Einführung zu dem Sonderheft „Antisemitismus und Strafrecht“

 

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Nicht zuletzt die Zunahme antisemitischer Vorfälle seit den terroristischen Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat eindringlich gezeigt, dass Antisemitismus in Deutschland (nach wie vor oder wieder?) auf einen (lebens-)gefährlichen Nährboden trifft. Laut der Statistik des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes zu politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) wurden im gesamten Bundesgebiet für das Jahr 2023 5.164 von insgesamt 17.007 registrierten Straftaten im Bereich der sog. „Hasskriminalität“ als antisemitisch eingeordnet.[1] Das entspricht einem Zuwachs von 95,53 % im Vergleich zum Vorjahr (2022: 2.641).[2] Eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) aus dem Jahr 2021/2022[3] hat u.a. ergeben, dass 23 % (der Gesamtbevölkerung) meinen, „Jüd:innen hätten zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen“, 18 % (der Gesamtbevölkerung) „einen zu großen Einfluss von Jüd:innen in der Politik oder in den Medien sehen“ und 11 % (der Gesamtbevölkerung) „Jüd:innen für viele Wirtschaftskrisen verantwortlich“ machen.[4] In derselben Umfrage haben 60 % der Befragten angegeben, dass „Antisemitismus in Deutschland ein weit verbreitetes Phänomen sei“.[5] Diese Zahlen belegen einerseits eine gesellschaftliche Sensibilität für das bestehende Problem, andererseits aber auch erschreckende Vorbehalte der deutschen Bevölkerung gegenüber jüdischen Personen. Doch was ist Antisemitismus eigentlich genau? Gibt es DEN Antisemitismus überhaupt? Wo liegen die Wurzeln für diese Ausprägung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und welche Erscheinungsformen gilt es zu differenzieren? Welche Straftatbestände sieht unser geltendes Strafgesetzbuch für die Ahndung antisemitischer Straftaten vor? Sind diese ausreichend oder bedarf es insoweit einer Erweiterung? Vor welchen Herausforderungen stehen Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung antisemitischer Straftaten? Diesen und weiteren einschlägigen Fragen mit Studierenden aller Fachrichtungen interdisziplinär auf den Grund zu gehen und auf diese Weise das Problembewusstsein zu schärfen, war das Anliegen einer von mir an der Universität zu Köln im Wintersemester 2023/24 sowie Sommersemester 2024 durchgeführten Ringvorlesung zu dem Thema „Antisemitismus und Strafrecht“. Für die Förderung der Vorlesungsreihe durch den Diversity-Projekt-Fonds der Universität zu Köln, den Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft der Universität zu Köln und die Regionalgruppe Köln des Alumnivereins der Studienstiftung e.V. bedanke ich mich ganz herzlich.

Die Vorlesungen im ersten Semester dienten dazu, sich dem Begriff „Antisemitismus“ interdisziplinär zu nähern. Dabei wurden der Begriff sowie diverse Erscheinungsformen und Entwicklungen des Antisemitismus aus unterschiedlichen Disziplinen beleuchtet. Im Rahmen der Auftaktveranstaltung präsentierte Herr Abraham Lehrer als Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland in einem Gespräch seine Perspektive auf Antisemitismus. Es folgten Vorlesungseinheiten zu folgenden Themen: „Geschichte des Antisemitismus in Deutschland nach 1945“ (Prof. Dr. Uffa Jensen), „Antisemitismus: Bestimmung und Abgrenzung“ (Dr. Nikolas Lelle), „Institutionalisierter Antisemitismus: Die Rolle der Justiz zu Zeiten des Nationalsozialismus“ (Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Heger), „Fritz Bauer und der Kampf gegen die Verdrängung: Aufarbeitung des NS-Unrechts in der BRD“ (Dr. Ronen Steinke), „Israelbezogener Antisemitismus in Deutschland aus den Perspektiven der Betroffenen“ (Prof. Dr. Julia Bernstein) sowie „Institutioneller Umgang mit Antisemitismus in Deutschland“ (Daniel Poensgen).

Aufbauend auf diesem Fundament rückten die Vorlesungen im Sommersemester 2024 den strafrechtlichen Umgang mit Antisemitismus in den Fokus. Insbesondere wurde erörtert, ob gesetzliche Anpassungen erforderlich sind und welche Schwierigkeiten und Herausforderungen sich bei der Verfolgung antisemitisch motivierter Straftaten stellen. Zu Beginn wurden von mir drei Einheiten zu den zentralen normativen Grundlagen der strafrechtlichen Erfassung von Antisemitismus (§§ 46; 185 ff., 192a; 130; 212 Abs. 1, 211 StGB) durchgeführt. Es folgten eine Einheit zu „Problemfällen bei der Strafverfolgung antisemitisch motivierter Straftaten“ (OStA Ulf Willuhn) sowie eine Einheit, in der das Forschungsprojekt „ASJust – Antisemitismus als justizielle Herausforderung“ (Dr. Nina Keller-Kemmerer und Laura Schwarz) vorgestellt wurde. Zum Abschluss fand eine Podiumsdiskussion bezüglich des strafrechtlichen Reformbedarfs für eine effektivere Bekämpfung antisemitischer Straftaten unter Beteiligung von Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Heger sowie Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski statt.

Es freut mich sehr, dass uns mit dem vorliegenden Sonderheft die Möglichkeit gegeben wird, einzelne Ergebnisse der Ringvorlesung zu präsentierten sowie zur Diskussion zu stellen. Den Auftakt machen Frau Prof. Dr. Julia Bernstein und Herr Florian Diddens mit einem Beitrag zu dem Thema „Antisemitismus und Recht aus jüdischen Perspektiven“, der auf einer qualitativen Interviewstudie basiert. Im Anschluss bietet

Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Heger einen rechtshistorischen Überblick zu dem Thema „Institutionalisierter Antisemitismus: Die Rolle der Justiz zu Zeiten des Nationalsozialismus“. Es folgt ein Beitrag von Herrn Luis Göbel zu den empirischen Befunden hinsichtlich antisemitischer Straftaten bzw. Vorfälle in Deutschland. Abschließend präsentieren Frau Laura Schwarz und ich in eigenständigen Beiträgen unsere Perspektive auf die strafrechtliche Bewertung spezifischer Fallkonstellationen, die im Zusammenhang mit Antisemitismus und Strafrecht diskutiert werden.

Sollte dieses Sonderheft zu kriminalpolitischen Diskussionen über den strafrechtlichen Umgang mit Antisemitismus de lege lata sowie de lege ferenda beitragen, wäre das Anliegen der Ringvorlesung in besonderer Weise erfüllt. Denn eines steht nach hiesiger Einschätzung fest: Die Zunahme antisemitischer Tendenzen und Vorfälle in Deutschland und die in diesen zum Ausdruck kommende Missachtung der zentralen Wertung des Art. 3 GG bedürfen einer gesamtgesellschaftlichen Reaktion, um das Fundament unserer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung zu bewahren. Darüber, ob und falls ja, in welchem Umfang das Strafrecht seinen Teil dazu leisten kann bzw. sollte, lässt sich – wie die einzelnen Beiträge in diesem Heft belegen – ganz im Sinne einer liberalen Demokratie trefflich debattieren. Entscheidend ist und bleibt, dass wir als Gesellschaft auf der Suche nach Lösungskonzepten unterschiedliche Vorschläge sowie die für diese vorgebrachten Argumente angemessen würdigen und Debatten nicht vorschnell verkürzen.  Nur auf diese Weise können wir von dem großen Vorzug freiheitlich-demokratischer Staatsordnungen – der Ausgestaltung als „Marktplatz der Ideen“ – auch tatsächlich profitieren. In diesem Sinne wünsche ich der Leserschaft eine hoffentlich anregende Lektüre!

                                                                                                                                   Dr. Erik Weiss

 

[1]      Bundesministerium des Innern und für Heimat/Bundeskriminalamt, Bundesweite Fallzahlen 2023, Politisch motivierte Kriminalität (2024), 1 (11).
[2]      A.a.O.
[3]      American Jewish Committee, Antisemitismus in Deutschland 2022, 1 (1 ff.).
[4]      American Jewish Committee, Antisemitismus in Deutschland, 1 (15).
[5]      American Jewish Committee, Antisemitismus in Deutschland, 1 (6).

 

 

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