratorisch komme dies in § 1901a BGB durch den Gesetzgeber zum Ausdruck.
Ebenfalls sei § 323c StGB von den Angeklagten nicht verletzt worden, da Rettungsmaßnahmen entgegen des ausdrücklichen und fehlerfrei gebildeten Willens der Seniorinnen nicht geboten gewesen seien. Zwar sei der drohende Tod durch einen Suizidversuch ein Unglücksfall iSd § 323c StGB, aber dem Angeklagten sei aufgrund der Konfliktsituation zwischen Hilfspflicht und Wahrung des Patientenwillens ein Eingreifen nicht zuzumuten gewesen.
Eine ebenfalls in Betracht kommende Strafbarkeit wegen der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gemäß § 217 StGB spielte in diesen beiden Verfahren keine Rolle, da dieser neue Straftatbestand zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft getreten war und somit das Rückwirkungsverbot (§ 1 StGB) gilt.
Anmerkung der Redaktion:
Weitere Informationen zu § 217 StGB finden sie hier.