Die Pressemitteilung finden Sie hier. Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22: Eilantrag wegen Wiederaufnahme hat teilweise Erfolg
Leitsatz der Redaktion:
Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt […] ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes durch das Landgericht Stade freigesprochen. Nachdem am 30.12.2021 das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit, mithin der neue Wiederaufnahmegrund § 362 Nr. 5 StPO in Kraft getreten ist, beantragte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 Wiederaufnahme des Verfahrens und Erlass eines Haftbefehls.
Das Landgericht Verden erklärte den Wiederaufnahmeantrag für zulässig und ordnete die Untersuchungshaft an. Das für das Rechtsmittelverfahren zuständige OLG Celle verwarf die vom Beschwerdeführer eingereichten Beschwerden gegen die Beschlüsse des LG Verden.
Am 19.5.2022 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde und rügte die Verletzung in Art. 103 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Gleichzeitig beantragte der Beschwerdeführer die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Wege der einstweiligen Anordnung.
Entscheidung des BVerfG:
Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das BVerfG teilweise stattgegeben. Die Verfassungsbeschwerde sei weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Der Vollzug des Haftbefehls wird unter Bedingungen ausgesetzt. Gemäß § 32 BVerfGG gelte ein strenger Maßstab, insbesondere, wenn ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll. Die Folgenabwägung habe ergeben, dass die für den Beschwerdeführer zu erwartenden Nachteile überwiegen würden. Es komme „[d]em grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG […] ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.“
Das BVerfG betont, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 362 Nr. 5 StPO offen sei und dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibe. Werde jedoch der Vollzug des Haftbefehls aufrechterhalten, würden irreversible, in Art. 103 Abs. 3 GG intensiv eingreifende, nicht mehr korrigierbare Nachteile drohen.
In seiner Begründung geht das BVerfG ferner auf das Spannungsverhältnis des Rechtsinstituts Untersuchungshaft ein (Freiheitsrecht des Einzelnen vs. wirksamer Verbrechensbekämpfung) und stellt dar, dass hierbei unabhängig von der zu erwartenden Strafe abzuwägen sei. Der Sorge der Fachgerichte, der Beschwerdeführer würde sich bei Aussetzung des Haftbefehls dem späteren Strafverfahren entziehen, entgegnet das BVerfG mit den Besonderheiten in diesem Fall: die Straftat liege bereits über 40 Jahre zurück, in dieser Zeit sei der Beschwerdeführer strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und das Strafverfahren sei ohnehin zügig durchzuführen.
Die Entscheidung erging mit 5:3 Stimmen.
Anmerkung der Redaktion:
Die Entscheidung des OLG Celle vom 20.4.2022 finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 09/2022. Hintergründe zu der Debatte um die Einführung des § 362 Nr. 5 StPO finden Sie hier.