von Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Prittwitz
Abstract
Antisemitismus ist widerlich und menschenverachtend. Deutschland mit seiner Geschichte wendet sich zu Recht entschieden moralisch, politisch und auch rechtlich gegen alten und neuen Antisemitismus. Das Strafrecht spielt dabei durchaus eine wichtige Rolle. Denn Hetze und Beleidigung beschädigen und gefährden den (Rechts-) Frieden in der Gesellschaft. Speziell in der Gesellschaft sozialer Medien handelt es sich keinesfalls um Bagatellen. Andererseits stellt die Meinungsfreiheit eine konstitutive Bedingung freiheitlicher Demokratie dar. Deswegen muss die Rolle des Strafrechts eine bescheidene sein, wenn es um Beschränkungen der Meinungsfreiheit geht, und das gilt auch im Kontext von Antisemitismus. Antisemitische Hetze ist unerträglich! Wo sie strafrechtlich relevant ist, kann und soll sie de lege lata verfolgt und bestraft werden. Neukriminalisierungen sind dagegen (auch) in diesem Bereich weder notwendig noch sinnvoll.
Anti-Semitism is disgusting and inhuman. Germany, with its history, rightly takes a decisive moral, political and legal stance against old and new anti-Semitism. Criminal law certainly plays an important role in this. After all, hate speech and insults damage and endanger (legal) peace in society. Especially in the society of social media, this is by no means a trivial matter. On the other hand, freedom of expression is a constitutive condition of liberal democracy. For this reason, the role of criminal law though important must be a modest one when it comes to restrictions on freedom of expression, and this also applies in the context of anti-Semitism. Anti-Semitic incitement is intolerable! Where it is criminally relevant, it can and should be prosecuted and punished de lege lata. However, new criminalizations in this context are neither necessary nor meaningful.
I.
Frage: Können antisemitische[1] Äußerungen Gegenstand des Strafrechts sein? Man muss nicht nachdenken, um „Ja, natürlich!“ zu antworten. Frage: Sind antisemitische Äußerungen Gegenstand des Strafrechts? „Das kommt darauf an!“ dürfte die klassische Antwort von uns Jurist:innen sein. Die allein ernsthaft zu diskutierende und auch mit Nachdenken nicht leicht zu beantwortende Frage lautet: Sollen antisemitische Äußerungen vermehrt oder verstärkt Gegenstand des Strafrechts sein?
Diese Frage stellt sich für uns im Kriminalpolitischen Kreis nicht nur, aber auch wegen der zur Zeit[2] im Gesetzgebungsverfahren beratenen Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag[3] und des Landes NRW.[4] Und die Frage stellt sich auch nicht nur, aber auch wegen der Anschläge der Hamas im Oktober 2023, ebenfalls wegen der Reaktion Israels auf diese Anschläge und schließlich auch und vor allem wegen der Ausbreitung der seismischen Wellen dieses terroristisch-militärischen Erdbebens bis nach Deutschland.
Mögliche Antworten darauf sind im Kontext von vier (eigentlich fünf) Themenkreisen zu sehen: Es geht um (1) Ad hoc-(Straf-)Gesetzgebung; (2) Strafrecht als ultima ratio; (3) Symbolisches Strafrecht und (4/5) Meinungsfreiheit und Antisemitismus in Deutschland.
II.
Elisa Hoven und Michael Kubiciel haben im Juli-Heft von Goltdammer’s Archiv „vorgearbeitet“. Ich kann in vielerlei Hinsicht daran anschließen, weil es kaum ernsthafte Meinungsunterschiede gibt.
Elisa Hovens Fazit[5] ist nahezu uneingeschränkt zuzustimmen, namentlich in ihrem Hinweis auf die Risiken von ad-hoc-Gesetzgebung, in ihrer Kritik an den Vorschlägen zu den konkreten Reformvorschlägen zu § 130 StGB und auch in ihrem Vorschlag einer grundlegenden Überarbeitung dieser Vorschrift, aber auch in ihrer Ansicht, dass „antisemitische Hetze die Grenze zur zulässigen Meinungsäußerung“ bereits de lege lata überschreitet.[6]
Und auch an Michael Kubiciels Fazit[7] ist wenig auszusetzen: Ja, das Strafrecht kann den öffentlichen Frieden nicht garantieren, ebenso selbstverständlich können antisemitische Äußerungen nicht wegkriminalisiert werden. Und auch im Ergebnis stimme ich zu: Es ist keineswegs „per se unvernünftig oder illegitim“, alte oder neue „Strafbarkeitslücken“ zu schließen. Ich würde, weil der Begriff „Strafbarkeitslücken“ das Missverständnis erlaubt, das gesellschaftliche Leben sollte lückenlos unter der Kuratel des Strafrechts stehen,[8] es wohl anders nennen. Nachdrückliche Zustimmung verdient schließlich sein Appell, der Gesetzgeber möge im Kampf gegen den Antisemitismus keine neuen Straftatbestände schaffen, die mehr versprechen als sie halten können. Last not least: Wie Kubiciel bin ich dezidiert der Ansicht, dass die – im Zusammenhang mit dem Existenzrecht Israels immer wieder erwähnte – „Staatsräson“ Deutschlands definitiv der (Außen-) Politik überlassen bleiben sollte.
III.
Zu den soeben benannten fünf Themenbereichen kann ich in zwanzig Minuten nur Thesen vorschlagen und sie allenfalls plausibilisieren, aber nicht begründen. Dabei werde ich zwei Topoi nur mit wenigen Sätzen berühren: nämlich die Problematik der „ad hoc-Gesetzgebung“ und die Diskussion um den altehrwürdigen Satz, das Strafrecht sei „ultima ratio“ und müsse es auch bleiben. Dazu ist, erstens, schon seit langem Vieles und Zutreffendes gesagt und geschrieben worden, und zweitens erwarte ich bei diesen Themen keine großen Meinungsverschiedenheiten, zumal ich meine Thesen dazu sehr vorsichtig formuliere. Etwas ausführlicher werde ich mich mit Aspekten des „symbolischen Strafrechts“ befassen, um mich abschließend dem nicht zu beseitigenden Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Antisemitismus zuzuwenden.
1. Ad hoc-Gesetzgebung
Darf ein einzelnes Ereignis, darf eine dadurch provozierte Empörung der Öffentlichkeit den Gesetzgeber auf den Plan rufen? Wer hier zu schnell „Nein, keinesfalls!“ ruft, macht es sich zu leicht und riskiert, dass der demokratische Rechtsstaat in dramatischen Situationen als „lame duck“ erscheint. Wer andererseits immer wieder „Ja, natürlich!“ votiert, erweist dem demokratischen Rechtsstaat ebenfalls einen Bärendienst. Letztlich spricht nicht nur Vieles, sondern Alles dafür, extrem vorsichtig und sparsam mit ad-hoc-Gesetzgebung umzugehen, wenn man in Kauf nehmen will, die Autorität des Gesetzes (weiter) zu beschädigen. Das gilt auch für Neukriminalisierungsvorschläge bezüglich antisemitischer Äußerungen.
2. Ultima ratio-Grundsatz
Ähnlich kurz kann ich mich (leider) beim Thema „Strafrecht als ultima ratio“ halten. Denn den Sonntagsreden in Entscheidungen (z.B. des BVerfG) und in (vielen) Lehrbüchern steht ebenso wie den monographischen Anstrengungen, das Prinzip praxis- und problemorientiert zu konkretisieren,[9] eine Tradition des Gesetzgebers gegenüber, die von dem Grundsatz wenig übriglässt. Das bedeutet nicht, dass man diesen Grundsatz nicht mehr zitieren oder gar beschwören kann, vorzugswürdig erscheint im europäischen Verfassungsstaat, dass Gesetzgebung sich in der Grammatik des Verhältnismäßigkeitsprinzips rekonstruieren lassen muss.[10] Vorläufig ist festzuhalten, dass dieser Grundsatz, wenn man realistisch die aktuelle Wirksamkeit dieses Prinzips zugrunde legt, keine endgültige Antwort gibt. Die hier und heute zu erörternden Aspekte sind – wie immer, wenn es um Verhältnismäßigkeit geht – konkret. Und wenn es nicht nur um Meinungen geht, sind Argumente zu suchen. Dazu sogleich.
3. Symbolisches Strafrecht
An dem gut bekannten Diskurs über symbolisches Strafrecht ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Symbolisches Strafrecht ist per se weder illegitim, noch legitim. An Formulierungen Martin Führs anschließend,[11] aber auch auf eigene lang zurückliegende Beschäftigung mit dem symbolischen Strafrecht zurückgreifend,[12] ist zunächst zu unterscheiden zwischen zwei idealtypisch zu bezeichnenden Varianten symbolischer Politik (und auch Gesetzgebung):
Als tendenziell illegitim dürfte die Variante „Symbole statt Substanz“ zu bezeichnen sein, als potenziell legitim dagegen die Variante „Gesetzgebung mit Symbolen“. Nur potenziell, nicht tendenziell legitim scheint mir aber auch „Politik/Gesetzgebung mit Symbolen“ zu sein, weil solche nicht substantielle Gesetzgebung die Idee des durchsetzbaren und steuernden Rechts zu beschädigen droht.
Dabei bezeichne ich Gesetzgebung mit Symbolen als illegitim, wenn die beabsichtigten oder in Kauf genommenen (Kollateral-)Schäden der symbolischen Reaktion die positiven Aspekte eines Symbols überwiegen. Das kann der Fall sein,
- wenn die bloß symbolische Reaktion bewirkt, dass mögliche erfolgversprechende (substantielle) Reaktionen unterbleiben,
- aber auch, wenn durch die bloß symbolische Reaktion substantielle Schäden an anderen Rechtsgütern oder Rechten entstehen.
4. Antisemitismus und Meinungsfreiheit
Die drei Quellen für ernsthafte Argumente sind schnell benannt:
Es handelt sich zum einen um grundsätzliche verfassungsrechtliche Argumente für und gegen die Kriminalisierung von Äußerungen. Es handelt sich, zweitens, um empirisch-prognostische und in diesem Sinn kriminologische Argumente, die darum kreisen, was man sich von einer Kriminalisierung erhoffen kann, bzw. was man davon befürchten muss. Schließlich muss, da wir nicht allgemein über die Kriminalisierung von Meinungsäußerungen streiten, der – politische, historische und moralische – Diskurs über Antisemitismus in Deutschland im Votum Beachtung finden.
a) Meinungsfreiheit vs. strafbare Meinungen
Die uns heute beschäftigende konkrete Frage kann man natürlich nicht beantworten, ohne sie im Kontext von zwei allgemeineren Fragen zu sehen: Der nach Grund und Grenzen der verfassungsrechtlich verbürgten Meinungsfreiheit und der nach Grund und Grenzen der legitimen Kriminalisierung von Äußerungen.
Die Extrempositionen sind schnell benannt, Andeutungen müssen genügen:
Die meinungsfreiheitsfreundliche Extremposition kann unter Hinweis auf Art. 5 Abs. 1 GG – prima facie überzeugend – behaupten, Meinungsäußerungen seien frei, dürften also nicht verboten und erst recht nicht bei Strafe verboten werden. Dieses Postulat übersieht freilich zweierlei:
- Erstens – und auf der normativen Ebene – dass das Grundgesetz durch den Gesetzesvorbehalt in Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsfreiheit einschränkt und dabei zudem dem in Art. 5 Abs. 2 3. Alt. GG genannten Ehrenschutz als Grenze der Meinungsfreiheit eine besondere Bedeutung beimisst. Es gibt also – anders als in den USA –keine nahezu schrankenlose Meinungsfreiheit.
- Und zweitens würde eine solche Position übersehen, dass nicht jede Äußerung eine Meinungsäußerung darstellt, also keineswegs feststeht, dass jede Äußerung a priori in den Geltungsbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG fällt. Die Schwierigkeiten, welche die Unterscheidung zwischen Meinungs- und Tatsachenäußerungen bereitet, sind uns allen bekannt.
Ebenso wenig weiterführend erschiene freilich die entgegengesetzte Extremposition: Wenn man es unter Verweis auf die §§ 185 ff. und § 130 StGB kaum für nötig hält, sich mit Art. 5 Abs. 1 GG zu befassen, blendet man nonchalant die umfangreiche Judikatur auch und gerade des BVerfGzum Spannungsverhältnis zwischen freiheitseinschränkendem Strafrecht und verfassungsrechtlich garantierter Meinungsfreiheit aus.
Wichtig, im öffentlichen Diskurs über rechtliche Fragen aber oft nicht genügend beachtet, ist auch hier die Differenzierung, die idealtypisch ohne weiteres möglich ist, sich in der Praxis aber oft als schwierig erweist. Geht es, zum einen, um Äußerungen zwischen einzelnen Menschen oder in einem überschaubaren Kreis von Menschen oder geht es um öffentliche Äußerungen, namentlich um Äußerungen in (sozialen) Medien. Und andererseits: Betrifft der Gegenstand der Äußerung eher den Bereich des Persönlichen oder eher den des Politischen.
Traditionell hat die Meinungsfreiheit dort besonders hohes Gewicht, wo es um öffentliche Äußerungen geht, die im weitesten Sinn politisch sind. Das hat gute Gründe, wenn man ernst nimmt, dass die freie Meinungsäußerung eine wichtige, vielleicht zentrale entscheidende Säule der Demokratie ist.
Seit einiger Zeit gibt es aber ebenso gute Gründe, diese sehr weitgehende Freiheit der Meinungsäußerung wieder einzuhegen: Dass aus Worten Taten werden können, woran anlässlich vieler Terrorakte erinnert wird, ist kein neues Phänomen. Dass aber in der Mediengesellschaft und erst Recht in der „Social Media-Gesellschaft“ d.h. aus medial millionenfach verbreiteten Worten eine unvergleichlich größere Wahrscheinlichkeit erwächst, dass daraus Taten werden, erscheint mehr als plausibel und das ist ein neues Phänomen.
Das spricht aus meiner Sicht dafür, die Freiheit der Meinungsäußerung allgemein und wenn es um antisemitische Äußerungen geht, dort weniger stark zu gewichten, wo sie als „Hetze“ wahrgenommen werden kann. Und das nicht nur zur Wahrung des öffentlichen Friedens, sondern auch zum Schutz der höchstpersönlichen Rechtsgüter von betroffenen Menschen.
b) Wie wirkt die Kriminalisierung von Meinungsäußerungen
Wie stets ist, wenn man legitimes Strafrecht auch mit seinem präventiven Potential verbindet, die Frage nach Grund und Grenzen einer Kriminalisierung nicht zu trennen von der Frage, was man über die Wirkung der Kriminalisierung weiß, was man sich damit erhoffen darf und was man von ihr befürchten muss.
Die Sehnsucht nach Wissen ist groß, das Wissen eher überschaubar. Das gilt umso mehr, wenn es um Äußerungen geht. Überall dort, wo Äußerungen nicht anonym aus dem Netz kommen, scheint die Hoffnung auf einen sowohl generalpräventiven als auch spezialpräventiven Effekt nicht gänzlich unrealistisch. Einer Gesellschaft, deren Mantra in falsch verstandener Freiheitssehnsucht „Das wird man wohl noch sagen dürfen!“ lautet, darf und soll das Strafrecht klarstellen, dass man eben nicht Alles sagen darf.
Wenn die Verrohung der Sprache ein kaum zu bestreitendes Phänomen ist, und wenn daraus absehbar eine Verrohung von Verhalten entsteht, dann darf und muss der Gesetzgeber sich durch ein – auch strafrechtliches – Verbot solcher Sprache klar positionieren.
Forderungen nach Neukriminalisierungen ist aber entgegenzuhalten, dass es an dieser Positionierung keineswegs fehlt. Das Problem ist die Umsetzung. Äußerungsdelikte sind nicht immer, aber zunehmend Massendelikte, zudem oft Massendelikte, die – Stichwort: der identifizierungsfeindliche Raum des Internets, vom Darknet ganz zu schweigen – schwer aufklärbar sind.
c) Soll für antisemitische Äußerungen Spezifisches gelten
Soll das, was allgemein für und gegen die Kriminalisierung von Äußerungen gilt, auch für antisemitische Äußerungen gelten. Und sollen antisemitische Äußerungen darüber hinaus verstärkt kriminalisiert werden?
Ich fürchte, dass es eine wissenschaftlich begründete, evidenzbasierte Antwort darauf nicht gibt. Es geht um Einschätzungen und Wertungen. Mich persönlich bringt die Bitte um eine klare Haltung zu dieser Frage („Sollen antisemitische Äußerungen vermehrt und verstärkt Gegenstand des Strafrechts sein?“) in eine Verlegenheit, eine Schwierigkeit, fast möchte ich sagen, in ein Dilemma.
Denn einerseits empfinde ich jeglichen Antisemitismus (und erst Recht deutschen Antisemitismus) als unerwünscht, als widerlich, als menschenfeindlich und menschenverachtend. Ich persönlich kann Antisemitismus zudem – wenn ich ihn nicht von vorneherein im historischen Kontext denke – nicht einmal nachvollziehen. Andererseits bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Freiheit des Redens der Demokratie nicht nur heilig, sondern auch nützlich, ja für sie konstitutiv ist. Einschränkungen der Redefreiheit, alle Varianten der „Sprachpolizei“ haben viele eindrucksvolle Vorbilder, und in der Regel ist Sprachpolizei nutzlos (ineffektiv) und sogar schädlich.
Dem Dilemma ist nicht zu entkommen, wenn die Frage in einen historischen oder politischen (tagespolitischen) Kontext gestellt wird. Sollte die Ermordung der 6 Millionen Juden durch Deutsche im Nationalsozialismus antisemitische Äußerungen unaussprechbar machen? Ich antworte sofort mit „Ja, das soll genau so sein!“
Aber was ergibt sich daraus für die Frage, wie der Staat, wie der strafende Staat darauf reagieren soll, dass das Unaussprechliche ausgesprochen wird? Sollen sie deshalb quasi „automatisch“ Gegenstand des Strafrechts sein? Diese Frage kann man durchaus unterschiedlich beantworten, ohne selbst in den Verdacht antisemitischen Denkens zu kommen. Wir wissen aber alle, dass sich der Gesetzgeber in § 130 Abs. 3 StGB grundsätzlich für eine solche spezifische Kriminalisierung entschieden hat.
Und wenn wir heute (tages-)politisch aktuell fragen: Sollen antisemitische Äußerungen sich deswegen verbieten, weil es eine neue (aus verschiedenen Quellen sich speisende) Welle des Antisemitismus gibt, die Juden das Leben in Deutschland bedrohlich, schwierig oder gar unmöglich macht? Wiederum zögere ich keinen Moment mit meinem „Ja“; sie verbieten sich!
Und wieder muss man die Frage anschließen, ob, wenn das, was „sich verbietet“, gleichwohl geäußert wird, ob das bei Androhung von Strafe verboten sein soll, ob es also deswegen Gegenstand des Strafrechts sein oder verstärkt werden soll.
Je schwieriger die kriminalpolitischen Fragen werden, desto mehr gewinnt eine Vorfrage an Gewicht. Die Vorfrage nämlich, inwieweit antisemitische Äußerungen schon de lege lata Gegenstand des Strafrechts sind. Und diese Frage muss man im Kontext möglicher normativer
oder kriminalpolitischer Kritik diskutieren. Und wenn man zum Ergebnis kommt, dass bestimmte antisemitische Äußerungen de lege lata legitimerweise Gegenstand des Strafrechts sind, stellt sich auf soliderem Fundament die Frage, ob es weiterer Kriminalisierung bedarf und ob sie verfassungsrechtlich unbedenklich wäre. Und auch diese Frage kann man seriös nicht beantworten, bevor geklärt ist, ob Defizite in der strafrechtlichen Verfolgung von antisemitischen Äußerungen auf Gesetzeslücken oder auf defizitärer Strafverfolgung beruhen.
IV. Fazit
Ich meine, wenn ich es richtig sehe mit Elisa Hoven und mit Michael Kubiciel, dass unerträgliche antisemitische Äußerungen bereits de lege lata legitimerweise, aber auch ausreichend kriminalisiert sind. Zu fordern ist aber eine überzeugendere Umsetzung der lex lata.
Eine darüberhinausgehende Kriminalisierung gerade wegen des antisemitischen Inhalts der Äußerung wäre eher Symbol statt Gesetzgebung; daher halte ich sie weder für nötig noch für zielführend. Antisemitismus lässt sich, wie Michel Kubiciel vollkommen zu Recht sagt, nicht wegkriminalisieren.
[1] Auf die Diskussion über einen treffenden – nicht zu engen, nicht zu weiten – Begriff des Antisemitismus kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden – Wenig überzeugend und für das Strafrecht schlicht ungeeignet erscheint die Definition der IHRA „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ (https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus). Leider hat sich auch der Bundestag darauf bezogen (BT-Drs. 19/10191 und zuletzt BT-Drs. 20/14703). Vorzugswürdig erschein eine kürzere und eindeutigere Definition wie z.B. „Antisemitisch motiviert sind Worte und Taten, die sich gegen Jüdinnen und Juden oder gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen gerade wegen ihrer Eigenschaft als jüdische Person oder Institution wenden.“
[2] Der Vortrag wurde vor dem Bruch der Ampelkoalition gehalten.
[3] BT-Drs. 20/9310.
[4] BR-Drs. 449/23; dem Bundestag als Gesetzentwurf zugeleitet als BT-Drs. 20/9646.
[5] Hoven, GA 2024, 383 (402).
[6] Hoven, GA, 2024, 383, (403).
[7] Kubiciel, GA 2024, 403 (416).
[8] Kritisch zum Begriff „Strafbarkeitslücken“ und zum verfassungswidrigen Ideal lückenlosen Strafrechts: Vormbaum, JZ 1999, 613 ff.
[9] Vgl. vor allem die Dissertation von Trendelenburg, Ultima ratio? Subsidiaritätswissenschaftliche Antworten am Beispiel der Strafbarkeit von Insiderhandel und Firmenbestattungen, 2011.
[10] Vgl. das Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik der European Criminal Policy Initiative, ZIS 2009, 697 ff., einer Arbeitsgruppe von Kriminalwissenschaftler:innen aus (seinerzeit) 10 europäischen Staaten, online abrufbar unter: https://www.zis-online.com/dat/artikel/2009_12_382.pdf (zuletzt abgerufen am 7.1.2025).
[11] Führ, KritV 86 (2003), 5 ff.
[12] Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 253-260.