Zu den Kommentaren springen

Furcht vor der Freiheit? Grundrechtshemmende Chilling-Effekte im Versammlungsrecht am Beispiel des Landfriedensbruchs

von Prof. Dr. Jochen Bung

Beitrag als PDF Version 

Abstract
Der vorliegende Beitrag hat drei Teile: Er beginnt mit einer allgemeinen Betrachtung der ermöglichenden und hemmenden Bedingungen von Freiheit und zwar im Hinblick auf die für liberale und demokratische Gesellschaften konstitutiven Freiheiten der Meinungsäußerung und der Versammlung (I.) Sodann rekonstruiert er das in der US-amerikanischen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zum ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten entwickelte und zunehmend auch anderenorts verwendete Argument der chilling effects aus sozialpsychologischer Perspektive (II.). Schließlich macht er den diesem Argument zugrunde liegenden Zusammenhang von Unbestimmtheit, Unsicherheit und Hemmung am Tatbestand des Landfriedensbruchs deutlich, wobei der Tatbestand zunächst in seiner geltenden Fassung und dann im Lichte neuerer Reformvorschläge betrachtet wird (III.).

This article has three sections: It begins with a general consideration of the enabling and inhibiting conditions of liberty, with regard to the freedoms of expression and assembly that are constitutive of liberal and democratic societies (I.) It then reconstructs the chilling effects argument, developed in US constitutional jurisprudence on the First Amendment to the United States Constitution and increasingly used elsewhere, from a social psychological perspective (II.). Finally, it illustrates the connection between indeterminacy, uncertainty and inhibition underlying this argument by examining section 125 of the German Criminal Code (Landfriedenbruch – breach of the peace), first in its current version and then with regard to more recent reform proposals (III.).

I. Die Verfassung der Freiheit

Dass die Befreiung die wahre Form der Freiheit ist, wie Christoph Menke eindrucksvoll entwickelt hat[1], ist leicht einzusehen, weil sie gerade kein Zustand ist, sondern eine Bewegung, individuell oder kollektiv – als Schritt zur Selbstbefreiung oder als kollektiver Schritt, als Befreiungsbewegung. Diese Befreiungsbewegungen sind ein elementarer politischer Faktor, ohne denen es keine Freiheit geben kann. Ohne die Revolutionen des 18. Jahrhunderts hätten sich freiheitliche Verfassungen nicht herausbilden können. Je mehr sie aber zum verfassten Zustand werden, desto mehr droht der beschriebene Effekt einzutreten: dass die Voraussetzungen der Freiheit sich gegen die Freiheit selbst wenden und die für jede Freiheit konstitutive Dynamik der Befreiung verloren geht. In autoritären Systemen ist der Mechanismus ganz offenkundig. Autoritäre Systeme sind Angstverfassungen. Sie legitimieren sich über die Verwandlung der Angst, die wir voreinander haben, zu einer Angst vor der Autorität, die das Schutzversprechen gibt: Schutz und Gehorsam.

Wir müssen aber nicht zu autoritären oder totalitären Systemen gehen, um den Mechanismus von Angst und Freiheit zu begreifen. Daran hat Judith N. Shklar in ihrer Verteidigung des Liberalismus in The Liberalism of Fear erinnert.[2] Auch liberale und demokratische Verfassungen sind immer in Gefahr, den Freiheitsgebrauch, den sie eigentlich ermöglichen wollen, zu unterbinden, indem sie bei der Erhaltung des eigenen Zustands zu sehr auf jenen Mechanismus des „psychologischen Zwangs“ setzen, den Feuerbach beschrieben hat: dass man aus Angst vor repressiven staatlichen Reaktionen etwas zu tun unterlässt. Das ist notwendig im Recht angelegt. „A minimal level of fear is implied in any system of law“[3]. Aber man kann damit auch übertreiben, dann führt der psychologische Zwang zu einer übermäßigen Hemmung des Freiheitsgebrauchs, was nicht nur nicht im individuellen, sondern auch nicht im allgemeinen Interesse ist. Nicht, dass das eine oder andere unterlassen wird, ist das Problem, sondern dass die übermäßige Hemmung der Freiheit zu jener „Flucht ins Konformistische“ führt, wie sie Erich Fromm in seiner Schrift über die Furcht vor der Freiheit als einen typischen Fluchtmechanismus beschrieben hat.[4]

Liberale und demokratische Gesellschaften müssen wissen, dass sie nicht nur Freiheit ermöglichen sollen, sondern dass der Freiheitsgebrauch derer, die sie ursprünglich konstituieren auch der Lebensnerv des eigenen Organismus ist, dass der permanente Gebrauch der Freiheit zugleich seine Ermöglichung ermöglicht. Dieser konstitutive Freiheitsgebrauch ist – historisch signifikant – im ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten thematisiert, der Gesetze verbietet, die die Redefreiheit, die Religionsfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht einschränken. Vor allem die Redefreiheit und die Versammlungsfreiheit sind für die politische Freiheit konstitutiv, durch sie wird die Verfassung der Freiheit überhaupt ermöglicht, sie sind ihr Ursprung.[5] Deswegen ist es gerade im verfassten Zustand richtig, sie möglichst frei zu lassen, gerade auch um den Preis, dass die Formen und Inhalte der Artikulation ein Ärgernis sind. Hegel schreibt:

„Die öffentliche Meinung enthält […] in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt […] sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit. – Zugleich […] tritt die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung ein. […] Die öffentliche Meinung verdient daher ebenso geachtet als verachtet zu werden“[6].

Hegel beschreibt die „Ausschweifungen“ dieser Freiheit, „die Befriedigung jenes prickenden Triebes, seine Meinung zu sagen und gesagt zu haben“[7]. Er verachtet es, aber er weiß, dass eine rechtliche Regulierung kaum möglich ist, vor allem nicht im Strafrecht, weil die Regelungsgegenstände, die Äußerungen, derart sind, dass die „Unbestimmbarkeit des Stoffes und der Form […] die Gesetze darüber diejenige Bestimmtheit nicht erreichen [lässt], welche vom Gesetz gefordert wird, und […] das Urteil, indem Vergehen, Unrecht, Verletzung hier die besonderste subjektivste Gestalt haben, gleichfalls zu einer ganz subjektiven Entscheidung [macht]“[8]. Unbestimmtheit der Normen und Unberechenbarkeit der Rechtsprechung – das deutsche Beleidigungsstrafrecht liefert genug Anschauungsmaterial. In erster Linie geht es aber gar nicht um die technischen Schwierigkeiten einer rechtlichen Regulierung, sondern darum zu erkennen, dass die ungeregelte Artikulation zu den Ermöglichungsbedingungen unserer Verfassung gehört und dass Dummheit und Frechheit deswegen als notwendige Begleiterscheinungen dieser Artikulationsfreiheit in Kauf genommen werden müssen.

Wenn es aber nicht lediglich um verbale Artikulation geht, sondern darum, dass die Äußernden sich zusammentun, im öffentlichen Raum versammeln, auf Straßen, Plätzen oder an anderen Orten, wenn der politische Faktor des Körpers, mehrerer vereinter Körper ins Spiel kommt, wie ist es dann? Dass eine Versammlung „Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“ ist, wie das BVerfG sagt[9], unterschlägt ein wenig, dass diese Entfaltung auch in erheblicher, weil kollektiver körperlicher Kraftentfaltung liegen kann. Ist es dann immer noch richtig zu sagen, dass alles möglichst unreguliert bleiben soll? Das ist keine einfache Frage. Die Versammlungsfreiheit soll, so hat es das BVerfG einmal ausgedrückt, „ein Stück ursprünglicher ungebändigter unmittelbarer Demokratie“[10] gewährleisten. Wer sich aber einmal selbst in einer größeren Menschenmenge aufgehalten hat – nicht einmal notwendigerweise einer politisch motivierten Menge – weiß vielleicht, welche unberechenbaren Dynamiken hier entstehen können. Gute Gründe sprechen dafür, dieser Menge eine Form zu geben, die sie zugleich berechenbarer und zurechnungsfähiger macht, eine Organisationsform, die nicht die Formbindung anderer Organisationen hat, aber doch bestimmte Gemeinsamkeiten aufweist, Autorisierung der Versammlung und Autorisierung von Personen, die in besonderer Weise verantwortlich sind (Versammlungsleitung). Gleichwohl kann der freiheitliche Zustand einer Verfassung vor allem daran bemessen werden, dass auch „Spontanversammlungen“ – ohne Anmeldung und Leitung – zulässig sind, so dass Planung und Organisation (jedenfalls nach unserem Verfassungsverständnis) „keine begriffsnotwendigen Elemente einer Versammlung [sind]“[11].

Diese „irregular systems“, wie sie Thomas Hobbes nannte, bloßes Zusammenströmen von Menschen, machen der Obrigkeit Angst, deswegen mag es, wie der Verfasser des Leviathan an einer Stelle schreibt, rechtlich in Ordnung sein, wenn sich tausend Menschen einer Petition anschließen, aber wenn sich diese Tausend zusammenfinden, um die Petition zu überreichen, dann wird aus der Versammlung ein Aufruhr.[12] Sie wird ungesetzlich (unlawful), wenn die Anzahl der Versammelten so groß ist, dass sie von den anwesenden Polizeikräften nicht mehr bezwungen werden kann. Wir sehen, das Recht ist hier völlig abwesend, es geht um reine Sicherheitstechnik.

Vermag die Menge als „formlose Masse“[13] den Staat einzuschüchtern, kann dieser seine Angst dadurch abwehren, dass er seinerseits einschüchternd auf die einwirkt, die sich versammelt haben. Die Mittel der Einschüchterung sind vielfältig. Bereits die Beobachtung und Dokumentation der Versammlung kann abschreckende Wirkung entfalten. Vor allem dann, wenn sie mit dem Mechanismus des psychologischen Zwangs gekoppelt ist, der Angst vor Strafe. Im Gegensatz zu Feuerbachs Theorie aber, der meinte, der psychologische Zwang funktioniere umso besser, je bestimmter die Straftatbestände seien, spricht vieles dafür, vom Gegenteil ausgehen: Je unbestimmter das strafrechtliche Risiko, desto effektiver der Mechanismus des psychologischen Zwangs. Unbestimmtheit erzeugt Unsicherheit, Unsicherheit erzeugt Angst und Angst erzeugt Hemmung.

II. Chilling effects?

Lässt sich diese Annahme empirisch bestätigen? Selbstverständlich ist anzunehmen, dass Individuen unterschiedlich reagieren, aber es gibt Untersuchungen, die da-
für sprechen, dass es den beschriebenen Zusammenhang tatsächlich gibt. Die Studie von Gregory White und Philip Zimbardo über „Chilling effects of surveillance“ aus dem Jahr 1975 ist hier von besonderem Interesse.[14] Die Studie greift den Begriff der chilling effects auf, der in den 1970er-Jahren bereits als anerkannter Argumentationstopos vor allem in der US-amerikanischen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung verwendet wird und versucht experimentell herauszufinden, ob das Argument stimmt, das ihm zugrunde liegt. Erstmals in einer Entscheidung des Supreme Court von 1952 verwendet[15], findet der Begriff der chilling effects Eingang in die US-amerikanische verfassungsrechtliche Rechtsprechung der 1960er-Jahre bis heute. Die Literatur ist sehr umfangreich, auch außerhalb der US-amerikanischen Rechtsprechung wird der Begriff aufgegriffen und auch in der deutschen Diskussion taucht er zunehmend auf.[16]

Was besagt der Begriff? Es gibt sozialwissenschaftliche Einwände, die geltend machen, die Tragweite des Konzepts komme in der herkömmlichen juristischen Diskussion nicht zum Ausdruck.[17] Das mag sein, doch hat diese den Begriff hervorgebracht und bestimmt seinen Gehalt bis heute maßgeblich. Nach diesem Verständnis bezieht sich die „chilling effect doctrine“ vor allem auf „first amendment cases“[18], das heißt, es geht um die Rede- und Versammlungsfreiheit, den „chilling effect on free speech and assembly“[19], um den einschüchternden und hemmenden Effekt (das englische Wort „chilling“ ist nicht so einfach zu übersetzen, vor allem nicht die metaphorischen Verwendungen[20]), der durch die Angst vor staatlicher Beobachtung und Repression bewirkt wird und sich darin auswirkt, dass elementare Freiheitsrechte nicht wahrgenommen werden.[21]Das ist auch das Verständnis, von dem die Studie von White und Zimbardo ausgeht:

„Government surveillance of political rallies, demonstrations, and assemblies may have a particularly chilling effect on the citizenʾs First amendment right to free assembly and free speech. […] Does knowledge of potential surveillance inhibit a citizen from attending lawful rallies? […] If people are inhibited by surveillance, the First Amendment has been at least psychologically breached.”[22]‘

Zwei mögliche Antworten gibt es auf die Frage, ob die Auswirkungen des Bewusstseins möglicher staatlicher Beobachtung und Sanktionierung derart sind, dass in dem beschriebenen Sinne von einem chilling effect gesprochen werden kann. Auf psychologische Begriffe gebracht, lauten die Antworten Deindividuation und Reaktanz (so auch der Untertitel der Studie von White und Zimbardo). Die Deindividuations-Hypothese besagt, dass sich Individuen in einem aversiven Umfeld (aversive environment) „deindividuieren“, also sich zurücknehmen, darauf achten, nicht aufzufallen, die Anonymität suchen und sich konformistisch und defensiv verhalten.[23] Während diese Hypothese die Chilling-effects-Doktrin stützt, widerspricht ihr die Reaktanz-Hypothese. Ihr zufolge löst das Bewusstsein von der Invasivität des Staates offensive und trotzige Reaktionen aus, die Demonstrierenden fühlen sich dadurch gerade herausgefordert, ihre Freiheit noch nachdrücklicher in Anspruch zu nehmen, jetzt erst recht, bis hin zu Angriffen auf Akteure der Überwachung und staatlichen Repression.[24]

White und Zimbardo beobachten, wenig verwunderlich, dass es in den betroffenen Individuen zu einer „clash of motivations“ kommt: „The person is motivated to both maintain the deindividuation and to exercise the valued behaviours“[25]. Die Autoren der Studie formulieren ihre Schlussfolgerungen vorsichtig. Im Ergebnis, meinen sie, stütze ihr Experiment[26] die Deindividuations-Hypothese, wenngleich „interessante Komplikationen“[27] zu verzeichnen seien, die es erfordern, so die Autoren am Ende, dass der Zusammenhang weiter erforscht wird. Zwar ist Hemmung das überwiegende Verhaltensprogramm unter aversiven Bedingungen und diese impliziere nicht immer Reaktanz[28], doch sei die Deindividuation mit einer Vertiefung negativer Einstellungen gegen die staatliche Autorität („increased disrespect for the government“[29]) verbunden. White und Zimbardo halten als (vorläufiges) Ergebnis fest: „Our research design did not allow for the easy possibility of avoiding “assembly”, but we would expect that the anxiety generated by threat of surveillance would cause many people to totally avoid situations that are assumed to be under surveillance.”[30]

Prinzipiell gibt es unzählige Situationen dieser Art. Dass das Bewusstsein möglicher Beobachtung das Verhalten verändert, ist die Grundidee von Michel Foucaults bekannter Schrift Überwachen und Strafen, die Jeremy Benthams Panoptikon weiterdenkt. Der entscheidende Punkt ist: Es muss überhaupt niemand tatsächlich beobachten, allein die Möglichkeit reicht aus, um die Individuen zu disziplinieren, sie dazu zu bringen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, bestimmte Dinge nicht zu tun.[31] Es ist nicht nur die Gewissheit, sondern gerade und vor allem die Ungewissheit, die den chilling effect bewirkt. Und ein besonders effektives Mittel, um diese Ungewissheit zu erzeugen, ist ein unberechenbares Strafrecht, d.h. in dem hier uns insbesondere interessierenden Feld: ein unbestimmtes Demonstrationsstrafrecht. Damit bin ich beim letzten Punkt meiner Ausführungen angekommen: dem Tatbestand des Landfriedenbruchs.

III. Das Problem des Landfriedensbruchs

Diesen Punkt will ich in zwei Unterabschnitten behandeln, zum einen im Hinblick auf den Tatbestand des Landfriedensbruchs in seiner geltenden Fassung und dann im Hinblick auf aktuelle Vorschläge zur Reform des § 125 StGB. Dabei beanspruche ich keine Originalität. Zur Problematik des geltenden § 125 StGB hat Alexander Heinze vor nicht allzu langer Zeit eine sehr gute Analyse vorgelegt[32] und zur Problematik der Reformvorschläge in Gestalt des von der Unionsfraktion im Bundestag als Reaktion auf propalästinensische Proteste und Kundgebungen im Gefolge des terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 eingebrachten „Entwurf[s] eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs zur Bekämpfung von Antisemitismus, Terror, Hass und Hetze“[33] liegt ein überzeugendes Gutachten von Elisa Hoven vor.[34]

1. Der Landfriedenbruch in seiner geltenden Fassung

Der Tatbestand des Landfriedensbruchs in seiner geltenden Fassung geht auf das 3. Strafrechtsreformgesetz vom 20.5.1970 zurück, die letzte Änderung erfolgte durch Gesetz vom 23.4.2017.[35] Ich würde nicht so weit gehen wie Alexander Heinze, der in Bezug auf § 125 StGB von einem „Tathandlungsbrei“[36] spricht, aber dass es um eine Vorschrift geht, die im Lichte des Bestimmtheitsgebots und der Normenklarheit Fragen aufwirft, kann man schnell einsehen. Nach § 125 Abs. 1 Var. 1 und 2 StGB macht sich strafbar, wer sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohungen von Menschen

mit einer Gewalttätigkeit beteiligt, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden. Problematisch ist vor allem, dass bereits das geschlossene Vorrücken einer Menge als konkludente Bedrohung erachtet wird[37], was regelmäßig auch auf friedliche Gruppen angewendet werden kann, die ja – gerade wenn sie keine Blockade bezwecken – nicht als statische Gebilde ins Werk gesetzt werden, sondern sich bewegen und zwar typischerweise geschlossen und in eine Richtung, häufig mit einem Ziel. Da die Voraussetzung der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nach herrschender Auffassung auch die Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls unbestimmt vieler Menschen umfasst[38], tut sich die Möglichkeit auf, eine dieses Gefühl beeinträchtigende Menschenmenge als Bedrohung im Sinne des § 125 StGB anzusehen. Dadurch, so die Kritik von Heinze, „[a]vanciert der Landfriedensbruch zu einer Art Generalklausel für ein bedrohtes Sicherheitsgefühl“ und berge die „Gefahr politischer Instrumentalisierung“[39].

Den steigenden Fallzahlen der Kriminalstatistik sowie dem Umstand, dass die meisten Verfahren wegen Landfriedensbruchs mangels hinreichenden Tatverdachts wieder eingestellt werden, lässt sich entnehmen, dass das flexible Instrument des § 125 StGB gerne eingesetzt wird, um Strafverfahren zunächst einmal überhaupt einzuleiten, „der Landfriedensbruch“, so Heinze, „ist in diesen Fällen der unspektakuläre und einfache Eröffnungszug der Strafverfolgungsbehörden“[40], die hoffen, über die Ermittlungen weitere Tatvorwürfe konkretisieren zu können. Dass eine solche Instrumentalisierung einer Strafvorschrift hemmende Effekte auf den Freiheitsgebrauch hat, ist nicht fernliegend. Dass § 125 StGB zunehmend diese Funktion zukommt, lässt sich unter dem Gesichtspunkt staatlicher Sicherheitsinteressen gut nachvollziehen, denn unter den heutigen Bedingungen kommunikativer Vernetzung ist die Mobilisierung von Menschenmengen jederzeit und ohne großen Aufwand möglich. „In diese Asymmetrie stößt der Tatbestand des Landfriedenbruchs“, argumentiert Heinze plausibel.[41] Da die Grenze zwischen erlaubtem wütendem Protest und tatbestandsmäßiger Bedrohung kaum zu ziehen ist, ist die Sorge, die Teilnahme an einer Demonstration könnte womöglich strafrechtliche Konsequenzen haben, nicht aus der Luft gegriffen und kann zu chilling effects führen, die einen unverhältnismäßigen und damit verfassungswidrigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit und damit einen Verstoß gegen Art. 8 GG darstellen können.

2. Verschärfung des Landfriedensbruchs?

Ist schon die geltende Vorschrift des § 125 StGB wegen ihrer Interpretationsoffenheit problematisch, aber – bei hinreichender Sensibilisierung für die grundrechtliche Dimension – durch restriktive Auslegung beherrschbar[42], wirft die Fassung der Vorschrift, wie sie in dem jüngst vorgelegten Entwurf vorgeschlagen wird, erhebliche Bedenken auf. Die Änderung des § 125 StGB durch das 3. Strafrechtsreformgesetz 1970 hat dazu geführt, dass ein bloßes „inaktives Dabeisein“ in der Menschenmenge nicht (mehr) ausreicht.[43] Aus rechtsstaatlicher Sicht ist das von großer Bedeutung. Ähnlich wie bei dem allgemeinen Zurechnungsproblem psychischer Beihilfe durch bloße Anwesenheit, geht es schlicht zu weit, eine solche Form der Beteiligung, die eigentlich eine Nichtbeteiligung ist, zu kriminalisieren. Zwar soll es nach zum Teil vertretener Auffassung schon nach geltendem Recht genügen, dass der Täter deutlich macht, dass er die feindliche Stimmung und die Aktivitäten der Menschenmenge billigt und sich damit solidarisiert.[44] Das ist nicht unproblematisch, es wird aber immerhin noch eine Billigung durch aktives Tun verlangt.[45] In der Fassung des Entwurfs würde selbst von diesem Minimalerfordernis einer Aktivität abgesehen und damit die Möglichkeit, „inaktives Dabeisein“ zu erfassen, unbeschränkt eröffnet.

Der Entwurf möchte zur „Schließung der Schutzlücken beim Landfriedensbruch“[46] in § 125 StGB eine neue Tatvariante einführen, die in einem völlig neuen zweiten Absatz normiert sein soll, der derzeitige Abs. 2 soll zu Abs. 4 werden. § 125 Abs. 2 StGB-E soll wie folgt lauten: „Wer sich einer Menschenmenge, die die öffentliche Sicherheit bedroht, anschließt oder sich nicht unverzüglich aus ihr entfernt, obwohl aus der Menge mit vereinten Kräften Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit begangen werden und er dies erkennen kann, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Die Höchststrafe für Landfriedensbruch nach den in Abs. 1 normierten bisherigen Tatvarianten soll von drei auf fünf Jahre Freiheitsstrafe angehoben werden, zudem soll die Vorschrift klarstellen, dass die neuen Tatvarianten des § 125 Abs. 2 StGB-E nicht angewendet werden sollen „auf Personen, die in Ausübung dienstlicher oder beruflicher Pflichten handeln, es sei denn, dass sie das Verhalten der Menge unterstützen“, § 125 Abs. 3 StGB-E.

Neben einer aktiven Tatvariante – sich einer bedrohlichen Menge anschließen – normiert § 125 Abs. 2 StGB-E auch ein Unterlassen: sich nicht unverzüglich aus der bedrohlichen Menge entfernen. Vor allem die zweite Variante ist problematisch. Menschenmengen sind unübersichtlich, unberechenbar und dynamisch. Ab einer gewissen Größe ist es ausgeschlossen, dass ich als friedlich Teilnehmender jederzeit erkenne (was ich aber wegen des Unverzüglichkeitskriteriums für das Sich-Entfernen tun muss), dass die Menschenmenge, in der ich mich irgendwo befinde und die nicht bedrohlich war, als ich mich ihr angeschlossen hatte, jetzt auf einmal bedrohlich wird. Nach der Entwurfsfassung muss ich das auch gar nicht, weil mir im Zweifel ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann: Ich habe es nicht erkannt, aber ich hätte es – bei situationsangemessener Aufmerksamkeit – erkennen können.[47] Der Entwurf kriminalisiert also ein fahrlässiges Unterlassen und zwar – da eine konkrete Gefährlichkeit des Verhaltens nicht erforderlich ist – als abstrakte Gefährdung eines ziemlich abstrakten Rechtsguts. Wie Hoven in ihrer Analyse des Entwurfs feststellt, „kombiniert [der vorgeschlagene Tatbestand] damit drei Elemente, die für sich genommen bereits expansiv sind“[48] – in dieser Kumulation ein ziemlich ungutes Paket.

Zutreffend stellt Hoven fest, dass „[d]er geplante Straftatbestand […] zu erheblichen Strafbarkeitsrisiken [führt] – auch für Personen, die vollkommen friedlich an der Versammlung teilnehmen“[49], zudem entstünden Strafbarkeitsrisiken „auch für Personen, die keinen Bezug zur Versammlung aufweisen“[50] und sie nur mitverfolgen, sei es aus professionellen Gründen oder einfach aus Interesse, die berufsbezogene Klausel des § 125 Abs. 3 StGB-E ist in diesem Zusammenhang unzureichend. Dass der Entwurf mit den neuen Tatvarianten in unverhältnismäßiger Weise in die Versammlungsfreiheit eingreift, weil die Unkalkulierbarkeit ihrer Anwendung eine mittelbar freiheitshemmende Wirkung entfaltet, liegt in Anbetracht der potentiellen Kriminalisierung von Personen, die nichts anderes tun, als von ihren verfassungsrechtlichen Rechten Gebrauch zu machen, nahe. Der Missbrauch der Versammlungsfreiheit durch einzelne Teilnehmer kann nicht dazu führen, dass andere, die sich friedlich beteiligen, ihr Recht auf Versammlungsfreiheit verlieren[51], das ist erst dann der Fall, wenn wegen des insgesamt unfriedlichen Charakters der Versammlung dieselbe aufgelöst wird.[52] Da aber das Nichtentfernen nach Auflösung der Versammlung bereits als Ordnungswidrigkeit erfasst ist, ergibt sich auch insoweit ein Argument für die Verfassungswidrigkeit des Entwurfs.[53]

IV. Ausblick

Die Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut und sie gerät überall auf der Welt unter Druck[54] – wenn sie überhaupt gewährt oder mehr als nur dem Schein nach gewährt wird. Es lohnt sich, einmal den Blick über Deutschland hinaus zu werfen und sich anzusehen, wie es um die Versammlungsfreiheit in der Welt bestellt ist. Es ist nicht ermutigend. Und dabei ist es nicht nur die brutale Repression, die sie gefährdet. Fast gefährlicher ist ihre schleichende Aushöhlung, bei der sanftere Methoden zum Einsatz kommen, Umformulierungen des Gesetzes, veränderte Auslegungen, mittelbarer Zwang. Dessen Effekte, seine psychologischen Wirkungen im Blick zu behalten und das rechtsstaatliche Sensorium dafür zu sensibilisieren, sollte im Strafrecht immer die wichtigste Aufgabe sein.

 

*     Der Text ist die geringfügig überarbeitete Version eines Vortrags, der auf der Tagung des Krimimalpolitischen Kreises in München am 18.-19. Oktober 2024 („Strafrecht und Meinungsfreiheit“) gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde überwiegend beibehalten. Der Verfasser dankt Elisa Hoven und Thomas Weigend für die Anregung, das Argument der chilling effects im Kontext des Rahmenthemas genauer zu betrachten.

 

[1]      Menke, Theorie der Befreiung, 2022.
[2]      Shklar, in: Rosenbaum, Liberalism and the Moral Life, 1989, S. 21 (27 f.).
[3]      Shklar (Fn. 2), S. 29.
[4]      Fromm, Die Furcht vor der Freiheit [i.Orig. Escape from Freedom, 1941], 27. Aufl. (2022), S. 137 ff.
[5]      BVerfGE 62, 230 (247); BVerfGE 76, 196 (208 f.); BVerfGE 128, 226 (250, 266).
[6]      Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Bd. 7, 14. Aufl. (Reprint 2015), S. 483 ff. (§§ 317, 318).
[7]      Hegel (Rn. 6), S. 486 (§ 319).
[8]      Hegel (Rn. 6), S. 487 (§ 319).
[9]      BVerfGE 69, 315 (342 f.).
[10]    BVerfGE 69, 315, (346 f.); BVerfGE 104, 92 (104 f.).
[11]    Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl. (2024), Art. 8 Rn. 4.
[12]    Hobbes, Leviathan [1651], 2013, S. 496 ff. (2. Teil, Kap. XXII).
[13]    Hegel (Rn. 6), S. 473 (§ 303).
[14]    White/Zimbardo, The Chilling Effects of Surveillance: Deindividuation and Reactance, Mai 1975, online abrufbar unter: https://apps.dtic.mil/sti/citations/ADA013230 (zuletzt abgerufen am 19.12.2024).
[15]    Wieman v. Updegraff, 344 U.S. 183, 185 (1952). In seinem zustimmenden Sondervotum bekräftigte der Richter Felix Frankfurter die Mehrheitsmeinung (Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, das Bediensteten des Bundesstaats Oklahoma einen bestimmten Treueeid abverlangen sollte) damit, dass er im Hinblick auf die besondere Bedeutung von Lehrpersonen für die Demokratie argumentierte, die Einführung eines solchen Eides „has an […] tendency to chill that free play of the spirit which all teachers ought especially to cultivate and practice“; zum ursprünglichen Kontext und der weiteren Entwicklung näher Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung, 2016, S. 44 ff.
[16]    Nicht immer terminologisch identisch, aber in der Sache gleichbedeutend, vom „Abschreckungseffekt“ spricht etwa Staben, der sich auf den Ausdruck „chilling effects“ als „Abkühlungsmetapher“ bezieht, Staben (Fn. 15), S. 44, 45.
[17]    Penney, Minnesota Law Review 106 (2022), 1451 (1454 ff.).
[18]    Columbia Law Review Association, Columbia Law Review 69 (1969) 5, 808 (809).
[19]    Rissman, Minnesota Journal of Law & Inequality 27 (2009) 2, 413 ff.
[20]    In Jugendkulturen etwa ist das „Chillen“ etwas Positives, hier natürlich gerade nicht.
[21]    Rissman, Minnesota Journal of Law & Inequality 27 (2009) 2, 413 ff.; Penney, Minnesota Law Review 106 (2022), 1451 (1454).
[22]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 2 f.
[23]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 3 ff.
[24]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 5 f.
[25]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 21.
[26]    Zur Konzeption des Experiments White/Zimbardo (Fn. 14), S. 6 ff. Studierende wurden über ihre Ansichten zur Sanktionierung von Cannabis-Konsum befragt, zum Teil unter Hinweis auf den Umstand der Videoaufzeichnung der Gespräche und ihrer Weitergabe an die Behörden, zum Teil ohne einen solchen Hinweis.
[27]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 19.
[28]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 21.
[29]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 22.
[30]    White/Zimbardo (Fn. 14), S. 22.
[31]    Foucault, Überwachen und Strafen [1975], 1994, S. 256 ff.
[32]    Ausführlich Heinze, StV 2022, 535 ff. Zusammenfassend und zugespitzt Heinze, „Landfriedensbruch“ als politisches Etikett, LTO, 25.8.2022, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/Landfriedensbruch-politische-diskriminierung-reichstag (zuletzt abgerufen am 19.12.2024).
[33]    BT-Drs. 20/9310.
[34]    Hoven, Schriftliche Stellungnahme, Sachverständigenanhörung zu BT-Drs. 20/9310 – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs zur Bekämpfung von Antisemitismus, Terror, Hass und Hetze, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/985960/360167b9cdbffe9a65271f8d6d87cd71/Stellungnahme-Hoven.pdf(zuletzt abgerufen am 19.12.2024).
[35]    Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 125 Rn. 1.
[36]    Heinze, „Landfriedensbruch“ als politisches Etikett, LTO, 25.8.2022.
[37]    Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 125 Rn. 6; dazu krit. Heinze, StV 2022, 535 (536 f.).
[38]    OLG Karlsruhe, NJW 1979, 2415; Fischer, StGB, § 125 Rn. 9.
[39]    Heinze, „Landfriedensbruch“ als politisches Etikett, LTO, 25.8.2022.
[40]    Heinze, „Landfriedensbruch“ als politisches Etikett, LTO, 25.8.2022.
[41]    Heinze, „Landfriedensbruch“ als politisches Etikett, LTO, 25.8.2022.
[42]    Vor allem wäre hierfür wichtig, die Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls nicht ausreichen zu lassen sowie die Figur der konkludenten Bedrohung einzuschränken, darüber hinaus stärker zwischen den Beteiligungsformen zu differenzieren.
[43]    Fischer, StGB, § 125 Rn. 13a m.w.N.
[44]    OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2012, 273.
[45]    Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 125 Rn. 13a.
[46]    BT-Drs. 20/9310, S. 4.
[47]    Faktisch gibt es auch das offenkundige Problem, dass ich mich gar nicht entfernen kann, auch wenn ich es will.
[48]    Hoven (Rn. 34), S. 2.
[49]    Hoven (Rn. 34), S. 3.
[50]    Hoven (Rn. 34), S. 4.
[51]    BVerfGE 69, 315 (361); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 8 Rn. 10.
[52]    Hoven (Rn. 34), S. 6 m.w.N.
[53]    Hoven (Rn. 34), S. 6.
[54]    Exemplarisch etwa die Situation in Hong Kong, siehe von Mallinckrodt, Das leise Verschwinden der Freiheit, Tagesschau, 29.9.2024, online abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/hongkong-1324.html (zuletzt abgerufen am 19.12.2024).

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Durch Abschicken des Formulares wird dein Name, E-Mail-Adresse und eingegebene Text in der Datenbank gespeichert. Für weitere Informationen lesen Sie bitte unsere Datenschutzerklärung.

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen