von Prof. Dr. Elisa Hoven und Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski
Abstract
Der Gesetzgeber dringt seit einigen Jahren vermehrt mit Strafvorschriften in den offenen Meinungsaustausch ein, um eine Verbesserung des Diskursklimas herbeizuführen. Mit der Einführung des § 126a StGB, der das Verbreiten sog. „Feindeslisten“ unter Strafe stellt, steht erneut die politische Neutralität des Strafrechts in Frage. Der Vorschrift stehen relevante verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. Sie ist nicht zuletzt Einfallstor für doppelte Standards in der gerichtlichen Bewertung unterschiedlicher Meinungslager, was eine aktuelle Entscheidung des LG Köln zeigt. Vor diesem Hintergrund plädieren die Autorinnen für eine Streichung des § 126a StGB und eine politische Zurückhaltung des Strafrechts.
For some years now, the legislator has been increasingly intruding into the open exchange of opinions with criminal laws in order to improve the climate of discourse. The creation of § 126a StGB, which criminalises the distribution of so-called ‘enemy lists’, once again calls into question the political neutrality of criminal law. The regulation raises relevant constitutional concerns. It is not least a gateway for double standards in the judicial assessment of different camps of opinion, as a recent decision by the Cologne District Court (LG Köln) shows. Against this background, the authors argue in favour of deleting § 126a StGB and political restraint of criminal law.
I. Einleitung
Dem Gesetzgeber ist aufgefallen, dass die gesellschaftlichen Diskurse seit einigen Jahren an Qualität einbüßen.[1] Der Ton ist rauer geworden, zumal es in der kaum mehr zu überblickenden Aneinanderreihung politisch mal mehr, mal weniger gut gelöster gesellschaftlicher Großkrisen (Pandemie, Ukraine-Krieg, Klima) offenkundig viel zu streiten gibt. Hinzu kommt die Allseits-Bedrohung auf digitalen Schauplätzen, die scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten eröffnen, Kritik und deren Mitwisser zu potenzieren. Weil gleichzeitig bei den Bürgern immer weniger Resilienz im Umgang mit verbaler Kritik vorausgesetzt wird,[2] ist für viele klar: Das Strafrecht muss es richten.[3] So auch der gesetzgeberische Impetus bei Schaffung des wenige Jahre alten § 126a StGB, der das gefährdende Verbreiten personenbezogener Daten, insbesondere sogenannter „Feindeslisten“, unter Strafe stellt. Die Vorschrift wurde als neuerlicher Eingriff des Strafrechts in den offenen Meinungsaustausch früh kritisiert.[4] Gekommen ist sie trotzdem. Ein jüngerer Beschluss des LG Köln unterzieht § 126a StGB dem Praxistest und belegt eindrucksvoll, wie gefährlich es ist, wenn der Gesetzgeber durch Strafvorschriften weit in den politischen Meinungskampf vordringt. Gerade das Strafrecht ist der politischen Neutralität verpflichtet. Hieran nachdrücklich zu erinnern, ist Anlass des Beitrags.
II. Genese und Voraussetzungen von § 126a StGB
Wie so oft in der jüngeren Vergangenheit, hat der Strafgesetzgeber „Lücken“ im strafrechtlich gewährleisteten Rechtsschutz ausgemacht und durch § 126a StGB einen neuerlichen Versuch unternommen, dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts zu Leibe zu rücken. Konkret zielte die gesetzgeberische Bemühung dabei auf das Phänomen sogenannter „Feindeslisten“. Dabei soll es sich um „Sammlungen von Daten, vor allem Adressdaten, aber auch Informationen über persönliche Umstände oder Fotos, von Personen [handeln], die – vorwiegend im Internet – verbreitet und zum Teil mit ausdrücklichen oder subtilen Drohungen oder Hinweisen verbunden werden“ wie etwa, dass dem Betreffenden einmal ein „Besuch“ abgestattet werden könne.[5] Die Verbreitung solcher Listen berge die Gefahr, andere zu Straftaten an den Genannten zu motivieren; geschütztes Rechtsgut sei dabei der öffentliche Rechtsfrieden.[6] Durch das geltende Strafrecht werde diese subtilere Form der Einschüchterung und Bedrohung nicht erfasst: §§ 111 StGB und 126 StGB scheiden aus, wenn es an der Aufforderung zu bzw. der Androhung einer bestimmten Tat fehlt. Auch §§ 240, 241 StGB kommen nicht in Betracht, wenn keine direkte Drohung vorliegt oder der Bezug zu einer konkreten Straftat nicht hinreichend deutlich ist. Für eine Strafbarkeit nach § 238 StGB bedürfte es der Wiederholung spezifischer Verhaltensweisen des Täters, was bei „Feindeslisten“ regelmäßig nicht der Fall ist.[7] § 42 BDSG stellt zwar das unberechtigte Zugänglichmachen oder Übermitteln von Daten einer großen Zahl von Personen unter Strafe, allerdings nur im Hinblick auf nicht allgemein zugängliche personenbezogene Daten.
126a StGB bestraft denjenigen, der öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Abs. 3 StGB) personenbezogene Daten einer anderen Person in einer Art und Weise verbreitet, die geeignet und nach den Umständen bestimmt ist, diese Person oder eine ihr nahestehende Person der Gefahr eines gegen sie gerichteten Verbrechens (Nr. 1) oder einer gegen sie gerichteten sonstigen rechtswidrigen Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder gegen eine Sache von bedeutendem Wert (Nr. 2) auszusetzen.
Die Vorschrift geht zunächst über § 42 BDSG hinaus, indem sie sämtliche personenbezogenen Daten einer anderen Person ausreichen lässt, also gerade auch öffentlich zugängliche Informationen.[8] Der Begriff der personenbezogenen Daten erfasst gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Personen beziehen; bereits der Name genügt.[9] Damit ist die eigentliche Tathandlung von § 126a StGB denkbar weit formuliert und für sich genommen gänzlich sozialadäquat;[10] auch der Gesetzgeber sieht, dass es „zahlreiche Fälle“ gibt, „in denen das Verbreiten personenbezogener Daten in seiner Zielrichtung neutral, konstruktiv oder sogar erwünscht ist“.[11]
Die Beschränkung des Tatbestandes auf strafwürdiges Unrecht soll vor diesem Hintergrund dadurch erreicht werden, dass das Verhalten des Täters „geeignet und nach den Umständen bestimmt“ ist, die betroffene Person der Gefahr bestimmter Straftaten auszusetzen. Die Eignung liegt nach der Gesetzesbegründung vor, „wenn nach Art und Weise des Verbreitens sowie den sonstigen relevanten konkreten Umständen des Falles bei einer Gesamtwürdigung die Besorgnis gerechtfertigt ist, es könne zu einer rechtswidrigen Tat kommen.“[12] Im Schrifttum wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Voraussetzung der Eignung kaum relevantes Potential zur Einschränkung des Tatbestandes zukomme; im Kontext politisch kontroverser Fragen wird selten auszuschließen sein, dass Menschen mit Gewalt auf sie reagieren.[13]
Das Bestimmungserfordernis wurde nachträglich infolge der Stellungnahme des Bundesrats eingefügt. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll es die „Zielsetzung“ des Täters als subjektives Element erfassen.[14] Der Zusatz, dass die Verbreitung „nach den Umständen“ zur Gefahrenschaffung bestimmt sein muss, legt allerdings nahe, dass es sich der Sache nach um ein zusätzliches objektives Tatbestandsmerkmal handelt.[15] In der Praxis wird den Gerichten ohnehin wenig anderes übrig bleiben, als aufgrund der objektiven Umstände der Verbreitung auf die subjektive Tatseite zu schließen. Insoweit kommt dem Merkmal der Bestimmtheit nur geringe strafrechtsbegrenzende Bedeutung zu, die nicht entscheidend über das Eignungserfordernis hinausgeht. § 126a StGB enthält in der Summe also eine äußerst weitgefasste Tathandlung, die auch nach der Einschätzung des Gesetzgebers sozialadäquate Fälle erfasst. Das Unrecht – und die Legitimation für den Eingriff des Strafrechts – soll sich dann aus zwei Merkmalen herleiten, die selbst in erheblicher Weise wertungsoffen sind.
III. Grundsätzliche Legitimationsdefizite des § 126a StGB
Eines steht fest: Kaum einer wird es gutheißen, wenn seine Daten in eine Liste aufgenommen und breit öffentlich zugänglich gemacht werden, soweit diese Dokumentation dazu dient, Kritik an der eigenen Person bzw. der eigenen Meinung zum Ausdruck zu bringen. Und in der Tat kann ein solches Vorgehen einschüchtern – ein Beispiel liefert hier nur die sogenannte Liste der „Feinde der Ukraine“, die von dem technischen Analyse-Unternehmen Molfar OSINT im Internet betrieben wird und frei zugänglich ist.[16] Die Liste verfolgt die Zielsetzung, persönliche Daten von Menschen zur Verfügung zu stellen, die eine Bedrohung für die Ukraine darstellen sollen. Darin finden sich neben Unternehmern, Intellektuellen und sonstigen Privatpersonen zahlreiche Journalisten, bei denen es sich zu einem nicht geringen Anteil um deutsche Staatsbürger handelt. Derartige Listen können in der Tat zu sog. chilling effects führen, mithin die Selbstzensur von Menschen bewirken, die befürchten, im Fall einer offenen Meinungskundgabe auf ebensolchen Listen zu landen.[17] Zudem geht mit jeder Dokumentation von Verhalten oder Äußerungen, die andere kritisch sehen, immer eine abstrakte Gefahr einher, dass es in der Folge zu Gewalt kommt. Das ist so bei jedem Zeitungsartikel, der über kontroverse Ereignisse berichtet, bei jeder Dokumentationsstätte, die sich mit Unrecht von Menschen befasst, die selbst oder deren Nachkommen heute noch leben etc. Kenntniserlangung kann bei manchen das Motiv auslösen, Taten folgen zu lassen – die abstrakte Gefahr ist immer da und wird nur teilweise von den geltenden Strafvorschriften erfasst.
Zumindest unter Strafrechtswissenschaftlern ist allerdings bekannt: Nur weil etwas nicht geregelt ist, heißt das nicht, dass es auch geregelt werden sollte. Wie andere staatliche Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen müssen Strafgesetze den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen, also zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.[18] Eine entsprechende Begründungslast hat der Gesetzgeber bei der Einführung von § 126a StGB offenbar nicht wirklich gesehen; er hat wenig bis keine Mühe darauf verwendet, die Angemessenheit von § 126a StGB zu erläutern.
Bei der Vorschrift handelt es sich um einen Eingriff in die Meinungsfreiheit. Dabei gilt: Selbst noch so anstößige Meinungen, die in „Feindeslisten“ zum Ausdruck kommen können, sind von Art. 5 GG geschützt.[19] Es ist dem freien Spiel des Meinungsaustauschs überlassen, sie zurückzudrängen – nicht aber dem Strafgesetzgeber. Dieser hat sich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zurückzuhalten, ganz besonders bei der Meinungsfreiheit. Auch „Feindeslisten“ können aus der Perspektive des Art. 5 GG einen Nutzen aufweisen. Die Dokumentation öffentlich zugänglicher Daten wie etwa Meinungskundgaben verbunden mit Angaben zu denjenigen, die sie getätigt haben, können einen erheblichen informativen Charakter haben. Gerade in einer immer schwerer zu überschauenden Kommunikationsgesellschaft mit all ihren verschiedenen Äußerungsmedien kann es hilfreich sein, ein gewisses Meinungsspektrum zu bündeln, um anderen Einblicke darin zu liefern.
In der Gesetzesbegründung findet sich insoweit zwar der knappe Hinweis, dass die neue Vorschrift die Meinungsfreiheit berühre. Der Eingriff sei allerdings gerechtfertigt, weil es dem Gesetzgeber erlaubt sei, „an Meinungsäußerungen anzuknüpfen, die über die Überzeugungsbildung hinaus mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder der Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können“.[20] Die Gesetzesbegründung beruft sich hier auf den Beschluss des BVerfG zu § 130 Abs. 4 StGB. Was bei dieser Bezugnahme jedoch fehlt, ist der unter legitimatorischen Gesichtspunkten nicht unerhebliche Hinweis, der dem genannten Zitat in der Entscheidung unmittelbar vorangestellt ist. Er lautet: „Soweit der Gesetzgeber darauf zielt, Meinungsäußerungen insoweit einzuschränken, als mit ihnen die Schwelle zur individualisierbaren, konkret fassbaren Gefahr einer Rechtsverletzung überschritten wird, verfolgt er einen legitimen Zweck.“[21]
Dies dürfte ein Knackpunkt des neuen § 126a StGB sein. Das BVerfG macht deutlich, dass eine „Beunruhigung, die die geistige Auseinandersetzung im Meinungskampf mit sich bringt“, „notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit“ ist und daher „für deren Einschränkung kein legitimer Zweck sein“ kann.[22] Zu Recht setzt das Gericht deshalb die Nähe zu einer konkreten Rechtsgutsverletzung voraus; eine Einschränkung der Meinungsfreiheit legitimiert sich nur durch ihren Bezug zu einer individuellen Bedrohung, es „geht um einen vorgelagerten Rechtsgüterschutz, der an sich abzeichnende Gefahren anknüpft, die sich in der Wirklichkeit konkretisieren.“[23]
Vorschriften wie § 111, § 126 oder § 130 StGB setzen daher auch einen deutlich engeren Bezug zur potenziellen Rechtsgutsverletzung voraus: Für § 111 StGB bedarf es der Aufforderung zu einer konkreten Tat, für § 126 StGB deren Androhung, und § 130 Abs. 1 StGB sieht unter anderem das Aufstacheln zum Hass oder die Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen vor. Der Täter hat sich hier also bereits selbst unzweifelhaft affirmativ zu Angriffen auf ein bestimmtes Rechtsgut verhalten, sein Handeln geht klar über den Bereich des Sozialadäquaten hinaus. Demgegenüber bewegt sich § 126a StGB weit im Vorfeld einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung. Zwischen der Veröffentlichung der Liste und einer realen Verletzung von Personen steht ein normativ entscheidender Schritt: der freiverantwortliche Entschluss eines Dritten für die Begehung einer Straftat an der auf der Liste genannten Person. Das durch die „Feindesliste“ geschaffene Unrecht begrenzt sich mithin auf die bloß indirekte und unausgesprochene Motivation eines freiverantwortlich handelnden Dritten zur Begehung von Straftaten – fordert der Absender der Liste ausdrücklich zu einer Straftat auf, ist sein Handeln bereits nach § 111 StGB oder § 30 StGB strafbar.
Besonders weitreichend erscheint es, dass es nach der gegenwärtigen Gesetzesfassung genügt, öffentlich zugängliche Daten auf die „Feindesliste“ zu nehmen. Ihre Unrechtsqualität liegt dann nur noch darin, ohnehin für jedermann zugängliche Informationen an einer Stelle gebündelt zusammengefasst zu haben. Der Dritte, der sich durch die Liste zu seiner späteren Tat motivieren lässt, hätte also sämtliche Informationen, mit denen ihn die Liste versorgt, ohne Weiteres eigenständig erlangen können.
Die Meinungsfreiheit steht im Zentrum einer freiheitlichen Demokratie, deren Herzstück der offene Diskurs ist. Mit Strafgesetzen, die die Meinungsfreiheit tangieren, ist daher besonders zurückhaltend zu verfahren. Denn Selbstzensur droht nicht bloß, weil man vor den Reaktionen anderer (etwa in Gestalt von „Feindeslisten“) Angst hat. Sie droht insbesondere dann, wenn befürchtet wird, durch die eigene Meinungskundgabe der strafrechtlichen Ahndung unterzogen zu werden.[24] Gerade Strafgesetze, die die Meinungsfreiheit regulieren, tragen das erhebliche Risiko von sog. chilling effects. Vor diesem Hintergrund wirft § 126a StGB erhebliche Legitimationsdefizite auf. Dabei sollte man sich nicht von dem moralisch stark aufgeladenen Begriff der „Feindes“-Liste täuschen lassen. Einen Feind zu haben oder mehrere, Hass zu empfinden und ihn zu äußern – all dies mag moralisch anstößig sein, ist für sich genommen aber kein Grund, eine rechtliche Regulierung oder gar strafrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen. Zumindest in seiner gegenwärtigen Fassung, die das strafbare Verhalten weit im Vorfeld einer konkreten Rechtsverletzung ansiedelt, erscheint die Vorschrift verfassungsrechtlich kaum haltbar.
IV. § 126a StGB als Einfallstor für politisches Strafrecht
Mit der Vorschrift des § 126a StGB greift der Strafgesetzgeber in den Bereich gesellschaftspolitischer Interaktion ein: Das Strafgesetz liefert ein Einfallstor für eine staatliche Bewertung und Sanktionierung gesellschaftlicher Meinungskämpfe. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Vor dem Hintergrund der festzustellenden zunehmenden Verrohung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und im politischen Diskurs bei zugleich steigenden Fallzahlen politisch motivierter Straftaten, insbesondere im Bereich der Hasskriminalität und aus dem extremistischen Spektrum, erzielt eine ‚Feindesliste‘ in der Öffentlichkeit eine bedrohliche und einschüchternde Wirkung.“[25] Die hieraus gezogene Konsequenz einer strafrechtlichen Inkriminierung von „Feindeslisten“ lässt interessante Rückschlüsse auf die Logik des Gesetzgebers zu. Die erklärte Zielsetzung, den Diskurs zu verbessern, soll nämlich offenbar dadurch gelingen, dass der Diskurs zumindest teilweise beschnitten wird. Diese Strategie erweist sich alles andere als zielführend: Tabus oder spezifische Äußerungsverbote zu etablieren, kann, vor allem wenn die Vorschriften zu weit reichen, auch das Gegenteil bewirken: Insbesondere ein nicht mehr maßvoller Eingriff des Strafgesetzgebers in den offenen Meinungskampf führt zu einer Verhärtung von Frontstellungen, die es indessen unbedingt aufzubrechen gälte, um das gesellschaftliche Gespräch wieder auf ein konstruktiveres Niveau zu heben.
Anstatt allerdings Wege zu ersinnen, um die innerhalb der Gesellschaft vorhandenen Brüche zu überwinden, wählt der Gesetzgeber immer häufiger die Waffe des Strafrechts, um Schweigen zu gebieten, wo eigentlich die Möglichkeit verbleiben sollte, im Gespräch zueinander zu finden. Ein weiteres Beispiel liefert die neu eingeführte Vorschrift des § 130 Abs. 5 StGB, der unter bestimmten Voraussetzungen die Leugnung, Billigung oder grobe Verharmlosung von Völkerrechtsverbrechen unter Strafe stellt. Zwar wahrt die Vorschrift im Gegensatz zu § 126a StGB die Anforderungen, die das BVerfG im Zusammenhang mit § 130 Abs. 4 StGB an strafgesetzliche Eingriffe in die Meinungsfreiheit aufgestellt hat. Gleichwohl unterbindet sie spezifische Diskurse, wenn es nämlich darum geht, epistemische Ungewissheit über das Vorliegen von Verstößen gegen die Straftatbestände des Völkerstrafgesetzbuchs in aktuellen oder vergangenen völkerrechtlichen Auseinandersetzungen im gesellschaftlichen Diskurs zu klären.[26]
Die Anwendung des Strafrechts gerade in diskurssensi-blen Bereichen birgt die Gefahr, die Korridore gesetzlich zulässiger Meinungsäußerung immer weiter zu verengen. Dies fügt sich in das Bild eines Rechts, das zunehmend bereit ist, Meinungskontrollen etwa auch im gefahrenabwehrrechtlichen Bereich wie etwa jüngst durch Erweiterungen des Bundesverfassungsschutzgesetzes[27] zuzulassen. In einer Situation, in der mehr als 48 Prozent der Deutschen angeben, es sei bei der Äußerung einer politischen Meinung „besser, vorsichtig zu sein“,[28] müssen staatliche Zugriffe auf die freie Meinungsäußerung mit größter Zurückhaltung erfolgen. Die notwendige Vorsicht bei der Regulierung von Meinungsäußerungen hat der Gesetzgeber mit der Einführung von § 126a StGB nicht gewahrt. Ein aktueller Fall aus Nordrhein-Westfalen zeigt die Probleme bei der Anwendung der Norm und die weitreichenden Folgen eines politisierten Strafrechts.
V. Wenn das Kind in den Brunnen fällt – § 126a StGB in der Praxis am Beispiel des Beschlusses LG Köln 113 Qs 1/24 – 330 Js 188/22
Wenig überraschend fällt § 126a StGB im Praxistest durch. Schnell zeigte sich, dass die Vorschrift eine pro-blematische Reichweite staatlichen Zugriffs auf Vertreter der Presse zulässt; angesichts ihres weiten Interpretationsspielraums trägt die Regelung des § 86 Abs. 4 StGB nur wenig zur Schadensbegrenzung bei.[29] Ein weiteres Beispiel dafür, wie problematisch sich § 126a StGB in der Praxis auswirkt, liefert jüngst ein Beschluss des LG Köln. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt veröffentlichte der Angeklagte auf der Online-Plattform „Twitter“ (mittlerweile „X“) einen Beitrag mit u.a. folgendem Inhalt:
„Wir haben mitgemacht! Wir haben ausgegrenzt, diffamiert, diskreditiert, beleidigt und Menschen gecancelt. Im Dienste der Wissenschaft! Auf vielfachen Wunsch dieser knackige Thread, mit Aussagen, die man nicht vergessen sollte: #Wirhabenmitgemacht #Wir haben ausgegrenzt“.
Nachfolgend listete der Beschuldigte 24 Zitate von Einzelpersonen auf, zu denen Prominente, Politiker, Journalisten, aber auch weniger bekannte Mediziner oder Arztpraxen gehörten, die sich während der Corona-Pandemie öffentlich über ungeimpfte Personen geäußert hatten. Darunter finden sich Zitate von Udo Lindenberg („Wenn die hirntoten Risikopiloten durch die Aerosole ziehen, wird es ganz viele noch erwischen.“), Joachim Gauck („Impfgegner sind Bekloppte“), Markus Söder („Es handelt sich um eine Pandemie der Ungeimpften.“), des Landtagsabgeordneten aus Ebersberg in Oberbayern Thomas Huber („Impfen Macht Frei“), der Stadt Erkelenz („Deine Party ist Omas Tod.“), der Technischen Universität Berlin („Querdenker*innen wegimpfen“) oder des Journalisten Christian Ortner („Lasst uns Impfverweigerer mit dem Blasrohr jagen, Waidmanns Heil!“). Einige Stunden später ergänzte der Beschuldigte einen zweiten Post, in dem er die Website „ich-habe-mitgemacht.de“ in Bezug nahm, die sich als „Archiv für Corona-Unrecht“ ausweist. Darauf findet sich eine lange Liste mit kritischen Äußerungen gegenüber Menschen, die sich während der Pandemie gegen Impfungen oder Coronaschutzmaßnahmen gewandt haben. Den Zitaten sind deren jeweilige Urheber namentlich zugeordnet sowie eine Quelle, unter der die Äußerung öffentlich einsehbar ist. Zudem findet sich dort das Zitat: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus.‘ Nein, er wird sagen: ‚Ich rette euch vor einem Virus.‘“ Die Staatsanwaltschaft Köln klagte den Beschuldigten wegen eines gefährdenden Verbreitens personenbezogener Daten nach § 126a StGB an. Das AG Köln lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens durch Beschluss ab, wogegen die Kölner Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegte und damit vor dem LG Köln erfolgreich war. Im Sommer wird es nunmehr zu einer Verhandlung des Falles vor einer anderen Abteilung des AG Köln kommen.
1. Der Beschluss des LG Köln
Sowohl LG als auch Kölner Staatsanwaltschaft gehen von einer Strafbarkeit des Verhaltens nach § 126a StGB aus. Das Eignungsmerkmal begründet das Gericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung damit, dass die betreffenden Beiträge „im Sommer 2022 und damit im zeitlichen Kontext einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte“ über den Umgang mit der Corona-Pandemie veröffentlicht wurden.[30] Zudem habe der Angeklagte die Veröffentlichung auf seinem Twitter-Profil vorgenommen, mit dem er hauptsächlich Menschen erreichte, die „überwiegend dieselben Auffassungen vertreten“. Personen, die weniger kritisch gegenüber der offiziellen Corona-Politik eingestellt waren, würden „als politische und gesellschaftliche Gegner ausgewiesen“; der Hashtag „#Wirhabenausgegrenzt“ habe eine Prangerwirkung. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Angeklagte in seinem Post die Website „ich-habe-mitgemacht.de“ einbezog. Diese beinhalte keine „sachlich-informative Berichterstattung zu Fragen der COVID-19-Pandemie und COVID-19-Impfungen. Vielmehr lässt sie eine rechtsfeindliche Ausrichtung erkennen, da die in der dortigen Zitatesammlung aufgelisteten […] Personen […] als ‚Täter‘ bezeichnet werden, von denen ‚Unrecht‘, ‚menschenverachtende Formulierungen‘ und ‚Drangsalierungen‘ ausgingen.“ Außerdem liege in dem an ein Zitat des italienischen Schriftstellers Ignazio Salone angelehnten Leitspruch der Website ein „Faschismus-Vergleich“.
Vor diesem Hintergrund ist das LG Köln der Auffassung, die Twitter-Beiträge des Angeklagten seien nicht auf eine „rein geistig bleibende Überzeugungsbildung angelegt“ gewesen. Die Rede von Feinden, Unrecht und der möglichen Wiederkehr des Faschismus „stellen vielmehr insofern einen Bezug zu Straftaten gegen die benannten Personen her, als diese insinuieren, dass man sich gegen ‚Täter‘, ‚Unrecht‘ und ‚Faschismus‘ – ggf. auch körperlich – wehren darf und unter Umständen sogar wehren muss.“ Die Posts besäßen daher die Eignung, andere Twitter-Nutzer dazu zu motivieren, die Genannten aufzusuchen und sie zu verletzen.
Das LG ist ebenfalls davon überzeugt, dass der Beschuldigte die Verbreitung hierzu bestimmt habe. Dabei betont es zwar, dass das Bestimmungserfordernis eine tatbestandseinschränkende Funktion aufweisen soll. Seine Begründung fällt dann allerdings denkbar knapp aus: Nach Ansicht des LG ließen die Gesamtumstände darauf schließen, „dass der Angeklagte es für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, dass es zu entsprechenden Straftaten zu Lasten der benannten Personen kommen kann und er die Gefährdung dieser Personen in seinen Willen aufgenommen hat.“ Die Sozialadäquanzklausel des § 86 Abs. 4 StGB sei außerdem nicht einschlägig, da der Angeklagte nicht sachlich-informativ berichtet, sondern auf eine rechtsfeindlich ausgerichtete Website Bezug genommen habe.
2. Keine Strafbarkeit nach § 126a StGB im Kölner Fall
Die Entscheidung überzeugt an keiner Stelle. Sowohl der Post des Angeklagten als auch die in Bezug genommene Website dienen der Dokumentation gesellschaftlicher Ereignisse während der Corona-Pandemie. Vor dem Hintergrund, dass sich nach wie vor weite Teile der Politik gegen eine parlamentarische Aufarbeitung der Pandemiezeit stemmen, erweist es sich als Mehrwert für die Öffentlichkeit, wenn zumindest zivilgesellschaftliche Initiativen in diese Richtung erfolgen.[31] Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass der Post während einer Zeit erfolgte, in der die gesellschaftliche Diskurslage besonders angespannt war. Für Dokumentation gibt es keinen falschen Zeitpunkt. Dem steht auch nicht entgegen, dass sich der Beschuldigte in seinem Post klar wertend gegenüber denjenigen geäußert hat, deren öffentliche Wortmeldungen er dokumentierte.
Sein Urteil, dass es sich bei den Äußerungen um „Unrecht“ handele und die nachfolgend konsequente Annahme einer Täterschaft, ist Ausdruck seiner Meinungsfreiheit. Die Bewertung zwischenmenschlicher Handlungen als „Unrecht“ ist ein legitimer Diskursbeitrag; diese Einschätzung obliegt nicht ausschließlich dem Staat als Machtapparat. Individuelle Kritik an gesellschaftlichen Praktiken, hier der Umgang mit ungeimpften Personen, darf der Bürger in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht nur dann als „Unrecht“ anprangern, wenn diese Einschätzung von der Justiz geteilt wird. Opfer müssen subjektiv erlebtes Unrecht als solches benennen können, selbst wenn sie mit ihrer Meinung darüber allein dastehen. Häufig ist es erst die Betroffenenperspektive, die ein gesellschaftlich relevantes Umdenken anstoßen kann. Dabei ist nicht vorausgesetzt, dass es sich um „Unrecht“ im rechtstechnischen Sinne handelt. „Unrecht“ gibt es in einem dem Recht vorgelagerten Bereich des sozialen Miteinanders. Die bloße Tatsache, dass es keinen Straftatbestand erfüllt, ändert nichts daran, dass es für die Gesellschaft und deren Heilung nach einer langen Zeit erheblicher sozialer Auseinandersetzung wichtig sein kann, Geschehenes auch als genau das zu bezeichnen, was es in den Augen der davon negativ Betroffenen war: als „Unrecht“. Es muss vor diesem Hintergrund verwundern, dass das Gericht die Verwendung von Begriffen wie „Unrecht“ und „Täter“ als rechtsfeindliche „Sprache“ einordnet und darin einen Bezug zu potentiellen Straftaten Dritter hergestellt sieht.
Hinzu tritt, dass einige der von dem Beschuldigten in seinem Post zitieren Äußerungen zumindest nah an der Grenze des strafrechtlich Relevanten liegen. Die Bezeichnung von Ungeimpften als „hirnlos“ oder als „Bekloppte“ ist herabwürdigend; fraglich dürfte allein sein, ob die Anforderungen an die Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung erfüllt sind.[32] In Betracht kommt auch eine Strafbarkeit nach § 130 StGB, wenn man in den verschiedenen Äußerungen ein Aufstacheln zum Hass gegen Ungeimpfte als Teile der Bevölkerung sieht. Unter dem Gesichtspunkt der Bedrohung (§ 241 StGB) oder der Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB) erscheint die Aufforderung, Ungeimpfte „mit dem Blasrohr“ zu „jagen“, ebenso prüfenswert wie die Äußerung, „Impfen Macht Frei“, die eindeutige Assoziationen weckt, wie mit denjenigen zu verfahren sei, die sich nicht impfen lassen wollen.
Einen Bruch mit der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Meinungsfreiheit stellt auch der Umgang des LG mit dem modifizierten Salone-Zitats dar. Das Gericht unterstellt dem Beschuldigten hier einen Schritt in die Selbstjustiz und damit die Abkehr vom staatlichen Gewaltmonopol. Der Hinweis auf die Gefahren eines faschistischen Systems insinuiere, dass sich die Bürger selbst gegen diejenigen (körperlich) zur Wehr setzen sollten, die die vermeintliche Wiederkehr des Faschismus vorantreiben. Das BVerfG hat wiederholt entschieden, dass bei mehrdeutigen Äußerungen alle denkbaren Varianten zu berücksichtigen sind und im Zweifel die für den Beschuldigten günstigere anzunehmen ist.[33] Es ist daher unverständlich, weshalb das LG nicht die naheliegende[34] Erwägung anstellt, dass der Beschuldigte mit seiner Aussage auf demokratische Defizite während der Pandemie hinweisen wollte – die im Übrigen von verschiedener Seite seriös kritisiert wurden, und die sich zum Beispiel in Gestalt des verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Organs der „Ministerpräsidentenkonferenz“ mit weitgehender Gewaltkulmination in den Händen der Exekutive kaum ernstlich bestreiten lassen.[35] Ohne Zweifel ist die Parallele zu faschistischen Systemen in problematischer Weise überspitzt. Doch in einem freiheitlichen Rechtsstaat wird Übertreibung bis hin zur Polemik als Mittel des öffentlichen Meinungskampfes von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt;[36] sie sind ein bekanntes und häufig herangezogenes Stilmittel, um Aufmerksamkeit für den eigenen Standpunkt zu wecken. Aus der Kritik des Beschuldigten eine Eignung zur Begehung von Straftaten zu lesen, verletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit.
Zudem offenbart sich im Kölner Fall die Schwäche des Bestimmungserfordernisses. Woraus das LG den Schluss zieht, dass der Beschuldigte durch seine Posts andere zu Straftaten veranlassen wollte, bleibt im Dunkeln. Das LG bleibt eine Erklärung schuldig, weshalb es angesichts des offensichtlichen politischen Engagements des Beschuldigten nicht davon ausging, dass er auf eine Dokumentation des von ihm als „Unrecht“ empfundenen öffentlichen Verhaltens anderer Personen während der Pandemie zielte – auch um die gebotene gesellschaftliche Aufarbeitung zu ermöglichen.
Weil das LG Köln einen Schwerpunkt seiner Argumentation sowohl für das Eignungs- als auch das Bestimmungserfordernis auf die Tatsache stützt, dass der Angeklagte anderen „Unrecht“ vorgeworfen und sie als „Täter“ bezeichnet hat, wäre es erforderlich gewesen, sich mit dem Gehalt des Vorwurfs inhaltlich auseinanderzusetzen. Der Beschluss enthält hierzu allerdings keinerlei Erwägungen. Insoweit wird auch der doppelte Standard deutlich, den das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt. Wirft es dem Angeklagten vor, „Unrecht“ fälschlich angeprangert und dadurch seine Rechtsfeindlichkeit unter Beweis gestellt zu haben, müsste das Gericht doch fragen, ob nicht das Auffordern zum „Wegimpfen“ von Corona-Kritikern oder das „Jagen“ Ungeimpfter „mit dem Blasrohr“ eben solches Unrecht darstellt.
Der Blick auf den strafrechtlichen Umgang mit Meinungsäußerungen während der Pandemie lässt daher ein gewisses Ungleichgewicht vermuten. Von Anklagen gegen Personen, die Ungeimpfte oder Gegner von Corona-Schutzmaßnahmen öffentlich diffamiert haben, ist jedenfalls wenig bekannt.[37] Weshalb herabwürdigende Äußerungen gegenüber Ungeimpften die Justiz nicht beschäftigen, wohl aber eine wörtliche und öffentliche Dokumentation eben dieser Äußerungen die Eröffnung einer Hauptverhandlung rechtfertigen soll, lässt sich weder kriminal- noch gesellschaftspolitisch erklären. Für das Recht und damit die Rechtsprechung sollte eines feststehen: Unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung ist vor dem Recht jeder gleich zu behandeln. Meinungen werden nicht deshalb zu Straftaten, weil sie politisch unerwünscht sind; auf Mehrheitsverhältnisse darf es bei der Bewertung öffentlicher Äußerungen im Meinungskampf selbstverständlich nicht ankommen. Durch seine offene Formulierung und den breiten Spielraum bei der Bewertung denkbarer Folgen einer Meinungsäußerung birgt § 126a StGB die strukturelle Gefahr, die praktische Anwendung des Strafrechts den politischen Einschätzungen des jeweiligen Entscheiders zu unterwerfen.
3. Der Kölner Fall als Mahnung für die gebotene politische Zurückhaltung des Strafrechts
Im Kölner Fall zeigt sich, wie gefährlich es ist, wenn Strafgesetze immer weiter in den politischen Meinungskampf vordringen. Bei der Fassung der Vorschrift des § 126a StGB ist der Gesetzgeber hinter den Anforderungen an die strafrechtliche Regulierung der Meinungsfreiheit zurückgeblieben. Das Ergebnis ist ein Strafgesetz, das weit in das Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen ausgreift und jede klare Konturierung der Gefährlichkeit des konkreten Verhaltens vermissen lässt.
Die als Begrenzungen der Strafnorm gedachten Merkmale der Eignung und der Bestimmung erweisen sich auch in der Praxis als zu vage. Die Gesetzesbegründung hilft wenig weiter, indem sie die Rechtsanwendung auf eine Gesamtwürdigung der Tatumstände und damit auf eine Einzelfallbetrachtung verweist. Dies läuft letztlich darauf hinaus, dass das jeweilige Tatgericht das Anliegen einer Dokumentation, deren potenzielle Folgen und die Motivlage des Verfassers bewerten muss. Damit wird das Gericht notwendig in den politischen Meinungskampf hineinversetzt und hat darüber zu entscheiden, ob ein für sich genommen neutrales Verhalten (die Zusammenfassung und Veröffentlichung öffentlich zugänglicher Daten) im konkreten Fall so gefährlich ist, dass sie Strafe verdient. Diese Argumentation wird – wie der Kölner Fall zeigt – nicht ohne eine Bewertung der Position dessen auskommen, der die Dokumentation vornimmt. Welche Gesinnung haben der Verfasser und seine Adressaten? Wie gehaltvoll ist seine Meinung? Hierdurch werden gerade Minderheitspositionen einem erhöhten Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt. Diese gesetzgeberische Logik begründet praktisch auch die Gefahr eines Verstoßes gegen die strafrechtsdogmatische Einsicht, dass ein für sich genommen rechtlich neutrales Verhalten nicht deshalb ein verbotenes wird, weil derjenige, der es ausübt, eine „schlechte“ oder „verwerfliche“ Gesinnung hat.[38]
Im Kölner Fall haben sich diese Befürchtungen bewahrheitet. Das LG hat die Eignung und damit die Gefährlichkeit des Verhaltens – wie sollte es auch anders sein – durch eine Bewertung der Meinungsinhalte vorgenommen, die der Beschuldigte vertrat und mit anderen teilte. Der Beschuldigte stand während der Pandemie Impfungen mit den COVID-19-Vakzinen kritisch gegenüber. Dass er anderen unter Heranziehung einschlägiger und nachweislich tatsächlich von ihnen stammender Zitate vorwarf, ihn und andere Ungeimpfte ausgegrenzt, diffamiert, diskreditiert, beleidigt und gecancelt zu haben, versteht das LG Köln als Anhaltspunkt für eine rechtsfeindliche Gesinnung. Dabei geht es mit keiner Silbe darauf ein, dass es jedem Bürger prinzipiell freisteht, auf von ihm wahrgenommenes Unrecht hinzuweisen. Die Fokussierung der Strafjustiz auf den Beschuldigten unter Ausblendung der Frage, ob auch nur eine der Äußerungen, die der Beschuldigte in seinem Post zitiert, strafrechtlich relevant ist, lässt die strafgerichtliche Aufarbeitung von Äußerungsdelikten in der Pandemie politisch einseitig erscheinen.
Die Nachwehen der Pandemie dauern bis heute an und beschäftigen die Gerichte noch immer. In dieser Situation erweist es sich als besonders schädlich, wenn sich die diskursive Schieflage während der Pandemie nunmehr in einer ebenso einseitigen strafrechtlichen Sanktionierung von Meinungsäußerungen fortsetzt. Insofern ist der Kölner Fall als Mahnung zu verstehen: Strafrecht ist der politischen Neutralität verpflichtet. Werden neue Strafgesetze geschaffen, sollte der Gesetzgeber die Risiken eines politisierten Strafrechts und dessen erhebliche Eingriffstiefe in die Meinungsfreiheit gerade von Minderheiten bedenken.
VI. Resümee: Plädoyer für eine Streichung von § 126a StGB
Pandemie, Klimawandel, ein Krieg in Europa – die Zeiten halten Herausforderungen bereit, für die unsere Gesellschaft Antworten finden muss. In einer Demokratie gelingt dies über praktische Deliberation, in deren Zentrum der freie Meinungsaustausch steht. Im Grunde liegt hierin eine große Zumutung, setzen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse doch die ständige Konfrontation mit Andersdenkenden und deren Argumenten voraus. Dennoch zeigt sich hierin gerade die Stärke eines demokratischen Gemeinwesens. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als misslich, wenn der Ton in den Debatten rauer wird, wenn ganze Themen nicht mehr offen miteinander besprochen werden, und Menschen sich stattdessen in ihre jeweiligen „Lager“ zurückziehen. Hierfür müssen von Seiten der Politik Lösungen gefunden werden. Eines steht dabei allerdings fest: Diskurse werden nicht unbedingt besser, wenn sie beschnitten werden. Das gilt auch und gerade für neue Strafgesetze. In seiner Rechtsprechung hat das BVerfG wiederholt strenge Grenzen dafür formuliert, unter welchen Voraussetzungen Strafgesetze die Meinungsfreiheit regulieren dürfen. Für ein demokratisches Gemeinwesen erweist es sich als gefährlich, den strafrechtlichen Korridor scharf an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen zulasten der freien Rede immer weiter auszudehnen. Aus diesem Grund sollte die Vorschrift des § 126a StGB in seiner jetzigen Fassung, die keine durch das Verhalten hervorgerufene Gefahr verlangt, nicht länger fortbestehen. Für ihre Streichung spricht nicht zuletzt, dass Entscheidungen wie die des LG Köln eine erheblich negative Auswirkung auf die Meinungsfreiheit in einer freien Gesellschaft haben. Das Judikat wirkt einschüchternd; auch, weil aus ihm ein doppelter Standard erkennbar wird, den die Gerichte bei der Bewertung der unterschiedlichen Meinungslager während der Pandemie zugrunde legen. In einer freiheitlichen Demokratie hat sich das Strafrecht im gesellschaftlichen Meinungskampf zurückzuhalten, solange Rechtsgüter anderer nicht tatsächlich erkennbar bedroht sind. § 126a StGB wird diesen Voraussetzungen nicht gerecht und sollte gestrichen werden.
[1] S. zu diesem Befund Mau/Lux/Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt, 2. Aufl. (2023); Rostalski, Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit, 2024, S. 106 ff.
[2] S. zum Ganzen Rostalski (Fn. 1), insbesondere S. 61 ff.
[3] Vgl. nur die wenig kritischen Stellungnahmen der im Gesetzgebungsverfahren angehörten Sachverständigen Eisele, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/842334/6d123255de53767f105a339e9cbba313/stellungnahme-eisele.pdf (zuletzt abgerufen am 3.4.2024), sowie Kubiciel, online abrufbar unter:https://www.bundestag.de/resource/blob/842718/03620e078ff3b41838eba0c5a1a49bd4/stellungnahme-kubiciel-data.pdf (zuletzt abgerufen am 3.4.2024).
[4] S. nur die Stellungnahme des Sachverständigen Basar, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/842738/3875cdf3e09341c9384444202721d1e2/stellungnahme-basar.pdf (zuletzt abgerufen am 3.4.2024).
[5] BT-Drs. 19/28678, S. 1.
[6] BT-Drs. 19/28678, S. 8.
[7] Stellungnahme von Eisele (Fn. 3), S. 2.
[8] Absatz 2 enthält eine Qualifikation des Grunddelikts, sofern die Daten nicht allgemein zugänglich sind.
[9] Rackow, in: BeckOK-StGB, 60. Ed. (Stand: 01.11.2023), § 126a Rn. 5.
[10] Stellungnahme von Eisele (Fn. 3), S. 2; Rackow, in: BeckOK-StGB, § 126a Rn. 6.
[11] BT-Drs. 19/28678, S. 11. Diese Wirkung hat der Gesetzgeber dadurch einzuhegen versucht, dass er über § 126a Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 86 Abs. 4 StGB geregelt hat, dass die Vorschrift keine Anwendung findet, „wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient“.
[12] BT-Drs. 19/28678, S. 11.
[13] Stellungnahme von Eisele (Fn. 3), S. 3; Rackow, in: BeckOK-StGB, § 126a Rn. 8.
[14] BT-Drs. 19/29638, S. 8.
[15] Heger, in: LKH-StGB, 23. Aufl. (2023), § 126a Rn. 4; Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 126a Rn. 8.
[16] Online abrufbar unter: https://molfar.com/en/enemies (zuletzt abgerufen am 3.4.2024).
[17] BT-Drs. 19/29638, S. 8. Zum Phänomen etwa Bredler/Markard, JZ 2021, 864 (870); Augsberg/Petras, JuS 2022, 97 (105); Hestermann/Hoven/Autenrieth, KriPoZ 2021, 204 (204 f.). Silencing effects infolge von Hate Speech wurden 2020 in einer Studie nachgewiesen durch die Forschungsgruppe g/d/p in Kooperation mit der Universität Leipzig, Hate Speech – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage (S. 1), abrufbar unter: https://www.jura.uni-leipzig.de/fileadmin/Fakult%C3%A4t_Juristen/Professuren/Hoven/gdp_Ergebnisse_HateSpeech_Kurzbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 8.4.2024).
[18] Zur Legitimation von Verhaltens- und Sanktionsnormen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit s. Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 52 ff. insbes. S. 87; Timm (Rostalski), Gesinnung und Straftat. Besinnung auf ein rechtsstaatliches Strafrecht, 2012, S. 64 ff.; dies., Der Tatbegriff im Strafrecht, 2021, S. 70 ff.; Freund, in: MüKo-StGB, Bd. 1, 4. Aufl. (2020), Vorb. § 13 Rn. 27; ders., in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Bd. 3, 2021, § 59 Rn. 7; Freund/Rostalski, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. (2019), § 1 Rn. 55 ff.; zur zweifachen Relevanz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes s. auch Frisch, Tatbestands-mäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 74 f., 77 f.
[19] BVerfG, NJW 2018, 2861 (2863). Vgl. auch BVerfG, NJW 2010, 47 (53).
[20] BT-Drs. 19/28678, S. 11.
[21] BVerfG, NJW 2010, 47 (52).
[22] BVerfG, NJW 2010, 47 (52 f.).
[23] BVerfG, NJW 2010, 47 (53).
[24] Grimm, NJW 1995, 1697 (1703) sowie BVerfGE 43, 130 (136) („einschüchternde Wirkung“).
[25] BT-Drs. 19/28678, S. 8.
[26] Hoven, Der neue § 130 ist eine Gefahr für die kritische Diskussion, erschienen in der WELT am 26.10.2022, online abrufbar unter: https://www.welt.de/kultur/plus241798753/Volksverhetzung-Der-neue-130-ist-eine-Gefahr-fuer-die-kritische-Diskussion.html (zuletzt abgerufen am 8.4.2024); s. weitere Kritik bei Strate, Kriminalisierung des politischen Gegners, erschienen im Cicero am 3.10.2022, online abrufbar unter: https://www.cicero.de/innenpolitik/verharmlosung-von-kriegsverbrechen-volksverhetzung-meinungsfreiheit (zuletzt abgerufen am 8.4.2024); Rhein-Fischer, Regieren der Erinnerung durch Recht, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/regieren-der-erinnerung-durch-recht/ (zuletzt abgerufen am 8.4.3024); Steinke, Leugnen zwecklos, erschienen in der SZ am 25.10.2022, online abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/holocaust-voelkermord-leugnung-deutschland-1.5681387 (zuletzt abgerufen am 8.4.2024) und Rebmann/Schlicksupp, ZStW 2023, 84 (93). Bloße Anwendungsschwierigkeiten sieht freilich Kubiciel, Welcher Skandal?, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/welcher-skandal/ (zuletzt abgerufen am 8.4.2024). Mitsch, KriPoZ 2023, 17 (17 ff.) kritisiert lediglich den „schwammigen“ Wortlaut der Vorschrift.
[27] S. nur den neuen § 22a BVerfSchG, der die Kompetenzen der Verfassungsschutzbehörden erweitert auf die Übermittlung personenbezogener Daten an inländische nichtöffentliche Stellen.
[28] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/freiheitsgefuehl-der-deutschen-leichtes-hoch-nach-talfahrt-18564165.html (zuletzt abgerufen am 3.4.2024).
[29] Assion/Schmidt, Neues Feindeslisten-Strafrecht im Einsatz gegen Journalisten, erschienen bei LTO am 2.6.2024, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/durchsuchungen-tuerkische-journalisten-strafrecht-verfassungsrecht-gg-feindeslisten-126a-stgb-staatsanwaltschaft-darmstadt/ (zuletzt abgerufen am 3.4.2024).
[30] Sämtliche Zitate sind LG Köln 113 Qs 1/24, 330 Js 188/22 – bislang noch unveröffentlicht, liegt Verf. vor – entnommen.
[31] S. zu einer solchen etwa https://pandemieaufarbeitung.net/ (zuletzt abgerufen am 3.4.2024).
[32] S. zur Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), Vorb. § 185 Rn. 56 ff.; Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), Vorb. § 185 Rn. 5 ff.; Valerius, in: BeckOK-StGB, 60. Ed. (Stand: 1.2.2024), § 185 Rn. 8 ff; Geppert, NStZ 2013, 553 (553 ff.); Rüthers, NJW 2016, 3337 (3337 ff.).
[33] BVerfG, NJW 2006, 3769 (3773); BVerfG, NJW 2009, 3016 (3018, Rn. 31).
[34] Eine solche Auslegung der Stellungnahme steht in offenkundigem Einklang mit der Zielsetzung der Website, die Zeit der Pandemie aufzuarbeiten.
[35] S. umfassend Kingreen, NJW 2021, 2766 ff.; Brocker, NVwZ 2020, 1485; Waldhoff, NJW 2021, 2772; Dreier, DÖV 2021, 229; Gusy, DÖV 2021, 757; Brocker, DÖV 2021, 1; Boehme-Neßler, DÖV 2021, 243.
[36] BVerfG, NJW 2009, 908 (909); BVerfG, NJW 1983, 1415 (1416); BVerfG, NJW 2009, 749 (749); BVerfG, NJW 1995, 3303 (3303).
[37] Zumindest wir konnten keine einschlägigen Anklagen oder Verurteilungen ausfindig machen.
[38] Timm (Rostalski) (Fn. 18), S. 80, 86 f.