Zu den Kommentaren springen

KriPoZ-RR, Beitrag 50/23

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung ist hier verfügbar.

Amtliche Leitsätze: 

  1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

  2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.

  3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.

  4. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.

  5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

  6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

 

Sachverhalt:

Der Verfassungsbeschwerde ging im Jahr 1983 ein Freispruch des Beschwerdeführers wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und des Mordes voraus. Im Dezember 2021 trat schließlich § 362 Nr. 5 StPO in Kraft, der es ermöglichte, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer aufgrund neuer Tatsachen wieder aufzunehmen.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG erklärte § 362 Nr. 5 StPO für nichtig. Die Norm verstoße gegen das Mehrverfolgungs- und Rückwirkungsverbot. Der Senat stellt zunächst klar, dass der Schutz des Art. 103 Abs. 3 GG gleichermaßen einem Verurteilten sowie einem Freigesprochenen zugutekommt. Das Verbot der Mehrfachverfolgung richte sich ebenso an den Gesetzgeber und könne nicht durch eine einfachgesetzliche Regelung umgangen werden. Weiterhin betont der Senat, dass die Rechtssicherheit vor der materiellen Gerechtigkeit stehe.

Ermöglicht § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme von Verfahren, die bei dem Inkrafttreten der Norm bereits abgeschlossen waren, liege darüber hinaus ein Fall der sog. „echten“ Rückwirkung vor. Diese sei grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig, sodass auch ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG vorliege.

 

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Durch Abschicken des Formulares wird dein Name, E-Mail-Adresse und eingegebene Text in der Datenbank gespeichert. Für weitere Informationen lesen Sie bitte unsere Datenschutzerklärung.

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen