Davina Theresa Stisser: Die Sicherungswahrung – de lege lata et de lege ferenda

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2019, Nomos, ISBN: 978-3-8487-5558-5, S. 314, Euro 82,00.

Über die „wohl härteste und umstrittenste Sanktion des deutschen Strafrechts“ (S. 19) ist schon viel geschrieben worden. Was aber die Dissertation von Stisser auszeichnet, ist die systematische historische Zusammenstellung von Gesetzgebung und gerichtlichen Entscheidungen sowie die ausführliche Erörterung des Urteils des BVerfG vom 4.5.2011, das schließlich zu einer bundesgesetzlichen aber auch ländergesetzlichen Neuorientierung führen musste. Dabei werden nicht nur die Änderungen nachgezeichnet, sondern auch de lege ferenda Vorschläge unterbreitet.

Der kurze geschichtliche Abriss beginnt in der Zeit vor 1933 und leitet recht schnell über in die Entscheidungen des EGMR, die das „Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“ erforderlich machten (S. 43) und auch zur Einführung des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter, kurz dem Therapieunterbringungsgesetz, führten (S. 45).

Der Fokus liegt dann auf einer Darstellung der Entscheidung des BVerfG vom 4.5.2011, ihrem Hintergrund aber auch dem Verhältnis der EMRK zum Grundgesetz bzw. der Rechtsprechung des EGMR zur deutschen, nationalen Rechtsprechung (S. 51 ff.). Es folgt eine verfassungsrechtliche Betrachtung, die sehr ausführlich das Abstandsgebot in den Blick nimmt (S. 57 ff.). Schließlich schildert die Verfasserin die Konsequenzen aus dem Urteil. Der Senat erklärte nämlich die geltenden Regelungen zur Sicherungsverwahrung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens aber bis zum 31.5.2013 unter bestimmten Voraussetzungen für weiterhin anwendbar. Dies lag darin begründet, dass eine Nichtigerklärung den Normen der Sicherungsverwahrung die Rechtsgrundlage entzogen hätte und sämtliche von der Maßregel Betroffene hätten entlassen werden müssen. Die würde „Gerichte, Verwaltung und Polizei vor kaum lösbare Probleme stellen“ (BVerfGE 128, 326 [405]). Auch durch diesen Aufschub waren Chaos und Aufregung groß.

Gleichwohl machte das BVerfG deutlich, dass die Sicherungsverwahrung eine Zukunft haben könne, wenn der Gesetzgeber für die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben Sorge trage. Neben der Wahrung des Abstandsgebots sei eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung Anordnungsvoraussetzung.

Daneben geht die Verfasserin der Verletzung des Vertrauensschutzgebotes nach und leitet Konsequenzen daraus ab (S. 87 ff.). Sehr ausführlich wird einer Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „psychischen Störung“ nachgegangen (S. 100 ff.). Stisser kommt zu dem Ergebnis, dass nicht nur aus verfassungsrechtlicher, sondern auch aus psychiatrisch-psychologischer und menschenrechtlicher Perspektive eine Quantifizierung nach Schweregraden auch bei der Auslegung der psychischen Störung im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes vorgenommen werden solle. Hierfür sprächen systematische Überlegungen im Vergleich mit anderen Gesetzen (S. 141 f.). Allerdings zeigt die Verfasserin grundsätzliche Bedenken und Probleme bei der Auslegung auf, so dass dem Gesetzgeber nur angeraten werden konnte, de lege ferenda auf ihn zu verzichten (S. 144).

Das BVerfG hat für die Übergangszeit dennoch ein kumulatives Vorliegen der hochgradigen Gefährlichkeit und der psychischen Störung verlangt. Es hat es aber nicht als seine Aufgabe angesehen, eine Definition des Begriffs psychisch Störung zu geben. Stattdessen habe es auf den gesetzgeberischen Willen zum Therapieunterbringungsgesetz verwiesen und somit Gericht und Gesetzgeber große Freiräume eröffnet (S. 145).

Im anschließenden Kapitel untersucht Stisser die gesetzgeberischen Reaktionen auf das Urteil des BVerfG. Zunächst stellt sie das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vor, das am 1.6.2013 in Kraft trat. Dezidiert gibt sie die Voraussetzungen des neu eingefügten § 66c StGB, dem Kernstück der Neuregelungen wieder, aber auch die Änderungen in §§ 67a, 67c, 67d und 67e StGB, §§ 7, 106 JGG u.a. werden vorgestellt (S. 155 ff.). Dabei spart die Verfasserin nicht mit Kritik; so wird bspw. bezweifelt, dass mit § 66c StGB tatsächlich eine Änderung in der Praxis erfolgen wird (S. 158, 162, 163) und die Therapieunterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz als „Etikettenschwindel“ bezeichnet (S. 218). Insgesamt werden die Schwächen der gesetzlichen Neuerungen auf argumentativ hohem Niveau aufgezeigt, so dass sich schon deshalb ein genauerer Blick in die Dissertation lohnt.

Danach folgen umfangreiche Ausführungen zu den Vollzugsgesetzen der Länder am Beispiel des Gesetzes über den Vollzug der Sicherungsverwahrung und zur Änderung weiterer Gesetze Schleswig-Holsteins (S. 219 ff.). Auch hier folgt Kritik an diversen Regelungen, bspw. das sich im Vergleich zu anderen Bundesländern in der Darstellung von Zweck und Inhalt der einzelnen therapeutischen Maßnahmen keine rechtliche Besserstellung der Sicherungsverwahrten in Schleswig-Holstein ergeben haben, die Bestimmungen vielmehr nur unnötigen Formalismus darstellten (S. 228). Auch bezweifelt die Verfasserin, dass ein erhöhtes Taschengeld tatsächlich die beste Lösung ist, um dem Anreizsystem gerecht zu haben. Stattdessen hätte der Gesetzgeber längere Besuchszeiten vorsehen können, die für die Resozialisierung förderlicher wären (S. 238). Auch hätte der Gesetzgeber die Anzahl der Ausführungen großzügiger bemessen und zudem vorsehen können, dass für Lockerungsentscheidungen Gremien aus unabhängigen Fachleuten einzusetzen seien (S. 242). Weiterhin sei bedauerlich, dass der Gesetzgeber darauf verzichtet habe, eine Mindestausstattung an Personal festzulegen (S. 251).

Auch das Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe bei Gefangenen mit angeordneter und vorbehaltener Sicherungsverwahrung in Schleswig-Holstein wird nicht nur vorgestellt, sondern auch kritisiert. Das Gesetz trage zwar dem Ultima-ratio-Prinzip Rechnung, enthalte jedoch recht oberflächliche Regelungen. Zu kritisieren sei insbesondere, dass die Gewährung von Lockerungen abgesehen von der Regelung des § 10 SVStVollzG S-H nicht vorgesehen sei. Außerdem hätte der Gesetzgeber Vergünstigungen wie bspw. eine Entgeltfortzahlung im Falle der Teilnahme an einer therapeutischen Maßnahme während der Arbeitszeit festlegen können, um die Gefangenen zu einer solchen Teilnahme zu motivieren (S. 254 f.).

Etwas überraschend kommt nach all der Kritik bei Überleitung auf den de lege ferenda-Teil die Feststellung, dass es sich im Ergebnis um eine „doch recht gelungene Gesetzeslage“ handele (S. 256). Daher übt die Verfasserin auch keine kleinteilige Kritik im Rahmen einzelner Tatbestände, sondern stellt allgemein die Frage, ob an dem Institut der Sicherungsverwahrung festgehalten werden sollte oder ob gleichwertige Alternativen zur Verfügung stünden, um die Allgemeinheit vor als gefährlich geltenden Personen zu schützen. Das ist angesichts der sehr dezidierten, tatbestandsbezogenen Kritik im vorherigen Kapitel schade, wären doch konkrete de lege ferenda Vorschläge hier für eine Rechtsfortbildung hilfreich.

Dass das Institut der Sicherungsverwahrung aufgegeben wird, ist dagegen kriminalpolitisch nicht gewollt und daher   höchst   unwahrscheinlich.  Die   Verfasserin   ist   der Überzeugung, dass der Gesetzgeber vom Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung hätte absehen bzw. sie sogar vollständig abschaffen sollen (S. 270). Auch die primäre Sicherungsverwahrung hält Stisser für entbehrlich und plädiert für eine Abschaffung mit Rücksicht auf die Prognoseunsicherheiten und verfassungsrechtliche Bedenken. Mit Blick auf andere Strafrechtssysteme wie Schweden und Finnland macht sie deutlich, dass auf die Sicherungsverwahrung verzichtet werden kann. Als Alternative wird die Führungsaufsicht benannt (S. 286 ff.). Sie stelle gegenüber der Sicherungsverwahrung das geringere Übel dar (S. 287). Gerade der erfolgreichen ambulanten Nachsorge käme eine entscheidende Bedeutung zu. In den wenigen Fällen, in denen die therapeutische ambulante Nachsorge keinerlei Erfolg verspräche, sollten die Betroffenen einer intensiven Betreuung durch den Bewährungshelfer unterstellt werden (S. 289). Die Führungsaufsicht sollte bereits im Schuldurteil angeordnet werden, soweit eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergäbe, dass von ihm erhebliche Sexual- und Gewaltstraftaten zu erwarten sind, durch die die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden. Auch wenn die Führungsaufsicht ihrerseits von Unsicherheiten der Kriminalprognose geprägt sei, so stelle diese Maßregel doch ein gegenüber der Sicherungsverwahrung wesentlich geringeres Übel dar (S. 290). Im Jugendstrafrechnung plädiert Stisser für eine Streichung der Sicherungsverwahrung. Das bisherige Verhalten sage zu wenig, das Verhalten im Vollzug sage gar nichts über die Gefährlichkeit junger Menschen aus, so dass es keine taugliche Datenbasis für eine Gefährlichkeitsprognose gäbe (S. 292 f.).

Es hätte meiner Ansicht nach einer vertiefenden Auseinandersetzung bedurft, warum im Erwachsenenstrafrecht die Führungsaufsicht so problemlos die Sicherungsverwahrung ersetzen kann. Hier wäre es zielführender gewesen, dezidiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, um dann in eine umfangreiche Diskussion überzuleiten. So wirkt der de lege ferenda Teil am Ende etwas oberflächlich. Hilfreich wäre es sicher gewesen, die argumentativ überzeugende Kritik de lege lata in konkrete Vorschläge de lege ferenda münden zu lassen. Ob die Führungsaufsicht die Sicherungsverwahrung ersetzen kann, ist aber eine spannende und wie ich finde sehr streitbare Frage, die einer weiteren Monographie vorbehalten bleiben sollte. Es zeigt sich mit der Dissertation von Stisser auf jeden Fall, dass die Diskussion um die Sicherungsverwahrung noch lange nicht verstummt ist.

 

 

 

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