Nik Sarafi: Das Rechtsgut als legitimer Zweck bei der Kriminalisierung im Rechtsstaat und die staatliche Pflicht einer Entkriminalisierung

von Prof. Dr. Anja Schiemann

Beitrag als PDF Version

2019, Verlag Dr. Kovač, ISBN: 978-3-339-10634-6, S. 231, Euro 96,80. 

Hinter diesem sehr abstrakten Titel der Dissertation verbirgt sich die Frage nach der Notwendigkeit der Entkriminalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln und dabei insbesondere mit Cannabis. Dazu beginnt der Verfasser sehr abstrakt mit der Erörterung der Frage, woraus sich die materielle Legitimation des Strafrechts ergibt und wie es sich rechtsdogmatisch und rechtsphilosophisch begründen lässt, dass der Staat bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe stellen darf. Hier geht es darum, ob es Regeln gibt, wonach der Strafgesetzgeber über strafrechtlich sanktioniertes Handeln oder legitimes Handeln entscheidet. Die hieraus abstrakt gewonnenen Ergebnisse werden dann auf das geltende Betäubungsmittelstrafrecht übertragen und die Frage aufgeworfen, ob das Betäubungsmittelstrafrecht de lege lata akzeptabel oder unrechtmäßig oder gar verfassungswidrig ist. Die Dissertation endet mit Vorschlägen zu einer Gestaltung des Betäubungsmittelgesetzes de lege ferenda.

Sarafi ist – wie eigentlich einhellig in der Rechtswissenschaft – der Auffassung, dass sich eine Strafvorschrift an den Grundrechten messen lassen muss und daher Strafrecht nur ultima ratio sein kann, um einen legitimen Zweck zu erreichen. Verhaltenstypen seien also nur dann strafrechtlich zu sanktionieren, wenn das betreffende Verhalten zu einer Rechtsgutsverletzung anderer Menschen führt. Primäre Aufgabe des Strafrechts sei es, Rechtsgutsverletzungen Dritter zu verhindern. Allerdings müsse das Verhalten tatsächlich zu einer Verletzung des zu schützenden Rechtsguts führen. Zudem müsse feststehen, dass durch das Zivil- und Verwaltungsrecht kein ausreichender Schutz gewährleistet werden kann. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so verfolge ein Strafgesetz keinen legitimen Zweck und sei verfassungswidrig.

Aber der Autor geht noch einen Schritt weiter. Immer dann, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Widerspruch zu den Gesetzesbegründungen stünden, müssten die Gesetze neu diskutiert, ggf. geändert oder sogar aus dem Strafrecht entfernt werden. Auch wenn es keine ausdrückliche Vorschrift gäbe, die den Gesetzgeber zur Streichung fehlerhafter Gesetze und somit zur Entkriminalisierung zwänge, so könne eine solche Pflicht doch aus der demokratischen Funktion, dem Rechtsstaatsprinzip und der Werteordnung des Grundgesetzes abgeleitet werden. Daher ist Sarafi der Auffassung, dass der Gesetzgeber Strafgesetze streichen muss, die ein Verhalten unter Strafe stellen aber nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Genüge tun.

Nach dieser Feststellung folgt ein recht kurzer und überblicksartiger Teil zum Betäubungsmittelstrafrecht de lege lata (S. 87 ff.), in dem neben den Grundlagen auch die Strafvorschriften benannt und die Voraussetzungen rudimentär wiedergegeben werden. Interessanter ist dann der Abschnitt zur Praxis der Staatsanwaltschaften und der Rechtsprechung, in dem dargelegt wird, was die praktischen Folgen der zuvor umrissenen Straftaten sind. Es geht hier zum einen um die staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Eingriffsbefugnisse im Ermittlungsverfahren wie Durchsuchung oder Untersuchungshaft. Zum anderen werden Strafzumessungserwägungen sowie Opportunitätsmöglichkeiten geschildert. Die Erkenntnisse überführt der Verfasser in eine Bewertung des Betäubungsmittelstrafrechts de lege lata (S. 131 ff.).

Sarafi kommt zu dem Ergebnis, dass das BtMG dem Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht Rechnung tragen kann. Einerseits werde mit der „Volksgesundheit“ und der „Gesundheit des Einzelnen“ das Verbot des Umgangs mit Cannabis gerechtfertigt, andererseits sei dies nicht das Resultat einer objektiven Gefährlichkeit bzw. Wirkungsweise der Substanz im menschlichen Körper und auch nicht die Folge eines etwaigen Suchtpotentials (S. 165). Daher bedürfe das Betäubungsmittelstrafrecht de lege lata einer Reform. Ziehe man den systemkritisch-personalen Rechtsgutsbegriff heran, so verfolge das BtMG schon keinen legitimen Zweck und verstoße damit gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Auch wenn man das BtMG unter Heranziehung des methodischen Rechtsgutsbegriffs mit dem Schutz der Volksgesundheit rechtfertigen wollte, so verstoße die per se Kriminalisierung sämtlicher Handlungen, die letztlich nur dem Eigenverbrauch dienten, gegen das Autonomieprinzip. Das Argument der Gesundheitsgefährdung sei schon deshalb hinfällig, weil von Alkohol und Nikotin höhere Gefahren ausgingen. Zudem werde das Strafrecht paternalistisch und damit rechtsmissbräuchlich eingesetzt. Der durch das Betäubungsmittelstrafrecht herbeigeführte Schaden sei größer als der vermeintliche Nutzen (S. 166).

Der Mensch als freies Individuum sei grundsätzlich frei in seinen Entscheidungen zu tun, was er tun möchte. Die Grenze sei nur dort erreicht, wo der Mensch die Rechtsgüter anderer gefährde – hier dürfe der Staat mit dem Strafrecht eingreifen. Werden Rechtsgüter Dritter nicht tangiert, so dürfe der Staat solche Handlungen nicht unterbinden. Daran ändere auch das Scheinrechtsgut der Volksgesundheit nichts (S. 167).

Schütze das BtMG dagegen Rechtsgüter Dritter wie Leib, Leben und körperliche Unversehrtheit, so bedürfe es der Vorschriften im BtMG schon deshalb nicht, weil die Straftatbestände des StGB ausreichend Schutz böten (S. 167).

Im nächsten Kapitel zeigt Sarafi Tendenzen einer Entkriminalisierung im Betäubungsmittelstrafrecht auf (S. 169 ff.). Neben der Forderung des Verfassers, dass der Gesetzgeber aufgrund seiner Beobachtungs-, Prüfungs- und Nachbesserungspflicht sogar verpflichtet sei, auf dem Gebiet des Betäubungsmittelstrafrechts Entkriminalisierungen vorzunehmen (S. 171), werden auch Forderungen internationaler und nationaler Vereinigungen wie dem ECDD, der Weltkommission für Drogenpolitik, des Schildower Kreises, des LEAP sowie des BDK wiedergegeben. Leider sehr oberflächlich wird dann die Entwicklung im internationalen Bereich nachgezeichnet. Was hier fehlt, sind Schilderungen aus den jeweiligen Ländern zu Erfahrungen und dem Umgang mit der (Teil)Legalisierung. Daraus hätten sich wertvolle Erkenntnisse auch für Deutschland gewinnen lassen.

In einem nächsten Schritt schildert der Verfasser verschiedene Versuche zur Realisierung von Modellprojekten im Umgang mit Betäubungsmitteln, bspw. dem regulierten Verkauf von Cannabis in Berlin oder Münster und Düsseldorf. Es folgen Ausführungen zur medizinischen Versorgung von Einzelpatienten mit Cannabis sowie der Diskussionen um die „geringe Menge“ nach § 31a BtMG.

Schließlich werden sehr kurz einige Gesetzentwürfe und parlamentarische  Forderungen  vorgestellt  sowie  Entkriminalisierungstendenzen des Umgangs mit Betäubungsmitteln auf dem medizinischen Sektor. Auch in diesem Abschnitt fehlt fast vollständig die reflektierende Auseinandersetzung des Verfassers mit der dargestellten Materie. Als Leser sind genau diese Punkte der Grundstein für eine intensive kriminalpolitische Auseinandersetzung. Diese bleibt aus, so dass neben einer kurzen Zusammenfassung im Fazit lediglich die Forderung an den Gesetzgeber erhoben wird, Erwerb und Konsum von Cannabis zum Eigenverbrauch und ohne medizinischen Aspekt freizugeben (S. 227).

Abschließend werden in einem letzten Kapitel „Ausblick und Entkriminalisierungsvorschläge de lege ferenda“ auf mageren 3 Seiten die Reformbedürftigkeit des Betäubungsmittelstrafrechts in Deutschland und anderen Ländern hervorgehoben (S. 229). De lege ferenda wird dann lediglich auf die noch ausstehenden Ergebnisse des 40. Treffens des Expertenkomitees zur Drogenabhängigkeit (ECDD) sowie den Entwurf eines § 10b BtMG-E von Ambos, Böllinger und Schefold verwiesen. Eigene Vorschläge de lege ferenda werden nicht gemacht.

Insofern ist der kriminalpolitische Mehrwert dieser Dissertation überschaubar, positiv und als Anknüpfungspunkt zur kriminalpolitischen Auseinandersetzung ist das Zusammentragen diverser Modellversuche zu werten.

 

 

 

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen