KriPoZ-RR, Beitrag 46/23

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

Leitsatz der Redaktion:

Bei der Beurteilung der Arg- und Wehrlosigkeit von Kleinkindern ist auf einen schutzbereiten Dritten abzustellen. Dieser muss den Schutz tatsächlich leisten können, sich also in räumlicher Nähe zum Tatort befinden. Daran fehlt es jedenfalls, wenn der Dritte aufgrund der Entfernung den Angriff nicht wahrnehmen kann und eine Gegenwehr zu spät käme.

Sachverhalt:

Die Angeklagte wurde vom LG Schweinfurt wegen Mordes verurteilt. Ihr wird vorgeworfen, in dem von ihr und ihrem Ehemann bewohnten Zimmer einer Asylunterkunft, ihr drei Monate altes Kind getötet zu haben. Der Ehemann der Angeklagten befand sich währenddessen im Außenbereich der Unterkunft, ca. 360 Meter vom Gebäude entfernt.

Entscheidung des BGH:

Auf die Revision der Angeklagten hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Er führt aus, dass es im Rahmen der Heimtücke bei der Beurteilung der Arg- und Wehrlosigkeit von Kleinkindern auf einen schutzbereiten Dritten ankomme. Dieser müsse den Schutz auch tatsächlich leisten können, was eine räumliche Nähe zum Tatort voraussetze. Eine räumliche Nähe sei jedenfalls nicht gegeben, wenn der Dritte den Angriff nicht wahrnehmen könne und aufgrund der Distanz seine Gegenwehr zu spät käme. Anhand der Feststellungen des LG sei nicht ersichtlich, dass der Ehemann im Außenbereich der Unterkunft die Möglichkeit hatte den Angriff wahrzunehmen, sodass das Merkmal der Heimtücke nicht erfüllt sei.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 45/23

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

Leitsatz der Redaktion:

Ein Versuch ist dann fehlgeschlagen, wenn der Täter die Tat objektiv nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln vollenden kann, ohne dabei einen neuen Handlungs- oder Kausalverlaufs in Gang zu setzen und er die Vollendung subjektiv für unmöglich hält.  Die bloße außertatbestandliche Zielerreichung führt nicht zur Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs oder einem unfreiwilligen Handeln des Täters.

Sachverhalt:

Der Angeklagte wollte mit unbezahlter Ware in seinem Rucksack einen Supermarkt verlassen. Als ihn im Kassenbereich der Ladendetektiv ansprach, griff er diesen mit einem Messer an, um sein Gewahrsam an den Waren zu erhalten und sich einer Festnahme zu entziehen. Der Ladendetektiv konnte dem Angriff ausweichen. Im Folgenden blieb er auf Distanz, sodass dem Angeklagten die Flucht mit der Ware gelang. Das LG Oldenburg verurteile den Angeklagten daraufhin wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung.

Entscheidung des BGH:

Die Annahme des LG, dass der Versuch der gefährlichen Körperverletzung bereits fehlgeschlagen, beendet und der Rücktritt jedenfalls nicht freiwillig sei, hielt der rechtlichen Prüfung des BGH nicht stand. Der BGH führt aus, dass ein Versuch dann fehlgeschlagen sei, wenn der Täter die Tat objektiv nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln vollenden könne, ohne dabei einen neuen Handlungs- oder Kausalverlauf in Gang zu setzen und er die Vollendung subjektiv für unmöglich hält. Aufgrund der fortbestehenden Nähe des Ladendetektivs zum Angeklagten und der damit fortbestehenden Einwirkungsmöglichkeit, sah der BGH den Versuch im zuvor geschilderten Fall als nicht fehlgeschlagen und unbeendet an. Diesen Versuch habe der Angeklagte freiwillig aufgegeben, indem er die Flucht ergriff. Der Freiwilligkeit stehe nicht entgegen, dass er hiermit das anfänglich verfolgte Ziel – nämlich das Entkommen mit der Beute – erreichte. Die außertatbestandliche Zielerreichung führe nicht zur Annahme, dass ein fehlgeschlagener Versuch vorliege oder die Freiwilligkeit ausgeschlossen sei.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 44/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier

BVerfG, Beschl. v. 14.6.2023 – 2 BvL 3/20 u.a.: BVerfG lehnt Richtervorlagen zu BtMG ab

Leitsatz der Redaktion:

Eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG erfolgt lediglich in Bezug auf eine entscheidungserhebliche Norm. Dabei hat die Vorlage die Änderung der Sach- oder Rechtslage substantiiert darzulegen.

Sachverhalt:

Die AG Bernau bei Berlin, Münster und Pasewalk haben dem BVerfG eine Richtervorlage zum strafbewehrten Verbot von Cannabisprodukten vorgelegt. Die AG berufen sich auf einen unverhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG).

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG erklärte die Richtervorlagen für unzulässig. 

Sofern sich die Vorlagen auf sämtliche Normen des BtMG bezogen, lehnte das BVerfG diese aufgrund der fehlenden Entscheidungserheblichkeit ab. Die Entscheidungserheblichkeit jeder Norm müsse im Einzelfall begründet werden, sodass eine konkrete Normenkontrolle nicht das passende Mittel für eine Feststellung der Verfassungsmäßigkeit aller Regelungen des BtMG darstelle.

In Bezug auf die übrigen Vorlagen führte das BVerfG aus, dass die AG nicht hinreichend darlegten, dass seit der letzten Entscheidung des BVerfG (Beschluss vom 9. März 1994) rechtserhebliche Änderungen der Sach- oder Rechtslage eingetreten seien, welche eine erneute Befassung des Gerichts mit dem Thema begründen.

Nach Ansicht des BVerfG berücksichtigen die AG die mit dem BtMG gesetzgeberisch – und in der Entscheidung vom 9. März 1994 gebilligten – verfolgten Zwecke nicht ausreichend. Die AG gingen in ihren Vorlagen selbst nicht davon aus, dass Cannabisprodukte gänzlich ungefährlich seien, sodass sie nicht hinreichend begründeten, weshalb die damals gebilligte Zielsetzung des BtMG keinen Bestand mehr haben solle.

Anders als in einigen Vorlagen aufgeführt, wurde ein „Recht auf Rausch“ durch die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1994 nicht abgelehnt. Es unterwarf solche Handlungen lediglich nicht dem unbeschränkten Kernbereich privater Lebensgestaltung, sodass die Schranken des Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG Anwendung finden.

Weiterhin seien bloße gesellschaftliche Entwicklungen nicht in der Lage die gesetzgeberisch verfolgte Intention der Normen aus dem BtMG verfassungsrechtlich in Frage zu stellen. Die Anpassung eines Strafgesetzes an aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sei Aufgabe des Gesetzgebers.

Im Hinblick auf den aufgeworfenen medizinischen Nutzen von Cannabisprodukten führt das BVerfG aus, dass den Vorlagen die Verknüpfung zu bestehenden Regelungen zur medizinischen Nutzung fehle. Auch bei dem Vergleich zwischen dem Umgang mit Alkohol und Nikotin einerseits und Cannabisprodukten andererseits fehle es an einer substantiierten Darlegung der Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse. Dabei stellt das BVerfG unter anderem darauf ab, dass der Gesetzgeber den Konsum von Alkohol nicht effektiv unterbinden könne. Dies führe jedoch nicht dazu, dass es durch Art. 3 Abs. 1 GG geboten sei auf das Cannabisverbot zu verzichten.

In Bezug auf die Begriffe der geringen Menge (§ 31a Abs. 1 S. 1 BtMG) bzw. der nicht geringen Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) sei letztlich auch kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG gegeben. Diese Begriffe können nach den Ausführungen des BVerfG anhand der üblichen Auslegungsmethoden oder anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgefüllt werden.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 43/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 20.6.2023 – 5 StR 67/23: Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB bei jedem zweckgerichteten Gebrauch eines objektiv gefährlichen Tatobjekts erfüllt

Leitsatz der Redaktion:

Das Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB liegt bei jedem zweckgerichteten Gebrauch eines objektiv gefährlichen Tatobjekts vor. Ausreichend ist demnach, dass der Täter seine verbale Drohung dadurch unterstreicht, dass er das Werkzeug für das Tatopfer deutlich sichtbar hält und er sich dessen bewusst ist.

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Berlin wegen schwerer räuberischer Erpressung gem. §§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB in Tateinheit mit versuchtem Diebstahl gem. §§ 242, 22, 23 StGB verurteilt. Nach den Feststellungen des LG suchte der Angeklagte nachts zusammen mit dem Zeugen M. einen Imbiss auf, in dem sich der dort beschäftigte Zeuge G befand. Auf Grundlage eines gemeinsamen Tatplans hielt der Angeklagte dem Zeugen G gut sichtbar einen – zum Zweck des Aufbrechens eines Spielautomaten – mitgebrachten Schraubendreher entgegen, ohne diesen dabei zu bewegen. Er forderte ihn auf, ihm Bargeld aus der offenen Kasse übergeben. Dabei war dem Angeklagten bewusst, dass er einen Widerstand des Zeugen G durch den Einsatz des Schraubendrehers als Drohmittel oder gegen den Körper überwinden könnte. G entnahm der Kasse mindestens 150 Euro und überreichte sie dem Angeklagten, der das Geld an den Zeugen M weitergab.

Anschließend hebelte der Angeklagte im Nebenraum einen Spielautomaten auf und entnahm diesem eine durch ein Schloss gesicherte Geldkassette mit der Intention das darin enthaltene Geld zu behalten. Durch einen ausgelösten Alarm wurde ein Polizeibeamter auf die Situation aufmerksam. Während eines Gerangels zwischen dem Angeklagten und dem Polizeibeamten, ergriff der Zeuge M mit dem Bargeld die Flucht, während die Geldkassette verschlossen im Imbiss verblieb.

Entscheidung des BGH:

Die Revision der Staatsanwaltschaft war erfolgreich. Das LG habe nicht erkannt, dass weitere Qualifikationsmerkmale in den beiden Geschehensabschnitten erfüllt waren.

Im ersten Geschehensabschnitt sei zusätzlich das Merkmal des Verwendens eines gefährlichen Werkzeugs nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB verwirklicht. Aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit sei ein Schraubendreher dazu geeignet erhebliche Verletzungen hervorzurufen, sodass er ein gefährliches Werkzeug i.S.d. Vorschrift darstelle. Der Senat führt weiter aus, dass für ein Verwenden jeder zweckgerichtete Gebrauch eines objektiv gefährlichen Tatobjekts ausreiche.  Im zuvor geschilderten Fall sieht der BGH das Qualifikationsmerkmal bereits dadurch erfüllt, dass der Täter das Werkzeug deutlich erkennbar in der Hand hielt und ihm bewusst war, dass der Zeuge G dies auch wahrnahm. Nicht erforderlich sei die Ankündigung oder Ausführung weiterer Hieb- oder Stichbewegungen in Richtung des Bedrohten. Entgegen der Ansicht des LG wurde der Schraubendreher daher als gefährliches Werkzeug verwendet.

Im zweiten Geschehensabschnitt liege darüber hinaus ein Diebstahl mit Waffen nach § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB vor. Für die Annahme dieses Qualifikationsmerkmals reiche bereits die mit dem Beisichführen einhergehende latente Gefahr des Gebrauchs aus. Weiterhin müsse der Täter das Werkzeug griffbereit haben oder sich seiner stets ohne einen nennenswerten Zeitaufwand bedienen können. Auch dies werde durch die Urteilsgründe belegt, so der BGH.

KriPoZ-RR, Beitrag 42/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 17.1.2023 – 2 StR 459/21: Unterlassen durch zwei Garanten stellt keine gemeinschaftliche Tatbegehung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB dar

Amtlicher Leitsatz:

§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB setzt voraus, dass der Täter mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich die Körperverletzung begeht. Das ist bei einem Unterlassen durch zwei Garanten nicht der Fall.

Sachverhalt:

Die Angeklagten wurden vom LG Darmstadt wegen schwerer Misshandlung einer Schutzbefohlenen durch Unterlassen in Tateinheit mit einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, ihre gemeinsame Tochter so sehr vernachlässigt zu haben, dass diese infolge einer längeren Mangelernährung in einen lebensbedrohlichen Zustand versetzt wurde.

Entscheidung des BGH:

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH kommt eine gemeinschaftliche Tatbegehung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht in Betracht, wenn sich neben einem aktiv handelnden Täter eine andere Person passiv verhält. Der 2. Strafsenat zieht in dem oben beschriebenen Fall einen Erst-Recht-Schluss und argumentiert, dass auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung das Unterlassen von zwei Personen erst recht nicht die Anforderungen an eine gemeinschaftliche Begehung erfüllen kann.

Der Wortlaut der Norm („mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“) gebe keinen Aufschluss hinsichtlich der Voraussetzungen, die an eine gemeinschaftliche Begehungsweise zu stellen sind. So könne der Ausdruck „gemeinschaftlich“ dahingehend gedeutet werden, dass eine Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB vorliegen müsse, während der Begriff „Beteiligter“ dahingehend aufgefasst werden könne, dass ebenfalls eine Teilnahme (§ 28 Abs. 2 StGB) und zwar auch in der Konstellation eines Unterlassens in Betracht kommt.

Das o.g. Verständnis ergebe sich daher lediglich aus einer teleologischen Auslegung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, so der 2. Strafsenat. Ratio legis des Tatbestandsmerkmals der gemeinschaftlichen Begehungsweise sei die besondere Gefahr, welche aus einem Handeln mehrerer Personen hervorgeht, nämlich eine Einschränkung von Abwehr- und Fluchtoptionen sowie das Hervorrufen erheblicher Verletzungen. Diese spezifische Gefahr liege jedoch bei einem Unterlassen nicht vor.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 41/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 24.5.2023 – 2 StR 320/22: Heimtücke setzt keine Heimlichkeit voraus

Sachverhalt:

Das LG Köln hat den Angeklagten u.a. wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen fuhr der mit einer Schusswaffe bewaffnete Angeklagte am Tattag mit der sich auf dem Beifahrersitz befindlichen Geschädigten im PKW an einen unbekannten Ort. In Tötungsabsicht schoss der Angeklagte der Geschädigten zwei Mal in den Kopf, woraufhin diese verstarb. Hierbei befand sich der Angeklagte in maximal einem Meter Abstand zur Geschädigten außerhalb des PKW. Nicht feststellbar waren Reihenfolge und zeitliche Abstände der beiden Schüsse. Das Vorliegen des Mordmerkmals der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe hat das LG abgelehnt. Gegen die Entscheidung haben die Nebenkläger Rechtsmittel eingelegt.

Entscheidung des BGH:

Die zulässigen Revisionen haben Erfolg. Rechtsfehlerhaft habe das LG Köln eine heimtückische Begehungsweise verneint, indem es den Zeitpunkt des ersten Schusses zugrunde gelegt habe und damit das Mordmerkmal zu eng ausgelegt habe. Der Strafsenat führt aus, dass es – nach stetiger Rechtsprechung – für die Heimtücke einer Arglosigkeit, hierauf beruhende Wehrlosigkeit und feindseliger Willensrichtung bedarf. Arglos sei ein Opfer auch bei eingeschränkter Verteidigungs- oder Fluchtmöglichkeit. Relevanter Zeitpunkt sei dabei nicht, wie vom LG Köln fehlerhaft angenommen, der Beginn der eigentlichen Tötungshandlung. Vielmehr sei „der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs“ maßgeblich. Das bedeutet, ein heimtückisches Vorgehen könne auch in Vorkehrungen liegen, sofern die Umstände bei der Tat noch fortwirken. Darüber hinaus stellt der Strafsenat fest, dass ein heimliches Vorgehen kein Erfordernis für heimtückisches Handeln sei. Es komme auf die Verteidigungs- und Fluchtmöglichkeiten des Opfers gegen den dem Opfer feindselig gegenübertretenden Angreifer an. Dies sei vorliegend nicht ausreichend berücksichtigt worden. 

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Dabei sind insbesondere weitere Erkenntnisse zum Tathergang im Hinblick auf die Flucht- und Verteidigungsmöglichkeiten der Geschädigten zu erlangen sowie das Vorliegen niedriger Beweggründe zu prüfen, so der BGH.

KriPoZ-RR, Beitrag 40/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 4 StR 133/23: Vorstrafenbelastung in der Strafzumessung

Sachverhalt:

Die Angeklagte wurde wegen Beihilfe durch Unterlassen zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das LG Münster hatte im zweiten Rechtsgang einen minder schweren Fall gemäß § 176a Abs. 4 StGB abgelehnt und die Verurteilung aufrechterhalten. Hiergegen legte die Angeklagte Rechtsmittel ein.

Entscheidung des BGH:

Die Revision hat im Hinblick auf den Strafausspruch Erfolg. Die Strafzumessung sei fehlerhaft erfolgt. Gemäß § 46 Abs. 2 StGB ist das Vorleben des Täters zu berücksichtigen. Hierzu gehöre auch die Vorstrafenbelastung des Täters. Vorliegend sei die Angeklagte unbestraft gewesen. Das LG Münster habe aber unter dem Strafzumessungsaspekt des Vorlebens nur die Missbrauchserfahrungen und die Haftempfindlichkeit als Erstverbüßerin berücksichtigt und nicht explizit die bisherige Straffreiheit angeführt. Das straffreie Vorleben bilde jedoch einen „gewichtige[n] Strafzumessungsgrund“. 

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des LG Münster zurückverwiesen. 

KriPoZ-RR, Beitrag 39/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung ist hier abrufbar.

BVerfG, Urt. v. 20.6.2023 – 2 BvR 166/16, 2 BvR 1683/17: Regelungen der Strafvollzugsgesetze der Länder Bayern und NRW sind verfassungswidrig (Gefangenenvergütung II)

Amtliche Leitsätze:

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführer, Strafgefangene aus Bayern und NRW, arbeiteten in den jeweiligen Justizvollzugsanstalten in Betrieben. Beide Beschwerdeführer beantragten eine Erhöhung ihres Arbeitsentgelts, die abgelehnt wurde. Nachdem hiergegen eingelegte Rechtsbehelfe zu keinem Erfolg führten, wendeten sich die Beschwerdeführer mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidungen und gegen Art. 46 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 und Abs. 6 S. 1  BayStVollzG bzw. § 32 Abs. 1 S. 2, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW, die die Vergütung von Gefangenenarbeit regeln. Diese seien mit dem Resozialisierungsgebot unvereinbar. 

Entscheidung des BVerfG:

Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und begründet. Die Regelungen im BayStVollzG und StVollzG NRW zur Vergütung von Gefangenenarbeit stellen einen Verstoß gegen das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsgebot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dar, so das BVerfG.

Bei der Ausgestaltung des Strafvollzugs müsse sich der Gesetzgeber nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festlegen, sondern habe einen weiten Gestaltungsspielraum. Das Gesamtkonzept müsse jedoch aus dem Gesetz selbst erkennbar sein und sich am aktuellen Forschungsstand orientieren. Ebenso verhalte es sich mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Höhe der Gefangenenvergütung, sofern Arbeit als Maßnahme zur Erreichung des Resozialisierungsgebots diene. Diese müsse eine geeignete „angemessene Anerkennung“ finden, wobei sowohl monetäre als auch nicht monetäre Vergütungen zu berücksichtigen seien. 

Das Resozialisierungskonzept des Bundeslandes Bayern sei im Hinblick auf Vollzugsziele und Behandlungsmaßnahmen in sich schlüssig. Die Regelungen zur Arbeitspflicht seien hingegen unvereinbar mit dem Opferschutz, der im Rahmen des Resozialisierungskonzepts weiter ausgeweitet werden solle. Eine Schadenswiedergutmachung sei nur mit einer entsprechenden Vergütung für geleistete Arbeit durch den Strafgefangenen umsetzbar. Das BayStVollzG werde zudem – abgesehen vom Kriminologischen Dienst Bayern, der sich jedoch nicht schwerpunktartig mit der Bedeutung von Arbeit und ihrer Vergütung als Behandlungsmaßnahme befasse – nicht wissenschaftlich evaluiert. 

Gleiches gelte für das Resozialisierungskonzept des StVollzG NRW. Zwar seien, nach Ablösung des Strafvollzugsgesetzes des Bundes, die Freistellungstage erhöht worden. Positives Arbeitsverhalten und Anerkennung in Form einer angemessenen Gegenleistung wirke sich jedoch günstiger aus. Auch im Hinblick auf etwaige Entschädigungsleistungen könne durch die Regelungen im StVollzG NRW kein Behandlungserfolg erreicht werden. Der Handlungsspielraum der Strafgefangenen sei angesichts der niedrigen Vergütung für Gefangenenarbeit, also des überhaupt erreichbaren Entgeltes, „realitätsfern“. Eine wissenschaftliche Begleitung des Strafvollzugs zeige sich zwar durch das Projekt „Evaluation im Strafvollzug (EVALiS)“ des Kriminologischen Dienstes NRW. Nicht hingegen werden Auswirkungen von Arbeit im Vollzug und deren Vergütung untersucht, wodurch das Resozialisierungsgebot nicht gewahrt werde. 

Die gesetzlichen Regelungen des BayStVollzG und des StVollzG NRW bleiben bis zum Inkrafttreten einer neuen Regelung anwendbar. 

Anmerkung der Redaktion:

Am 27. und 28.4.2022 erfolgte die mündliche Verhandlung in Sachen Gefangenenvergütung. Mehrere Sachverständige erörterten die Resozialisierungskonzepte der Bundesländer Bayern und NRW sowie die Bedeutung des Faktors Arbeit und der Vergütung. Die Stellungnahme von Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn (DBH) finden Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 38/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

LG Berlin, Beschl. v. 31.5.2023 – 502 Qs 138/22: Straßenblockaden der „Letzten Generation“ als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte

Leitsatz der Redaktion:

Das Festkleben der Hand auf die Fahrbahn stellt eine strafbewehrte Widerstandshandlung i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB dar.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Der Angeschuldigte habe im Sommer 2022 mit weiteren Angeschuldigten an einer Straßenblockade teilgenommen, wobei dieser sich auf die Straße gesetzt und an dieser festgeklebt habe. Nach Lösung des Klebstoffs durch die Polizeivollzugsbeamten, welches zwei Minuten gedauert habe, sei der Angeschuldigte durch die Beamten von der Straße getragen worden. Die Blockade habe zu einem 15-minütigen Stau geführt. Das AG Tiergarten hat den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Mangels Verwerflichkeit liege kein hinreichender Tatverdacht für eine Verurteilung wegen § 240 StGB vor. Einer Verurteilung wegen § 113 Abs. 1 StGB stehe das Vorliegen von Gewalt entgegen. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung eingelegt.

Entscheidung des LG Berlin:

Die zulässige sofortige Beschwerde hat Erfolg. Zwar liege, wie vom AG Tiergarten angenommen, kein hinreichender Tatverdacht wegen Nötigung vor. Der Eröffnungsbeschluss bezüglich Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sei jedoch zu Unrecht abgelehnt worden und damit aufzuheben.

Die Straßenblockade erfülle – entsprechend der Zweite-Reihe-Rechtsprechung – das Tatbestandsmerkmal der Gewalt. Diese sei vorliegend jedoch nicht rechtswidrig. Die Zweck-Mittel-Relation ergebe, dass die Fortbewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer (Art. 2 Abs. 2 GG) hinter die Versammlungsfreiheit des Angeschuldigten (Art. 8 Abs. 1 GG) zurücktrete. Das LG Berlin verweist dabei insbesondere darauf, dass es zu keinen außergewöhnlichen Verkehrsbeeinträchtigungen gekommen sei und der Protestgegenstand einen sehr konkreten Bezugspunkt aufweise. 

Anders verhalte es sich im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen § 113 Abs. 1 StGB. Hier sieht das LG Berlin sowohl im Versuch sich auf die Fahrbahn zu setzen als auch im Festkleben strafbare Widerstandshandlungen. Widerstand stelle eine aktive (nicht passive) Tätigkeit dar, die eine Verhinderung oder ein Erschweren der Durchführung der Vollstreckungsmaßnahme zur Folge habe. Ein Erschweren erfordere, dass „eine nicht ganz unerhebliche Kraft“ seitens der Beamten aufgewendet werden müsse. Straflos hingegen seien einfache Sitzblockaden oder Verweigerungen. Vorliegend habe der Angeschuldigte aber versucht, sich aktiv auf die Fahrbahn zu setzen, sodass die Beamten Zwang in Form von Schieben und Drücken, mithin Kraft anwenden mussten. Das Festkleben der Hand auf die Fahrbahn stelle ebenfalls einen strafbaren Widerstand dar. Hierdurch sei das Wegtragen, mit welchem der Angeschuldigte rechnen musste, erschwert worden. Dieser sei auch „bei der Vornahme einer Diensthandlung“ erfolgt. Es genüge, bei entsprechendem Vorsatz, wenn die notwendige Kraftentfaltung schon vor der Durchführung der Maßnahme der Beamten begonnen habe. Von einer solchen Absicht sei hier auszugehen. 

Die Sache wird zur Anberaumung einer Hauptverhandlung an das AG Tiergarten zurückverwiesen.

Anmerkung der Redaktion:

Kritisch mit der Entscheidung des LG Berlin und dem Gewaltbegriff von § 113 StGB befasst sich Prof. Dr. Martin Heger im Verfassungsblog.

KriPoZ-RR, Beitrag 37/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 4.4.2023 – 3 StR 73/23: Dolus directus ersten Grades in der Strafzumessung

Leitsatz der Redaktion:

Es liegt kein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB vor, wenn das Vorliegen des dolus directus ersten Grades strafschärfend bewertet wird. 

Sachverhalt:

Die Angeklagten wurden vom LG Duisburg wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen verletzten die Angeklagten die Nebenkläger mittels eines Schlagstocks und Baseballschlägers erheblich. Strafschärfend würdigte das LG, dass es den Angeklagten gerade auf die Verletzung eines der Nebenkläger ankam und dabei mit dolus directus ersten Grades handelten. Die Angeklagten haben Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt.

Entscheidung des BGH:

Die Revisionen wurden verworfen. Der direkte Vorsatz könne in der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt werden, sodass die Strafzumessung vorliegend rechtsfehlerfrei erfolgt sei. Grundsätzlich hätten die Vorsatzformen (dolus directus ersten Grades, dolus directus zweiten Grades, dolus eventualis) einen unterschiedlichen Schuldgehalt. Der Strafsenat führt bezüglich der Schuldschwere aus: „Die kriminelle Intensität des Täterwillens ist beim [dolus directus ersten Grades] in der Regel am stärksten ausgeprägt.“ Dem Täter komme es hierbei in erster Linie auf den tatbestandlichen Erfolg an. Die im Rahmen des § 46 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen Beweggründe und Ziele des Täters sowie Gesinnung und aufgewendeter Wille könnten sich durch das Vorliegen von Absicht strafschärfend auswirken. Ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) liege dadurch nicht vor, denn das „unbedingte Streben nach der Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges“ sei kein Tatbestandsmerkmal der Körperverletzungsdelikte. 

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