Barbara Dunkel: Fehlentscheidungen in der Justiz. Systematische Analyse von Wiederaufnahmeverfahren in Strafverfahren im Hinblick auf Häufigkeit und Risikofaktoren

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2018, Nomos, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-5272-0, S. 284, Euro 74,00.

Die Dissertation von Dunkel stößt in eine der Forschungslücken, die Böhme in der zuvor rezensierten Dissertation aufgezeigt hat, nämlich Wiederaufnahmeverfahren in Strafverfahren systematisch zu analysieren. Zuvor definiert sie den Begriff der Fehlentscheidungen und beleuchtet das Wiederaufnahmeverfahren als Untersuchungsgegenstand. Anschließend benennt sie die Risikofaktoren für Fehlurteile und gibt den Forschungsstand hinsichtlich der Häufigkeit von Fehlurteilen wieder. Bevor sie die Aktenanalyse vornimmt, werden bisherige Erkenntnisse zum Ausmaß in einer Art Meta-Analyse ausgewertet und die vom Statistischen Bundesamt erhobenen Daten zu strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren der letzten 15 Jahre untersucht. Danach folgt eine Aktenanalyse von Wiederaufnahmeverfahren in Hamburg im Zeitraum von 2003 bis 2015. Insofern wird eine systematische Analyse punktuell nur für Hamburg vorgenommen, so dass hier weiterer Forschungsbedarf über die Grenzen Hamburgs hinaus bestehen bleibt. Dunkel ist hinsichtlich der Limitierung aber kein Vorwurf zu machen, weist sie doch auf unüberwindbare bürokratische Hürden hin, die eine größer angelegte, repräsentative Analyse unmöglich machten (S. 25). Insofern wird eine Herausforderung künftiger Studien sein, diese bürokratische Hürden zu überwinden und so umfangreich zu forschen, wie das Karl Peters in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gemacht hat.

Dunkel versteht einleitend den Begriff des Fehlurteils weit, so dass alle fehlerhaften Verurteilungen umfasst werden, d.h. auch Strafbefehle oder Beschlüsse (S. 27). Bei einem Fehlurteil läge ein Fehler des erkennenden Gerichts vor, unabhängig davon ob dieser Fehler vorsätzlich oder unvorsätzlich geschehen sei. In der Dissertation liegt daher der Fokus auf Entscheidungen im Strafverfahren, die letztendlich zu einem rechtskräftigen Urteil geführt haben und sich im Nachhinein als fehlerhaft herausstellen (S. 30). Dabei beschränkt sich die Analyse auf die verschiedenen Stadien des Wiederaufnahmeverfahrens (S. 36). In Kürze erläutert Dunkel im Anschluss die strafprozessualen Voraussetzungen eines Wiederaufnahmeverfahrens (S. 39 ff.).

Danach benennt die Verfasserin Risikofaktoren für Fehlentscheidungen (S. 59 ff.). Sie differenziert hierfür nach personenbezogenen/psychologischen und verfahrensbezogenen Risikofaktoren. Dabei weist sie psychologischen Mechanismen eine höhere Bedeutung in Bezug auf Fehlentscheidungen zu (S. 62). Dunkel widmet sich hier u.a. kognitiven Verzerrungsprozessen, persönlichkeitsbedingten Einflussfaktoren der einzelnen am Strafverfahren involvierten Beteiligten und dem Einfluss der Medien. Unter die verfahrensbedingten Risikofaktoren ordnet die Verfasserin u.a. die Beeinflussung durch Erkenntnisse des Ermittlungsverfahrens für den weiteren Strafprozess, Beweiserhebungsfehler, Begutachtungsfehler und die zunehmende Tendenz der Ökonomisierung des Strafverfahrens.

In einem weiteren Abschnitt beleuchtet die Dissertation den Forschungsstand zur Häufigkeit von Fehlentscheidungen (S. 105 ff.). Dabei wird die dürftige bis nicht vorhandene Datenlage zum allgemeinen Ausmaß von Fehlentscheidungen in Deutschland beklagt (S. 107). Danach erfolgt eine Systematisierung bestehender Erkenntnisse, die allerdings auch wiederum sehr knapp ausfällt. Resümierend stellt Dunkel fest, dass es an aktuellen empirischen Aktenanalysen zu Wiederaufnahmeverfahren fehlt und somit denkbare Veränderungen in Strafverfahren, Beweiserhebung und Begutachtung seit der Studie von Peters nicht mehr in ihren Auswirkungen auf die (Fehl-)Urteilsfindung untersucht worden sind. Schwierigkeiten für die Stichprobengenerierung werden vor allem darin gesehen, dass Wiederaufnahmeverfahren nicht spezifisch gekennzeichnet werden. Insgesamt hält die Verfasserin fest, dass bei neuer Hauptverhandlung nach einem erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag zugunsten des Verurteilten in den meisten Fällen ein Freispruch wahrscheinlich ist. Die größte Hürde für das Wiederaufnahmeverfahren seien die Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung an sich (S. 155).

Um die Häufigkeit von Fehlentscheidungen in Deutschland zu überprüfen, werden in einem weiteren Schritt die Daten des Statistischen Bundesamtes ausgewertet. Es wird festgestellt, dass im Durchschnitt der letzten 15 Jahre (2001-2015) in Deutschland jährlich über 2.200 Wiederaufnahmeanträge gestellt werden (S. 158), wobei die Anzahl stetig abgenommen hat (S. 160). Leider wird die Erfolgsquote der Wiederaufnahmeanträge vom Statistischen Bundesamt nicht erfasst (S. 166). Insofern kann die Verfasserin nur auf Schätzungen zurückgreifen. Um hier belastbare Quoten zu erhalten, müsste tatsächlich der weitere Verfahrensgang nach Antragstellung bis zum Abschluss verfolgt werden.

Abschließend folgt die Aktenanalyse zu Wiederaufnahmeverfahren in Hamburg im Zeitraum von November 2003 bis Oktober 2015, wobei nicht nur Urteile und Beschlüsse, sondern auch Strafbefehle erfasst und erfolgreiche ebenso wie erfolglose Wiederaufnahmeanträge und     -verfahren untersucht worden sind (S. 169 ff.). Zunächst weist Dunkel auf methodische Problem und divergierende Fallzahlen von Wiederaufnahmeverfahren in unterschiedlichen Datenbanken hin. Daneben erwies sich die Aktenzeichengewinnung der Fallakten zu Wiederaufnahmeverfahren als schwierig, so dass nur 48 Akten in die Datenerhebung und -auswertung aufgenommen werden konnten (S. 176). Zur Aktenauswertung wurde ein Erhebungsbogen mit 63 Items erstellt und eine deskriptive Datenanalyse vorgenommen (S. 178 f.).

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem überwiegenden Anteil der Wiederaufnahmeanträge um „kleinere“ Fälle des Amtsgerichts handelte, wobei über 50 % der Anträge Strafbefehle betrafen. In fast 40 % der Fälle wurde die Wiederaufnahme von der Staatsanwaltschaft beantragt und war dort in fast allen Fällen erfolgreich und führte zum sofortigen Freispruch nach § 371 Abs. 2 StPO. Dagegen wurde in den „größeren“ landgerichtlichen Verfahren in sieben der neun Fälle seitens des Verurteilten ein Wiederaufnahmeantrag gestellt und dieser dann als unzulässig abgewiesen. In den zwei seitens der Staatsanwaltschaft gestellten Anträgen waren beide zulässig, begründet und letztlich auch erfolgreich (S. 192 f.).

Wurde ein Wiederaufnahmeantrag als unzulässig angesehen, so lag dies primär an nicht eingehaltenen Formerfordernissen. Daher sollten, so Dunkel, diese Formvorschriften besser an den Verurteilten kommuniziert werden (S. 193).

In den untersuchten Akten ließ sich als Hauptfehlerquelle die unerkannte psychische Erkrankung und eine diesbezügliche Schuldunfähigkeit herausarbeiten. Diese war in fast 50 % der Fälle Grund für die Aufhebung des Ersturteils (S. 193 f.). Als Ursache benennt die Verfasserin die Struktur des Strafbefehlsverfahrens, in dem eine umfangreiche Auseinandersetzung mit der persönlichen Verfassung des mutmaßlichen Täters nicht vorgesehen ist (S. 194).

Dunkel benennt abschließend noch Implikationen und Verbesserungsvorschläge für Praxis und Forschung (S. 209 ff.). Da viele Fehlentscheidungen auf fehlerhaften oder fehlenden Beweisen noch aus dem Ermittlungsverfahren beruhten, sei hier anzusetzen und die Mechanismen und Risikofaktoren für Fehlentscheidungen in der polizeilichen Aus- und Fortbildung in den Blick zu nehmen. Da die Ergebnisse gerade in Bezug auf Strafbefehlsverfahren darauf hindeuteten, dass psychische Erkrankungen im Ermittlungsverfahren – jedenfalls bei Kleinkriminalität – unerkannt bleiben, sind auch hier Polizeibeamte zu schulen. Auch in der juristischen Ausbildung seien verstärkt psychologische und kriminaltechnische Erkenntnisse in den Fokus zu rücken.

Daneben plädiert die Verfasserin für eine Qualitätssicherung des Strafverfahrens (S. 214 ff.). Dies beinhalte eine Qualitätssicherung forensischer Gutachten ebenso wie eine Schulung im Hinblick auf Vernehmungen und eine akribischere Protokollierung. Daneben sollten Reformen im Hinblick auf das Strafverfahren immer paritätisch sowohl Verbesserungen für die Position des Angeklagten als auch für das Opfer zur Folge haben. Auch das Entschädigungsrecht sollte vereinfacht und verbessert werden. Daneben wird kritisiert, dass es im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland an Institutionen fehlt, die sich auf die Aufdeckung von Fehlurteilen und Unterstützung Betroffener spezialisiert haben. Hier herrsche Nachholbedarf. Daneben begünstigten strukturelle Schwächen des Wiederaufnahmeverfahrens die Manifestierung von Fehlentscheidungen (S. 224 f.).

Die Dissertation von Dunkel ist ein weiterer Studienbaustein, um die Forschungslücke zu Wiederaufnahmeverfahren und Fehlurteilen zu schließen. Allerdings wurde deutlich, dass weiterer erheblicher Forschungsbedarf besteht. Insbesondere methodische Schwierigkeiten, institutionelle Hürden und rein praktische Herausforderungen in Bezug auf die Aktengewinnung sind deutlich geworden, sollten aber künftig Forschende nicht abschrecken, sondern vielmehr animieren, sich diesen vielfältigsten Herausforderungen zu stellen. Denn die Lücke, die klafft, ist groß, so dass noch eine Vielzahl an (empirischen) Studien erforderlich ist, um hier in Deutschland einen Forschungsstand zu erreichen, wie er in anderen Ländern schon längst selbstverständlich ist. Denn, so steht es auch in der Arbeit von Dunkel vorab in einem Zitat von Jean de La Bruyere: „Ein unschuldig Verurteilter ist die Angelegenheit aller anständigen Menschen“ (S. 13).

 

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