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Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder

Gesetzentwürfe: 

 

Am 1. Juli 2020 hat das BMJV ein Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder auf den Weg gebracht. 

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht erklärte dazu: „Mit den erschütternden sexualisierten Gewalttaten, die in den letzten Wochen aufgedeckt wurden, wurde Kindern unermessliches Leid zugefügt. Ihr Vertrauen, sicher und geborgen leben zu können, wurde auf das Schlimmste verletzt. Angesichts der Dimension dieser systematisch organisierten Gräueltaten müssen wir ein ganz klares Signal aussenden, dass der Schutz unserer Kinder oberste Priorität hat und die Täter mit aller Konsequenz verfolgt und bestraft werden.

Kein Täter darf sich vor Entdeckung sicher fühlen. Der Verfolgungsdruck muss deshalb massiv erhöht werden. Das schreckliche Unrecht dieser Taten muss auch im Strafmaß zum Ausdruck kommen. Ich will, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder ohne Wenn und Aber ein Verbrechen ist. Gleiches gilt für Kinderpornografie, mit der diese widerlichen Taten gefilmt und verbreitet werden. Wer mit der Grausamkeit gegen Kinder Geschäfte macht, soll künftig mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können.

Gleichzeitig müssen wir die Prävention stärken. Wir brauchen höhere Wachsamkeit und Sensibilität für Kinder, die gefährdet sind oder Opfer von sexualisierter Gewalt wurden. Wichtige Qualifikationen für Familien- und Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte und Verfahrensbeistände werden wir gesetzlich festschreiben.

Neben meinen heutigen Vorschlägen steht ein Vorhaben weiter ganz oben auf der Agenda: Wer es mit dem Schutz von Kindern ernst meint, muss die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. Bei jedem staatlichen Handeln muss das Kindeswohl im Blick sein. Jedem Kind muss zugehört werden. Jeder Anhaltspunkt für eine Gefährdung eines Kindes muss ernst genommen werden. Das würden die Kinderrechte im Grundgesetz verdeutlichen. Im Interesse der Kinder müssen wir über meinen Vorschlag endlich in Bundestag und Bundesrat beraten.“

Das Maßnahmenpaket enthält unter anderem folgende Punkte: 

  • Der Begriff „sexueller Missbrauch von Kindern“ in den §§ 176 bis 176b StGB soll durch „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ ersetzt werden. 
  • Der Grundtatbestand des Kindesmissbrauchs soll ein Verbrechen werden und mit Freiheitsstrafe von einem bis zu 15 Jahren bestraft werden. 
  • Taten ohne Körperkontakt erhalten einen eigenen Tatbestand mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.
  • Der „minder schwere Fall“ des § 176a StGB wird gestrichen.
  • Die Verbreitung von Kinderpornografie soll ein Verbrechen werden und mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu 10 Jahren bestraft werden. Der Besitz und das Besitzverschaffen sollen mit einer Freiheitsstrafen von einem bis zu 5 Jahren betraft werden. Das gewerbs- oder bandenmäßige Handeln soll künftig mit Freiheitsstrafe von 2 bis 15 Jahren geahndet werden können.
  • Der sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen soll tatbestandsmäßig um Tathandlungen mit oder vor Dritten erweitert werden.
  • Ähnlich wie bei der Versuchsstrafbarkeit des Cybergrooming, soll das Vorzeigen pornografischer Inhalte eine Versuchsstrafbarkeit für die Fälle erfahren, in denen der Täter irrig glaubt, mit einem Kind zu kommunizieren, in Wahrheit aber mit einem Elternteil oder Polizeibeamten in Kontakt steht. 
  • Für Familienrichterinnen und Familienrichter sollen spezifische Eingangsqualifikationen vorgeschrieben werden, ebenso sollen besondere Qualifikationsanforderungen für Jugendrichterinnen und Jugendrichter sowie Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte für den Umgang mit kindlichen Zeugen eingeführt werden. 
  • Gleiches gilt für die Verfahrensbeistände, die „Anwälte des Kindes“ im Verfahren sind. 
  • Wie bereits im Bundesrat diskutiert, sollen die Fristen für die Aufnahme von bestimmten Verurteilungen in das erweiterte Führungszeugnis sowie für die Tilgung dieser Eintragungen im Bundeszentralregister verlängert werden. 
  • Die Anordnung von Untersuchungshaft soll in besonders schweren Fällen auch ohne Haftgrund nach § 112 Absatz 2 StPO (Flucht- oder Verdunkelungsgefahr) möglich sein. 

 

 

 

 

1 Gedanke zu „Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“

  1. Offener Brief eines Kriminalwissenschaftlers an Rechtspolitiker
    zu Plänen, das Strafrecht zu verschärfen anlässlich aktueller schwerer Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder

    Sehr geehrte Damen und Herren Rechtspolitiker,
    mit diesem Appell wende ich mich an Sie und alle mit anstehenden kriminalpolitischen Entscheidungen befassten Politiker in der Hoffnung, dass Stimmen aus den Kriminalwissenschaften Gehör finden. Ich fühle mich zu diesem mahnenden Schreiben gehalten als Kriminologe, der in über fünf Jahrzehnten von Forschung, Lehre, Theorie-Praxis-Vermittlung, Politikberatung und publizistischem Wirken stetig auf wissensbasierte Kriminalpolitik hingewirkt hat. Seit geraumer Zeit zeichnet sich eine Kluft zwischen Politik und Wissenschaft ab. Eine kriminalpolitische Fehlentwicklung deutet sich an. Man neigt dazu, hektisch, oft nur symbolisch, zu wenig von Wissen und der Berücksichtigung absehbarer Folgen geleitet, nahezu reflexartig auf spektakuläre Verbrechen zu reagieren. Manche sehen sich getrieben von öffentlicher Empörung und Rufen nach härterem Strafen in Boulevardmedien. Sie bedienen sich vorschnell beliebter Parolen und Vorurteile; so ist allenthalben von zunehmender Gewaltkriminalität und Kuscheljustiz die Rede, obwohl sich eher das Gegenteil abzeichnet.
    Aktuell ist wieder ein wichtiger Anlass zu einem mahnenden Zwischenruf gegeben. Nach den Bekundungen vieler Politiker – namentlich in der Großen Koalition – ist zu erwarten, dass bald über einen Gesetzentwurf zu beraten sein wird, der das Strafrecht verschärfen soll, um sexueller Gewalt gegen Kinder besser entgegenwirken zu können. Damit möchte man auf viele neue, erschütternde Vorfälle, zuletzt die in Münster, reagieren.
    Weitgehende Übereinstimmung dürfte zwischen Wissenschaft und Politik darin bestehen, dass der sexuellen Gewalt gegen Kinder entschieden begegnet werden muss. Das schließt strafrechtliche Mittel nicht aus. Strafrecht darf aber nach aufgeklärtem, rechtsstaatlichem, verfassungsrechtlich verankertem Verständnis nur letztes Mittel – ultima ratio – sein. Andere Ansätze von sozialer Kontrolle, Prävention, Intervention müssen ausgeschöpft sein oder sich als unzureichend erweisen.
    Kriminalwissenschaftler tragen ganz überwiegend erhebliche Bedenken gegenüber einzelnen in der Diskussion vorgesehenen Maßnahmen. Diese erscheinen weder zweckdienlich noch auf Stimmigkeit mit den Grundlagen geltenden Strafrechts und auf ungünstige Folgen hin bedacht. Zudem setzen einige im Vordergrund der Diskussion stehende Forderungen und Argumentationen von Politikern in Bund und Ländern Verschärfungen des Strafrechts an erste Stelle: Strafrecht als „prima ratio“. Das ist sogar noch in dem detailliert gefassten und durch andere begleitende Maßnahmen erweiterten „Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 1. Juli 2020 der Fall.
    Damit wird ein seit Längerem beschrittener Weg fortgesetzt, der vielen Kriminalwissenschaftler/innen Sorge bereitet: Namentlich das Sexualstrafrecht wird seit Jahren stetig ausgeweitet und verschärft; Gesetzesänderungen enthalten teilweise Systembrüche; sie reagieren nur scheinbar wirksam auf aktuelle aufsehenerregende Fälle; sie suggerieren Verbesserung des Opferschutzes durch rigideres Strafen; sie widersprechen dem Gebot wissensbasierter Kriminalpolitik.
    Wegen dieser Fehlentwicklung richtet sich der Appell an verantwortliche Politiker und Politikerinnen, die parlamentarische Sommerpause auch zu nutzen, um die hier geäußerte Kritik zu prüfen und das Vorhaben einer Strafrechtsverschärfung zur Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder im Sinne eines umfassenden Programms nachhaltigen Kinderschutzes und eventuell einer sinnvollen und stimmigen Gesamtreform des Sexualstrafrechts zu überdenken.
    In einem solchen Programm kann Strafrecht bedeutsam sein mit angemessenen Maßnahmen materiell- oder verfahrensrechtlicher Art, gegebenenfalls auch mit Strafrechtsausweitungen, aber eben nur ergänzend und systemgerecht. So ist es beispielsweise durchaus angebracht, das sog. „Upskirtung“ strafrechtlich zu erfassen. Bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Verbreiten von Kinderpornografie, die bereits jetzt großenteils als „Verbrechen“ unter hohe Strafdrohungen gestellt sind, ist jedoch von noch höheren Strafrahmen und Strafen keine abschreckende Wirkung auf potenzielle Täter zu erwarten. Abschreckend indes kann bekanntlich wirken, wenn Täter ein merklich größeres Risiko erwartet, erkannt, verfolgt und bestraft zu werden. Vorrang kommt deswegen anderen Maßnahmen zu, die wirksamer mögliche Täter beeinflussen können und Opfern tatsächlich helfen.
    Nur Beispiele Erfolg versprechender Maßnahmen seien genannt: Jungendämter müssen besser ausgestattet werden, um aufsuchende Sozialarbeit bei Gefahren für Kinder leisten und wirksam Kontrolle ausüben zu können; Jugend- und Familienrichter/innen müssen für ihre Aufgabe ausgebildet und fortgebildet werden, wie es das „Reformpaket“ vorsieht; es ist dem üblichen unhaltbaren Einwand zu begegnen, dies greife in richterliche Unabhängigkeit ein; Angebote für Pädophile nach dem Modell „Kein Täter werden“ sind flächendeckend auszuweiten statt mancherorts sogar abgeschafft zu werden, ebenso Behandlungsangebote statt, während oder nach Strafverbüßung; Verfolgungskapazitäten bei Polizei und Strafjustiz sind personell – u.a. durch IT-Spezialisten – sowie in technischer Ausstattung drastisch zu stärken, um Kriminalität wie Herstellung und Vermarktung kinderpornografischen Materials besonders im Internet und Darknet besser aufspüren und verfolgen zu können; rechtlich ist hierbei u.a. die „Vorratsdatenspeicherung“ zu klären.

    Wichtigste Punkte der Kritik:
    1. Etliche von Politikern vorgebrachte Begründungen für die Notwendigkeit von Strafrechtsverschärfungen sind populistisch und irreführend. Das gilt besonders für Konsequenzen bei Tätern, die wie jene in Münster und Bergisch Gladbach schweren Kindesmissbrauch begehen. Bereits das geltende Recht sieht für sie Freiheitsstrafen bis zu 15 Jahren vor. Die Strafrahmen sind ausreichend. Insbesondere der Vergleich mit Diebstahlsdelikten geht völlig fehl. Auch erscheinen bloß sprachlich-kosmetische Änderungen wenig hilfreich; so ist die Änderung der Überschrift des § 176 StGB „Sexueller Missbrauch von Kindern“ in „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ fragwürdig, umfasst doch der jetzige Straftatbestand weit mehr als nur gewaltsame Handlungen und findet sich der Begriff des Missbrauchs gleichfalls in anderen Straftatbeständen der §§ 174 ff StGB.

    2. Zu erwägen ist zwar, den Grundtatbestand sexuellen Missbrauchs von Kindern in § 176 StGB teilweise zu einem Verbrechen hochzustufen. Das setzt aber dreierlei voraus:

    Zum Ersten muss der Verbrechens-Tatbestand dann auf gewaltsames sexuelles Verhalten und auf bislang als besonders schwere Fälle gekennzeichnete Sachlagen beschränkt werden; ansonsten würden vergleichsweise banale Fälle mit erfasst und der individuellen Schuld angemessene Verfahrensabschlüsse und Strafen verhindert. Man denke nur an sexuelle Verhaltensweisen wie heftige Küsse schon 18-Jähriger gegenüber unter 14-Jährigen. Hier wie sonst ist zu bedenken, dass bei allen Deliktsarten das Gros der tatsächlich von dem Tatbestand erfassten Sachlagen am unteren Ende der Schuldschwere und Strafwürdigkeit liegt, mitunter an der Grenze dessen, was sich allenfalls noch vom Straftatbestand erfassen lässt. Aus diesem Grund muss in unserem System der Strafandrohungen die jeweilige Untergrenze der Strafe möglichst flexibel bleiben. Schwere und schwerste Taten sind vergleichsweise selten; gerade deswegen weisen Verurteilungsstatistiken nur geringe Anteile von Strafen im obersten Bereich aus; das wird geflissentlich verkannt in mancher Justizschelte. Man denkt in der öffentlichen und politischen Diskussion um Strafrechtsverschärfungen jeweils an die schweren und schwersten Taten; die dann mit erfassten relativ leichten Taten verliert man aus dem Blick.

    Allgemein wird in diesem Zusammenhang unangemessene richterliche Milde gerügt; üblich ist es, auf häufige Strafaussetzungen zur Bewährung hinzuweisen. Für insgesamt zu nachsichtiges Strafen gibt es indes keine wissenschaftlichen Belege. Im Gegenteil sind Anzeichen zunehmender justizieller Strafhärte zu erkennen. Öffentliche Kritik an zu milder Justiz wirkt sich längst auf Verurteilungen aus. Ein Beispiel dafür ist die zunehmend restriktive Praxis, Langzeitgefangene aus Haft und Unterbringung zu entlassen. Ein weiteres Beispiel sind neueste „Raser“-Urteile; in ihnen wird das „Lebenslang“ verhängt; nicht einmal der Bundesgerichtshof prüft dabei, ob sich die für Mord zwingend angedrohte höchste Strafe hier mit dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbaren lässt, obwohl kein direkter, allenfalls ein „bedingter“ – der Fahrlässigkeit naher – Tötungsvorsatz nachweisbar ist. Abgesehen davon würde auch ein „Verbrechen“ der Kindesmisshandlung mit einjähriger Mindeststrafe noch Bewährungsstrafen zulassen.

    Zum Zweiten setzt jede Anhebung eines Vergehens zum Verbrechen voraus, dass man für die vom Wortlaut des Tatbestands mit erfassten viel häufigeren leichteren Taten „minder schwere Fälle“ mit geringeren Mindeststrafen vorsieht. Wiederum populistisch, sachlich unzutreffend ist das Gegenargument, bei „Kindesmissbrauch“ könne es keinen „minder schweren Fall“ geben; jeder Fall sei gravierend; Opfern sei es nicht zuzumuten, wenn man als „minder schwer“ einordne, was ihnen zugestoßen sei. Ähnlich wurde früher bezüglich der Vergewaltigung gegen Frauen argumentiert. Um sprachlich Missverständnisse zu beheben, wurde von uns wiederholt vorgeschlagen, in der Gesetzesterminologie statt der Grundtatbestände und „minder“ oder „besonders schwerer Fälle“ Taten ersten, zweiten oder dritten Grades vorzusehen. Jetzt aber bei einer Verbrechensart den „minder schweren Fall“ auszuschließen, bedeutet einen Systembruch; es hätte zur Folge, dass sich Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte gedrängt sehen könnten, Umgehungsstrategien zu (er)finden, um in diesen Fällen ungerechte Übermaßstrafen zu vermeiden. In der Wirklichkeit weitaus häufigere Fälle verhältnismäßig geringer Schwere gelangen allerdings selten in die Strafverfolgung; wenn sie dort dennoch landen, stehen Entscheidungsträger in diesem Dilemma. Verantwortungsvolle Politik sollte das erkennen und vermeiden. Sonst sind für derartige Rechts-Umgehungen oder für im Einzelfall ungerechte Verurteilungen nicht allein die Gerichte verantwortlich; vor allem ist es der Gesetzgeber, der solche Folgen ignoriert.

    Zum Dritten verlangt eine Anhebung zum „Verbrechen“, das Gesamtsystem der Strafandrohungen in allen vergleichbaren Straftatbeständen des StGB zu überprüfen. So sind Menschenhandel zur sexuellen oder Ausbeutung als Arbeitskraft (§§ 232, 233), Entziehung Minderjähriger (§ 235), Kinderhandel (§ 236), aber auch Freiheitsberaubung und Erpressung (§§ 239, 253) bislang „Vergehen“.

    3. Damit ist bereits Wesentliches ausgeführt zu vorgesehenen Anhebungen von Mindeststrafen. Ohne in Details zu gehen, über die man streiten kann, gilt generell: Mindeststrafen verbauen den Weg, eher bagatellhaften Fällen individuell gerecht zu werden im Verfahren und in der Strafzumessung. Das gilt ganz besonders für Alltags-Massendelikte wie den Erwerb und Besitz kinderpornografischen Materials, etwa das bloße Anklicken eines kinderpornografischen Links im Internet. Auf die ohnehin bei uns und international kritisch erörterte „Besitzbestrafung“ (z.B. bei Drogen und Pornografie) sei nur am Rande hingewiesen; solche Fragwürdigkeit hat immerhin seinerzeit unser Bundesverfassungsgericht veranlasst, die Verhängung von Strafen für Besitz und Erwerb geringer Mengen von Betäubungsmitteln zum eigenen Gebrauch nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip für verfassungswidrig zu bezeichnen; Ähnliches wäre zu erwarten für entsprechende Strafen bei bloßem Anklicken oder Ansehen kinderpornografischen Materials im Internet. Man sollte das als grob anstößiges, moralisch zu missbilligendes Verhalten durchaus kennzeichnen, notfalls strafrechtlich erfassen, doch so, dass Auswege der Verfahrenseinstellung oder Geldstrafen im Strafbefehlsverfahren noch möglich sind; vor allem in der Medienerziehung ist es angemessen aufzugreifen, gerade weil es wohl täglich zig-tausendfach vorkommt. Grenzen strafrechtlichen Vorgehens im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips müssen gewahrt bleiben. Es ist daran zu erinnern, dass eine frühere Vorschrift über zwingend höhere Strafen bei Wiederholungstätern zurückgenommen werden musste; wissenschaftlich war nämlich nachgewiesen, dass diese Strafschärfung häufig die Falschen traf und Haftanstalten unnötig belastete. Ebenso sollte die Erfahrung in den USA mahnen; dort hatten in einigen Staaten gesetzlich festgelegte drastische Mindeststrafen für Wiederholungstäter zu unerträglicher Überfüllung von Haftanstalten beigetragen.

    4. Kritisch zu beurteilen ist weiterhin das Vorhaben, die Untersuchungshaftgründe erneut auszuweiten, dieses Mal bei schwerer sexueller (oder anderer) Gewalt gegen Kinder ohne Vorhandensein eines Haftgrundes der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 3 StPO). Die Einfügung eines Haftgrundes bloßer Tatschwere (Mord und Totschlag) ohne Nachweis von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr war 1965 bereits ein Sündenfall, allein verständlich durch die Anlasstat, ein NS-Verbrechen. Seinerzeit wurde ein solcher „Haftgrund der Empörung“ heftig von Wissenschaftlern kritisiert; es werde dadurch zugelassen, entgegen der Unschuldsvermutung und ohne erkennbare Gefahr für die Verfahrensdurchführung eine noch nicht verhängte Strafe vorweg zu vollziehen, weil man ansonsten im Falle tatsächlicher späterer Flucht öffentliche Empörung auslöse; außerdem sei zu befürchten, dass der Gesetzgeber bei nächsten schweren Verbrechen anderer Art diesen Haftgrund als Modell betrachte und ausweite. So ist es in der Tat 1984 geschehen. Nun soll es sich wiederholen. Erneut würde der Gesetzeswortlaut zudem irreführend suggerieren, es bedürfe keiner Gefahr für die Durchführung des Verfahrens wegen möglicher Flucht oder Verdunkelung. Dagegen ist verfassungsgerichtlich entschieden, dass für Untersuchungshaft immer eine Gefährdung des Verfahrens nötig ist; bei solchen schwersten Taten werden lediglich geringere Anforderungen an den Nachweis gestellt. Ohnehin dürfte dieser neue Haftgrund überflüssig sein bei vermutlich pädophilen Tätern schwerer sexueller Gewalt gegen Kinder wie denen in Münster, weil bereits der Haftgrund einer Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) anzunehmen ist.

    5. Verschiedentlich deuten sich darüber hinaus Bestrebungen an, die Verjährungsfristen bei Sexualdelikten gegen Kinder nochmals auszuweiten. Vorangegangene moderate Ausweitungen bei Kindesmisshandlung waren noch nachvollziehbar, weil man Anzeigen ermöglichen wollte, zu denen sich Betroffene erst im Erwachsenenalter durchringen. Aber es sind verfassungsrechtlich und strafprozessual Grenzen zu beachten. Verjährungsfristen sind rechtsstaatlich begründet. Zu einer markanten Ausnahme hatte man sich ehemals entschieden, als die Verjährungsfrist ausgeweitet und für Mord ganz aufgehoben wurde erneut anlässlich von Taten, die mit dem Holocaust zusammenhingen. Es war historisch begründet und nur insofern hinnehmbar. Nun soll es weitergehen, ohne dass NS-Unrecht argumentativ bemüht werden könnte. Zwar wünschte man sich, jeder, der Gewalt – sexuell oder anders motiviert – gegen Kinder verübe, müsse lebenslang mit Verfolgung rechnen. Doch ist zu bedenken, dass strafrechtliche Verfolgung irgendwann verwirkt ist aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen: Je länger die Tat zurückliegt, umso schwieriger wird die Beweisführung; dies gilt erst recht, wenn es sich um Taten handelt, die überwiegend im sozialen Nahraum geschehen und die meist nur von Tätern und Opfern aufgeklärt werden können durch eindeutige Zeugenaussagen. Erinnerungsschwächen und Veränderungen, denen sich Erinnerungen mit der Zeit ausgesetzt sehen, sind hinlänglich wissenschaftlich belegt. Die Folge ist, dass bei späten Verfahren zweierlei Gefahren bestehen: Entweder werden – dies in aller Regel – die Verfahren eingestellt bzw. die Täter freigesprochen mangels Beweises; dann erweist sich die Aufschiebung der Verjährung als Bumerang: Opfer sehen sich erneut gedemütigt. Oder es werden Fehlverurteilungen in Kauf genommen. Das allein ist Grund genug, an Verjährungsfristen zwingend festzuhalten. Nicht zuletzt Opferschutz gebietet dies. Warum wird darauf von politisch Verantwortlichen nicht erklärend hingewiesen?

    6. Schließlich werden neuestens Forderungen erhoben, lebenslang in polizeilichen Führungszeugnissen Verurteilungen wegen Kindesmissbrauchs anzugeben. Jegliche Befristung soll aufgehoben werden. Bislang galt nach dem BZRG etwa für das einfache polizeiliche Führungszeugnis, das bei Bedarf jedem Arbeitgeber vorzulegen ist, im Falle einer Verurteilung zu Jugend- oder Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr eine Befristung von 10 Jahren. In dem erweiterten Führungszeugnis, dessen es bedarf, wenn es um beruflichen oder ehrenamtlichen Umgang mit Kindern geht, beträgt die Frist 20 Jahre. Um des nötigen Schutzes vor Missbrauchstätern willen sind diese Regelungen tatsächlich zu überdenken. Das erweiterte Führungszeugnis tatsächlich vorzulegen, sollte Pflicht werden. Nur ist vor Übermaß zu warnen. Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht sogar bei der Verurteilung zur lebenslangen Freiheitsstrafe Lockerungen nach dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip eingefordert: Keine Strafe darf von vornherein ausnahmslos bis zum Tod reichen. Für jeden ist grundsätzlich eine zweite Chance zu wahren. Und wohl begründet setzen Berufsverbote (§ 70 StGB), die äußerstenfalls lebenslang bestehen, eine strafgerichtliche Prüfung der individuellen Gefahrenprognose voraus. Lediglich in erweiterten Führungszeugnissen sollte daher ein lebenslanger Eintrag zulässig sein und dieser gleichfalls nur nach möglichst richterlicher Einzelfallprüfung; insbesondere müssen Ausnahmen möglich bleiben bei sehr jungen und bei Gelegenheitstätern ohne pädophile Neigungen sowie bei weniger schweren Taten.

    Für die anstehende Strafgesetzgebung wünsche ich allen Verantwortlichen eine glückliche Hand und hoffe, dass die Bedenken eines Kriminalwissenschaftlers beachtet werden.

    22. Juli 2020
    Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer, Justus-Liebig-Universität Gießen

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