Tamara Rapo: Videotechnologie im Strafverfahren

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2022, Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-18622-8, S. 519, Euro 119,90.

Der neue Referentenentwurf zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung macht deutlich, wie wichtig flankierende Arbeiten zur Videotechnologie im Strafverfahren sind. Noch vor dem Referentenentwurf hat – unter Berücksichtigung der Literatur bis Ende des Jahres 2021 – die Dissertation von Rapo sich der Videotechnologie im Strafverfahren angenommen. Insofern können die Erkenntnisse dieser Monografie sehr gut in die aktuelle Diskussion einfließen.

Die Dissertation geht zunächst dem Strafverfahren im Spannungsfeld zwischen Strafverfolgungsinteresse und Grundrechtsschutz nach. Als zusammenfassendes Ziel des Strafprozesses könne danach die Feststellung und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in einem auf die materielle Wahrheit gerichteten sowie Rechtsfrieden und Gerechtigkeit schaffenden justizförmigen Verfahren bezeichnet werden. Der Strafprozess werde folglich von vielfältigen, sich ergänzenden, aber auch gegenläufigen ideellen Zielen geleitet. Daher würden sich die Rechtsanwender vielfach in Situationen wiederfinden, in denen sie die einzelnen Zielelemente gegeneinander abwägen müssten. Sodann wäre zu prüfen, welchem Ziel sie im Einzelfall den Vorrang einräumten – sofern nicht der Gesetzgeber den Zielkonflikt selbst gelöst habe. Der Gesetzgeber müsse jedes neue verfahrensrechtliche Instrumentarium daraufhin überprüfen, ob es sich nahtlos in die bisherige Funktionsordnung des Strafprozesses einfüge. Dies gelte insbesondere für Vorschriften zur Anwendbarkeit von Videotechnologie im Strafverfahren. Dabei sei von folgender Prämisse auszugehen: „Je tiefer der Gesetzgeber in verfassungsrechtlich geschützte Rechte des Einzelnen eingreift und je unausweichlicher sich die Situation für den Betroffenen darstelle, desto höhere Anforderungen sind auch an die Wertigkeit des zu schützenden Gutes und das Ausmaß der Zielverwirklichung zu stellen“ (S. 50).

Sodann spürt die Verfasserin der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Vernehmungssituationen nach und stellt folgende Leitsätze für die weitere Arbeit auf (S. 91 ff.): Dem staatlichen Informationsinteresse sei im Bereich strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen ein hoher Rang beizumessen, sodass Zeugen und Beschuldigte hier ggf. eine weitergehende Einschränkung ihrer Grundrechte hinnehmen müssten. Allerdings bestehe ein erhöhtes Schutzbedürfnis im Rahmen von Vernehmungen, soweit durch gezielte Fragen in ihre grundrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eingegriffen werde. Auch wenn Zweck der Beschuldigten- und Zeugenvernehmung vornehmlich die Aufklärung des Sachverhalts und damit die Wahrheitserforschung von Amts wegen sei, so seien dieser Wahrheitserforschung doch rechtsstaatliche Grenzen gesetzt, die in §§ 136a, 69 Abs. 3 StPO geregelt seien.

Da der Zeuge grundrechtsrelevante Eingriffe im Rahmen der Vernehmung nur bedingt abwehren könne, sei in seinem Fall eine detaillierte gesetzliche Ausformung des Vernehmungsablaufs erforderlich. Entsprechende detaillierte Regelungen seien hinsichtlich des Ablaufs der Beschuldigtenvernehmung nicht vorgesehen, da sich der Beschuldigte den Fragen der Vernehmungsperson aufgrund seiner Selbstbelastungsfreiheit jederzeit entziehen könne.

Die geltenden Rahmenbedingungen einer Vernehmung trügen in vielfältiger Weise zum Persönlichkeitsschutz des Betroffenen bei. Bislang sehe das Gesetz aber keine vollständige inhaltliche Dokumentation der Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung vor. Dies führe zur Erschwernis in der Beweisführung. Soweit der Einsatz der Videotechnik den Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen einerseits vertiefe, andererseits aber auch dessen Schutz diene, werde ein ambivalenter Zweck verfolgt. Das Eingriffs- und Schutzgut könne auf derselben Stufe verortet werden.

Kapitel 2 beschreibt im Rückblick den Einsatz von Video-technologie sowie die aktuelle Praxis. Auch wenn die audiovisuelle Aufzeichnung gesetzlich partiell verankert wurde, so zeigt sich doch eine geringe Nutzungspraxis.

Die gesetzlichen Regelungen zur videodokumentierten Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung werden in Kapitel 3 ausführlich nachgezeichnet. Sodann wird festgestellt, dass die audiovisuelle Aufzeichnung einer Beschuldigtenvernehmung den üblichen schriftlichen Vernehmungsprotokollen weit überlegen sind. Letztlich trage diese zur Verkürzung und Effektivität des Strafverfahrens bei – denn die Aufzeichnung ermögliche ein Höchstmaß an Authentizität. Die audiovisuelle Dokumentation schütze nicht nur den Beschuldigten vor unzulässigen Vernehmungsmethoden, sondern auch die Vernehmungsperson vor ungerechtfertigten Vorwürfen. Neben der Optimierung der Wahrheitsfindung diene die Ausweitung des Einsatzes von Videotechnik auch der Feststellung des staatlichen Strafanspruchs, weil eine effektivere Verfolgung von Verbrechen gewährleistet werde. Zudem diene die Videoaufzeichnung der Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Im Anschluss an die theoretischen Erörterungen macht die Verfasserin de lege ferenda Vorschläge, indem sie die Einfügung eines neuen § 136b StPO sowie Ergänzungen des § 70c und § 163a StPO vorschlägt.

Kapitel 4 widmet sich der Protokollierung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren. Durch die Anerkennung des Videoprotokolls als Protokoll i.S. der §§ 168, 168a StPO werde die Dokumentationstechnik an den heutigen Stand der Technik angepasst und eine neue Qualität der Beweissicherung im deutschen Strafprozess erreicht. Die Sicherstellung einer optimalen Beweisqualität werde nicht nur der bestmöglichen Wahrheitserforschung, sondern auch den weiteren Zielen des Strafprozesses sowie der beweisrechtlichen Dokumentation des tatsächlichen Vernehmungsgeschehens zugutekommen.

Im nächsten Kapitel wird die Einführung videodokumentierter Vernehmungen in die Hauptverhandlung erörtert. Hier werden die Voraussetzungen de lege lata nach §§ 255a, 254 StPO wiedergegeben. Kapitel 6 handelt von der Video-Simultanübersetzung nach § 247a StPO. Diese böte dem Gericht ein erhebliches Potential zur Erlangung eines sachgerechten Ausgleichs zwischen Wahrheitsfindung, Zeugenschutz und Verteidigungsinteressen. Gleiches gelte für die Verwirklichung prozessökonomischer Ziele. Allerdings könnten die Potentiale der Videovernehmung aufgrund der derzeitigen Ausgestaltung des § 247a StPO noch nicht vollends ausgeschöpft werden, so dass die Verfasserin einen de lege ferenda Vorschlag im Hinblick auf eine Neufassung des § 247a Abs. 1 StPO unterbreitet. Im Folgenden wird ein Überblick zur Rechtslage des weiteren Einsatzes von Video-Simultanübertragungen gegeben und die Vorschriften des § 185 Abs. 1 lit. a GVG, § 115 Abs. 1 lit. a StVollzG sowie § 58b und §§ 118a Abs. 2 S. 2, 138b Abs. 4 S. 2, 233 Abs. 2 S. 3, 463e StPO vorgestellt.

Große Beachtung sollte Kapitel 7 finden, in dem es um die Videodokumentation der Hauptverhandlung geht. Diesem Kapitel kommt angesichts des derzeitigen Referentenentwurfs zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung große Bedeutung zu. Die Verfasserin schildert zunächst die Dokumentation der Hauptverhandlung de lege lata und zeigt die Defizite auf (S. 383 ff.). Danach folgt ein empirischer Teil, in dem eine Online-Befragung unter Praktikern der Justiz Baden-Württemberg wiedergegeben wird. Die Stichprobe beträgt n = 185. Dabei zog die absolute Mehrheit der befragten Teilnehmer eine zusätzliche Dokumentationsform der Hauptverhandlung vor. Aufgrund der Beeinträchtigungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts plädierten die Befragten aber für die fakultative und nicht obligatorische Einführung audiovisueller Dokumentation. Unentschlossen zeigten sich die Befragten bezüglich der mit der Videodokumentation erhofften positiven Wirkung auf den gerichtlichen Prozess der Wahrheitsfindung und der hierdurch erhöhten Zuverlässigkeit der im Urteil getroffenen Feststellungen. Hinsichtlich der möglichen Gewinnschöpfung der Videodokumentation zeigte sich aus Sicht der Praktiker ein unentschlossenes Ergebnis. Ob daraus – mit der Verfasserin – gleich der Schluss gezogen werden muss, dass eine künftige Gesetzesreform zur Videodokumentation der Hauptverhandlung  mit Vorsicht betrachtet werden muss,  darf bezweifelt werden. Denn die Stichprobe aus einem Bundesland, noch dazu nur zu Befragten der Justiz, ist nicht geeignet, eine solche Schlussfolgerung zu ziehen. Hier hätten nicht nur andere Bundesländer, sondern auch Strafverteidiger und Betroffene – Beschuldigte und Zeugen – miteinbezogen werden müssen, um ein valides Ergebnis zu generieren.

Die Chancen und Risiken einer Videodokumentation werden in einem nächsten Schritt abgewogen. Nach dieser Abwägung plädiert die Verfasserin dafür, die Einführung einer obligatorischen Audiodokumentation der Vernehmungsinhalte erstinstanzlicher Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten „ernsthaft“ zu erwägen (S. 417). Das traditionelle Hauptverhandlungsprotokoll sollte aber beibehalten werden, um eine schnelle Überprüfung der wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Das aus der Aufzeichnung zu erstellende Wortprotokoll sollte den professionellen Verfahrensbeteiligen bereits während der laufenden Hauptverhandlung zur Verfügung gestellt werden – eine Forderung, der auch der aktuelle Referentenentwurf nachkommt. Für wünschenswert hält die Verfasserin auch eine Integration des Aufzeichnungs- und Transkriptionssystems in die ab 1.1.2026 verpflichtend zum Einsatz kommende elektronische Aktenführung im Strafverfahren.

Auch wenn die Arbeit von Rapo den aktuellen Referentenentwurf zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung nicht kennen konnte, so leistet sie doch Grundlagenarbeit, wenn es um die Frage der Notwendigkeit audiovisueller Aufzeichnungen der Hauptverhandlung geht. Darüber hinaus werden de lege ferenda Vorschläge im Rahmen audiovisueller Aufzeichnungen im Ermittlungsverfahren gemacht. Insofern ist darüber nachzudenken, ob der Gesetzgeber nicht auch hier nachjustieren sollte.

Leider macht die Verfasserin keine de lege ferenda Vorschläge im Hinblick auf die gesetzliche Verankerung der audiovisuellen Aufzeichnung in der Hauptverhandlung. Dies ist aber auch nicht zwingend, zumal jetzt mit dem Referentenentwurf, aber auch mit dem Alternativ-Entwurf audiovisueller Dokumentation der Hauptverhandlung (Rezension ebenfalls in diesem Heft), entsprechende Vorschläge vorliegen, die es zu würdigen gilt. Eine Vorstellung des Referentenentwurfs findet sich ebenfalls im Aufsatz von Basar/Heinelt in diesem Heft. Insofern möge die Diskussion um die zielführendste Verankerung der audiovisuellen Aufzeichnung der Hauptverhandlung durch diese Beiträge weiter vorangetrieben werden. Die Arbeit von Rapo bietet hier neben dem differenzierten Überblick auch einen Fundus an Literaturstellen, die es zu berücksichtigen gilt. Der Referentenentwurf – so sinnvoll es auch ist, hier die digitale Dokumentation voranzutreiben – bleibt hinter den Möglichkeiten und Notwendigkeiten leider etwas zurück. Es bleiben hier die Stellungnahmen zum Referentenentwurf abzuwarten, die hoffentlich zu Nachbesserungen und weiteren Diskussionen führen werden.

 

 

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