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Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren

von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch 

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Abstract
Von den zahlreichen Maßnahmen zur Modernisierung des Strafverfahrens[1] hat die Ergänzung des § 176 GVG um den neuen Absatz 2 im Gesetzgebungsverfahren den geringsten Diskussionsbedarf erzeugt. In der öffentlichen Expertenanhörung vor dem Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz haben sich die Sachverständigen zu diesem Punkt überhaupt nicht geäußert[2] bzw. lediglich kurze zustimmende Stellungnahmen abgegeben.[3] Deswegen sucht der am Thema Interessierte vergeblich nach Informationen über einige mit § 176 Abs. 2 GVG zusammenhängende Folgefragen, die weder gesetzlich normiert noch erkennbar diskutiert worden sind.  Auch die Kommentare zu StPO und GVG geben beispielsweise keine präzise Auskunft darüber, wie denn das Gebot des unverhüllten Erscheinens vor dem Richter praktisch durchgesetzt wird, wenn die betroffene Frau sich weigert, der Aufforderung zur Entfernung der Verhüllung nachzukommen.  Schon vor Einführung des § 176 Abs. 2 GVG durfte nach einhelliger Ansicht der Vorsitzende Richter auf der Grundlage des § 176 GVG ein Verhüllungsverbot anordnen.[4] Das Gesetz enthielt aber ein solches Verbot nicht und schon gar nicht Verfahrensvorschriften zur Durchsetzung seiner Befolgung. An letzterem hat das Modernisierungsgesetz nichts geändert. Soll der Richter notfalls selbst mit unmittelbarem Zwang – also mit Gewalt – eine renitente Zeugin oder Angeklagte ihrer Gesichtsverhüllung entledigen?  Es versteht sich von selbst, dass allen Beteiligten peinliche Situationen erspart bleiben und Eskalationen vermieden werden müssen.  Männliche Vollstrecker der Verbotsdurchsetzung müssen davor geschützt werden, sich durch Erfüllung ihrer Pflicht in die Gefahr zu begeben, berechtigten oder unberechtigten Vorwürfen sexueller Übergriffigkeit (§§ 177, 184 i StGB) – „me too“ – ausgesetzt zu sein. Umgekehrt muss die betroffene Frau selbstverständlich vor ebensolchen Grenzüberschreitungen geschützt werden. Daher wäre beispielsweise eine flankierende Regelung sinnvoll gewesen, die ähnlich wie § 81 d StPO sicherstellt, dass es nicht im Ermessen des Richters liegt, welche Justizwachtmeisterperson mit der gewaltsamen Enthüllung der Frau – sofern diese überhaupt zulässig ist – beauftragt wird. Nicht nur diese Regelungslücke verweist auf die mangelnde Sensibilität der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten für die heikle Konfliktlage, die ein Verhüllungsverbot gegenüber Personen heraufbeschwört, die ihr Antlitz aus religiösen Gründen zur Abwehr von – lüsternen oder nicht lüsternen – Blicken anderer Menschen – insbesondere männlichen  Geschlechts – mit Textilien bedecken. Welch schwere Demütigung es für eine Frau bedeuten kann, gewaltsam gezwungen zu werden, die Betrachtung ihres Gesichts durch fremde Menschen zu dulden, kann sich unsere aufgeklärte und säkularisierte Gesellschaft offenbar schwer vorstellen. Wird doch in unserer von „westlichen Werten“ durchdrungenen Demokratie jede Form der Verhüllung des Körpers muslimischer Frauen als Resultat von Unterdrückungsmechanismen eines irrational rückständigen illiberalen Patriarchats angesehen, angesichts dessen die Muslima nur froh sein kann, von der ihr aufgezwungenen Einschnürung ihres Körpers befreit zu werden.[5]

Among the numerous measures to modernize the criminal proceedings[6], the addition of paragraph 2 to Section 176 GVG (Judicature Act) has generated little need of discussion in the legislative process. In the public hearing of experts before the Committee on Legal Affairs and Consumer Protection of the Bundestag, the experts did not comment on this matter at all[7], or merely provided brief statements of support.[8] For this reason, those interested in the topic are looking in vain for information on some follow-up questions related to Section 176 (2) GVG, which have neither been legally standardized nor discussed in a recognizable way. Even the commentaries on the Code of Criminal Procedure and the GVG do not provide precise information on how the requirement of unveiled appearance before the judge is enforced in practice if the woman concerned refuses to comply with the request to remove the veil. The article deals in particular with the personal scope of the ban on veiling and its implementation.

I. Einleitung

Der mit dem Verhüllungsverbot verbundene Eingriff in die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und auf Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) wird im Strafverfahren durch das Interesse an einer funktionierenden Strafrechtspflege gerechtfertigt. Dieses Allgemeingut hat Verfassungsrang, ist eine effiziente Strafrechtspflege doch unverzichtbare Bedingung eines rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens. Sowohl zur Identifizierung der Person als auch zur Ermöglichung optimaler Wahrheitsfindung (Beweiswürdigung) durch das Gericht ist es erforderlich, dass das zuständige Strafverfolgungsorgan das vollständig unverhüllte Gesicht der Person betrachten kann.[9] Dies bezieht sich in erster Linie auf Angeklagte und Zeuginnen. Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass das Verfahren auch durch die Verhüllung des Gesichts einer Richterin oder Schöffin rechtlich relevant beeinträchtigt werden kann. Bleibt dadurch beispielsweise verborgen, dass die Richterin während einer Zeugenvernehmung schläft, entgeht der Verteidigung möglicherweise die Chance, einen bedeutsamen Revisionsgrund (§ 338 Nr. 1 StPO)[10] geltend zu machen. Auch kann die Wahrnehmung der Mimik als Quelle für Schlussfolgerungen auf eine etwaige Besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO) behindert sein, weil niemand sehen kann, wie eine Richterin hinter ihrem Schleier beispielsweise während der Ausführungen des Verteidigers höhnisch das Gesicht verzieht. Es gibt also genügend gute Gründe für ein Verhüllungsverbot im Strafverfahren. Da der Vorsitzende im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot gewähren kann, ist die gesetzliche Abwägungsentscheidung nicht starr, sondern flexibler Handhabung zugänglich. Daher kann dem Verhältnismäßigkeitsgebot angemessen Rechnung getragen werden. Dennoch würde eine umgekehrte Kann-Vorschrift dem Grundrechtsschutz besser gerecht: „Der Vorsitzende kann an der Verhandlung beteiligten Personen die Verhüllung ihres Gesichts untersagen, wenn und soweit die Kenntlichmachung des Gesichts zur Identitätsfeststellung oder zur Beweiswürdigung notwendig ist“.[11] Vor allem müsste die Einzelfallanordnung begründet werden, wovon die nunmehr in Kraft befindliche Regelung den Vorsitzenden entbunden hat.[12]

Die angreifbare und bei gründlicher Prüfung sich als verfassungsrechtlich zumindest bedenklich erweisende gesetzgeberische Grundentscheidung soll hier nicht weiter hinterfragt werden, ebenso nicht ihre Begründung. Erörterungsbedürftig sind aber einige konsekutive Fragen, auf die das Gesetz keine befriedigende – nämlich gar keine – Antwort gibt. Insgesamt gesehen übt der Gesetzgeber auch nach Einführung des § 176 Abs. 2 GVG kritikwürdige Zurückhaltung zum Schaden derjenigen, die § 176 Abs. 2 GVG entweder anwenden müssen oder von seiner Anwendung betroffen sind. Zu viel einzelfallbezogene Rechtsgestaltung überlässt das Gesetz dem richterlichen Ermessen ohne jegliche Richtungsweisung, Anleitung     oder Beschränkung. Die Rechtslage ist deshalb durch erhebliche Rechtsunsicherheit geprägt. Das schlägt sich sogar in der Gesetzesbegründung nieder, wo unter Hinweis auf §§ 177, 178 GVG behauptet wird, der Vorsitzende fordere zur Einhaltung des Verbots auf und könne gegebenenfalls Ordnungsmittel androhen. Ob der Vorsitzende gegenüber Personen, die an der Verhandlung beteiligt sind, diese Maßnahmen androhen darf, ist fraglich. Zur Anordnung jedenfalls ist nur das Gericht zuständig und ein Beschluss erforderlich, §§ 177 S. 2, 178 Abs. 2 GVG. Zudem bewirken weder die Entfernung aus dem Sitzungszimmer noch die Ordnungshaft oder das Ordnungsgeld faktisch eine Enthüllung der verhüllten Person. Diese Maßnahmen sind zwar nicht von vornherein ungeeignet, aber gegebenenfalls im konkreten Fall nicht ausreichend. Im Übrigen müsste grundsätzlich die Zulässigkeit einer Aufforderung zur Selbstenthüllung in Bezug auf Personen geklärt werden, bei denen dies mit dem nemo-tenetur-Prinzip in Konflikt geraten könnte. Ähnlicher Regelungsbedarf besteht bei Personen, denen ein Zeugnisverweigerungs- und Untersuchungsverweigerungsrecht zusteht.

II. Sachlicher Geltungsbereich des Verhüllungsverbots

1. Sitzung

Standort im GVG und Wortlaut der Vorschrift verbinden den Anwendungsbereich des Verhüllungsverbots im Strafverfahren mit der Hauptverhandlung. Das ist sicher, obwohl die Strafprozessordnung den Ausdruck „Sitzung“ nicht verwendet. Mehrfach wird aber auf den „Sitzungssaal“ (§ 243 Abs. 2 S. 1 StPO) und das „Sitzungszimmer“ verwiesen (§§ 231b Abs. 1 S. 1, 247 S. 1, 247a Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 1 StPO). Zudem rekurriert § 176 Abs. 2 GVG auf die „Verhandlung“. Kein Teil der Hauptverhandlung und somit auch keine „Sitzung“ ist die Beratung des Gerichts gem. §§ 192 ff GVG.[13]  Demnach kann der Vorsitzende in diesem Kontext eine Schöffin jedenfalls nicht auf der Grundlage des § 176 Abs. 2 GVG auffordern, die Gesichtsverhüllung abzulegen. Zudem gibt es dafür – anders als in der Hauptverhandlung – auch keinen sachlichen Grund. Wird gegen eine nicht anwesende Angeklagte verhandelt (§§ 231 Abs. 2 ff. StPO), besteht insoweit für diese kein Verhüllungsverbot, zumal sie dann auch keine „an der Verhandlung beteiligte Person“ ist.

2. Sonstige Teile des Verfahrens

§ 180 GVG erweitert den Anwendungsbereich des § 176 Abs. 2 GVG auf richterliche Amtshandlungen außerhalb der Hauptverhandlung. Dies betrifft z.B. vorweggenommene Teile der Hauptverhandlung gem. § 223 StPO und § 225 StPO.[14] Vernehmungen durch Polizeibeamte oder die Staatsanwaltschaft sind in den Anwendungsbereich des § 176 Abs. 2 GVG nicht einbezogen. Obwohl die jetzt eingeführte positivgesetzliche Bekräftigung des Verhüllungsverbots einen Umkehrschluss aufdrängt, macht die Ungleichbehandlung teleologisch keinen Sinn. Die Notwendigkeit einer sicheren Identitätsfeststellung und die Bedürfnisse der Wahrheitsfindung sind in diesen Vernehmungssituationen nicht schwächer als bei richterlichen Vernehmungen. Auf Grund der unsicheren Rechtslage dürfte es sich in den praktisch seltenen Fällen empfehlen den Ermittlungsrichter (§ 162 StPO) einzuschalten.

III. Persönlicher Geltungsbereich 

1. Beschuldigte

Im Fall unmittelbarer Anwendung des § 176 Abs. 2 GVG erfasst das Verhüllungsverbot „an der Verhandlung beteiligte Personen“. Dies sind alle Personen, die nicht Teil der „Öffentlichkeit“ iSd § 169 GVG sind und deren Anwesenheit im Gerichtssaal daher bei nichtöffentlichen Verhandlungen keiner Zutrittsgestattung gem. § 175 Abs. 2 S. 1 GVG bedarf. In erster Linie ist die Angeklagte adressiert, deren physische Anwesenheit unverzichtbare Voraussetzung einer rechtmäßig durchführbaren Hauptverhandlung ist, § 230 StPO. Zum Zwecke der Identitätsfeststellung (§ 243 Abs. 1 S. 2 StPO) wird es unumgänglich sein, dass die erschienene Person ihr Gesicht dem Gericht – und nur dem Gericht – unverhüllt zeigt. Alle anderen im Gerichtssaal anwesenden Personen haben hingegen kein Recht, das Gesicht der Angeklagten zu sehen, insbesondere die als Repräsentanten der Öffentlichkeit erschienenen Zuhörer einschließlich der Medienvertreter. Die Angeklagte hält sich nicht freiwillig im Gerichtssaal auf, ein  anderer Selbstschutz ihres Rechts am eigenen Bild als die Verhüllung ihres Gesichts steht ihr nicht zur Verfügung.[15] Strafrechtlicher Schutz gegen ungenehmigte Bildaufnahmen etwa durch Erweiterung des § 201a StGB gewährt der Gesetzgeber, der an anderer Stelle („Upskirting“) mit großem Eifer Angriffe auf den Privatbereich pönalisiert, Angeklagten bislang nicht.[16] Ein über den Zweck der Identitätsfeststellung hinausgehendes Festhalten am Verhüllungsverbot ist nicht erforderlich und wäre verfassungswidrig. Daher hat der Vorsitzende der Angeklagten nach Feststellung ihrer Identität zu gestatten, die Verhüllung wieder anzulegen. Das gilt auch für eine Angeklagte, die Angaben zur Sache machen will. Da sie die Aussage komplett verweigern kann (§ 243 Abs. 5 S. 1 StPO), darf sie auch die Bedingung stellen, nur mit verhülltem Gesicht auszusagen. Ein Gericht, das auf dieses Angebot nicht einginge, verstieße gegen seine Pflicht zur optimalen Aufklärung. Die Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeitsdiagnose, die mit dem Unterdrücken nonverbaler Signale verbunden ist, muss hingenommen werden. Die „Kann“-Vorschrift des § 176 Abs. 2 S. 2 GVG ist verfassungskonform auszulegen. Sobald der Eingriff in die Grundrechte (Art. 2 Abs. 1, Art. 4 GG) nicht mehr erforderlich ist, muss er unverzüglich beendet werden. 

Gegen den Willen der Angeklagten darf ihr die Gesichtsbedeckung abgenommen werden, wenn dies zur Durchführung einer gemäß § 81a StPO zulässigen körperlichen Untersuchung erforderlich ist.[17] Die h.M. sieht von dieser Rechtsgrundlage sogar den unmittelbaren physischen Zugriff auf Körpersubstanz wie das Rasieren oder Abschneiden der Gesichts- und Kopfbehaarung getragen.[18] Dann dürfte eine auf das Gesicht beschränkte Teilentkleidung  erst recht zulässig sein. Dem Schweigerecht des Beschuldigten korrespondiert kein Recht, die Duldung von Wahrheitsfindungsmaßnahmen zu verweigern, von denen er lediglich passiv als Augenscheinsobjekt betroffen ist. Mit dem nemo-tenetur-Prinzip steht das in Einklang.[19] Zwar sind dem Arzterfordernis unterliegende körperliche Eingriffe i.S.d. § 81a Abs. 1 S. 2 StPO keine Vorgänge, die in der Hauptverhandlung stattfinden. Der unmittelbare Anwendungsbereich des § 176 Abs. 2 GVG ist davon also nicht betroffen. Einfache körperliche Untersuchungen i.S.d. § 81a Abs. 1 S. 1 StPO[20], die das Gericht selbst vornehmen kann, sind aber nicht nur theoretisch denkbar, sondern müssten auf der Rechtsgrundlage des § 81c StPO  angesichts des zu mutmaßenden Ausmaßes körperlicher Misshandlung von Frauen durch männliche Bezugspersonen praktisch häufig vorkommen. Von Schlägen, Stichen, Verbrennungen, Verbrühungen usw. herrührende Wunden und Narben im Gesicht per Inaugenscheinnahme festzustellen, obliegt auf Grund des Unmittelbarkeitsprinzips zuvörderst dem erkennenden Gericht.[21] Dass eine angeklagte Frau derartige Spuren im Gesicht trägt, kann man sich vorstellen, wenn ihr eine Tat vorgeworfen wird, die z.B. der Verteidigung  gegen Angriffe eines „Haustyrannen“ diente.

2. Zeugin

Die Zeugin mit verschleiertem oder verhülltem Gesicht ist der praktisch bedeutsamste Anwendungsfall des § 176 Abs. 2 GVG. Die Begründetheit des Verbots in dieser Konstellation steht außer Frage. Nicht nur die Richter, sondern auch Staatsanwalt, Angeklagter und Verteidiger – nicht dagegen die Zuhörer, die für Wahrheitsfindung nicht zuständig sind[22] – haben ein Recht darauf, der Zeugin ins Gesicht sehen zu können, während sie ihre Aussage macht. Problematisch ist die Behandlung von Zeuginnen mit Zeugnisverweigerungsrecht. Macht eine Zeugin nach Feststellung ihrer Identität von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, gibt es keinen Grund, von ihr überhaupt noch Anwesenheit im Gerichtssaal zu verlangen. Die anlässlich ihrer Anwesenheit sich bietende faktische Gelegenheit in ihrem unverhüllten Gesicht zu lesen und daraus irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen, hat keine rechtliche Grundlage. So wenig die Tatsache der Zeugnisverweigerung Gegenstand richterlicher Beweiswürdigung sein kann[23], so wenig steht das Gesicht der Zeugin als Quelle von durch Beobachtung gewonnenen Informationen zur Verfügung. Der Vorsitzende muss daher gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG das gesetzliche Verhüllungsverbot aufheben. Erklärt die Zeugin sich bereit mit verhülltem Gesicht zur Sache auszusagen, muss das Gericht diese Bedingung akzeptieren, es sei denn der Verzicht auf diesen Beweisaufnahmeakt steht im Einklang mit der Aufklärungspflicht. Gesichtsenthüllung zum Zwecke der Augenscheinseinnahme in Bezug auf Tatspuren (Kratzer, Blutergüsse, Narben usw.) braucht eine zeugnisverweigerungsberechtigte Zeugin nicht zu dulden. Dies folgt aus § 81c Abs. 3 StPO, da richtiger Ansicht nach auch die schlichte Körperoberflächenbetrachtung mit bloßem Auge eine körperliche Untersuchung ist. Hat die Zeugin kein Zeugnisverweigerungsrecht und demzufolge auch kein Untersuchungsverweigerungsrecht, sollte die Beseitigung der Gesichtsverhüllung gem. § 81d StPO nur durch eine weibliche Person vollzogen werden.

3. Verteidigerin

Von einer Verteidigerin, deren Identität festgestellt worden ist, das Weglassen der Gesichtsverhüllung zu verlangen, wäre ein ungerechtfertigter Eingriff in ihre Grundrechte. Neben den oben schon genannten Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 4 GG wäre auch Art. 12 Abs. 1 GG betroffen. Ein durchgreifender Grund für ein Enthüllungsgebot ist schlicht nicht vorstellbar. Die Verfehltheit der gesetzlichen Umkehrung von Regel und Ausnahme durch § 176 Abs. 2 GVG wird an diesem Beispiel in aller Schärfe sichtbar.

4. Sonstige

Im Verfahren gegen Jugendliche verlangt § 176 Abs. 2 GVG auch von der gem. § 67 Abs. 3 JGG anwesenden Mutter des Angeklagten unverhülltes Erscheinen vor Gericht. Als Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreterin ihres angeklagten Kindes ist sie am Verfahren beteiligt. Ein sachlicher Grund für die Enthüllungspflicht existiert indessen nicht. Der Vorsitzende muss deshalb gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG die Verhüllung gestatten. Auch hier erweist sich die Konstruktion des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt als die schlechtere Lösung. Welchen Grund jenseits der Identitätsfeststellung es geben soll, einer Nebenklägerin die Verhüllung ihres Gesichts zu verbieten, ist unerfindlich.

IV. Durchsetzung des Verbots

1. Zwang zur Selbstenthüllung

Die Ausführungen zum persönlichen Anwendungsbereich des § 176 Abs. 2 GVG haben schon zu Genüge bestätigt, dass das gesetzliche Verbot gegen das Erforderlichkeitsprinzip verstößt und allenfalls eine verfassungskonforme Handhabung der Ermächtigung zur Gewährung von Ausnahmen diesbezügliche Bedenken besänftigen kann. Konkret folgt daraus, dass Verfahrensbeteiligte, deren Anwesenheit in der Verhandlung nicht der Wahrheitsfindung dient, allenfalls zur Feststellung ihrer Identität die Gesichtsverhüllung entfernen müssen. Daher darf einer verschleiert erschienenen Zeugin nicht bereits vor Beginn der Verhandlung der Zutritt zum Sitzungszimmer verwehrt werden, um sie damit zur Enthüllung zu nötigen. Soweit das Verlangen eines unverhüllten Gesichts berechtigt ist, stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Aufforderung zur aktiven Selbstenthüllung oder zur Duldung einer von fremder Hand vollzogenen Beseitigung vorzugswürdig ist. Das hängt davon ab, welche Variante für die betroffene Frau die geringere Zumutung darstellt. Zu berücksichtigen ist, dass aktive Selbstentblößung aggressive Reaktionen im Umfeld der Frau (z.B. Beschimpfung als „Hure“) herausfordern könnte. In Anbetracht dessen mag der Zugriff durch unmittelbaren Zwang das geringere Übel darstellen. Umgekehrt kann es auch sein, dass Vater, Brüder, Ehemann, Bräutigam der Frau es als Schande empfinden, wenn sie es zulässt, von fremden Händen berührt und entkleidet zu werden. Fingerspitzengfühl ist also gefragt und der Vorsitzende tut gut daran, die Frau selbst entscheiden zu lassen, welcher Form der Verwirklichung des Enthüllungsgebots sie sich beugen will. Im Fall der Weigerung wird die Ausübung von Zwang unvermeidbar sein.

2. Unmittelbarer Zwang

Die Untätigkeit des Gesetzgebers, der zwar mühelos ein Verhüllungsverbot errichten konnte, sich aber jeglicher Durchführungsbestimmungen enthalten hat, ist zu bedauern und zu kritisieren. Wenn vor Einführung des § 176 Abs. 2 GVG schon beklagt wurde, dass in konkreten Einzelfällen Rechtsunsicherheit bezüglich des „Ob“ eines Verhüllungsverbots herrschte, dann wird dieser Zustand mangelnder Handlungsanleitung durch das Gesetz hinsichtlich des „Wie“ erst recht zu beanstanden gewesen sein. Daran hat sich nun nichts geändert; vielmehr wurde die Lage für die Rechtsanwendungspraxis verschlechtert, da das nicht an sachliche Voraussetzungen gebundene gesetzliche Verbot den Handlungsdruck erhöht hat. Früher konnte der Vorsitzende, der unsicher war, auf welche Weise eine verhüllte Frau in rechtmäßiger Weise enthüllt werden kann, sich aus der Affäre ziehen, indem er von einer Verbotsanordnung absah. Dieser Ausweg ist nun durch § 176 Abs. 2 S. 1 GVG versperrt. Wie verworren die Rechtslage ist, zeigt die Vielfalt der zu § 58 Abs. 2 StPO vertretenen Auffassungen. Obwohl diese Vorschrift eindeutig allein die Pflichtenstellung des Zeugen normiert, wird aus ihr vereinzelt eine Mitwirkungspflicht des Beschuldigten abgeleitet[24], eine Auffassung, die im Lichte des § 81b StPO[25] kaum haltbar erscheint. Ausführungen zum Verfahren bei einer gesichtsverhüllten Beschuldigten findet man freilich nirgends. Letztlich ist daher hier wie sonst bei der Ausführung von Anordnungen nach § 176 Abs. 1 GVG das Eingreifen von Justizwachtmeistern das Instrument zur Überwindung des Widerstandes. Dabei darf auf der Grundlage des UZwG unmittelbarer Zwang angewendet werden.[26] Man kann nur hoffen, dass derartige Praxis nie notwendig sein wird.

V. Schutz der unverhüllten Frau

Die mit der Gesichtsenthüllung verbundene Beeinträchtigung der betroffenen Frau muss selbstverständlich sachgrundkonform begrenzt werden. Nur soweit die Darbietung des unverhüllten Gesichts zur Erreichung eines die Enthüllung rechtfertigenden Zweckes erforderlich ist,  kann von der Frau das Ertragen dieser Situation verlangt werden. Technisch mögliche Milderungen sind zu gewähren, es sei denn die betroffene Frau verzichtet darauf ausdrücklich. Denkbar, aber gewiss übermäßig, weil zum Schutz nicht erforderlich, wäre ein vorübergehender Ausschluss der Öffentlichkeit. Dafür böte § 171 b GVG in seiner geltenden Fassung keine Grundlage, wenngleich die ratio legis dem Fall gewiss korrespondiert. Der Eingriff in die Öffentlichkeitsmaxime wäre aber wohl unverhältnismäßig, sofern das Recht am eigenen Bild durch Errichtung eines Sichtschutzes im Gerichtssaal, der jedenfalls den Zuhörern den Blick auf das unverhüllte Gesicht verwehrt, ausreichend gewahrt werden kann. Für eine vorübergehende Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer reicht die aktuell geltende Fassung des § 247 StPO allenfalls dann, wenn einer der verhüllungsunspezifischen Gründe (z.B. Wahrheitsgefährdung) mit dem Zwang zur unverhüllten Aussage verknüpft ist. Dass ansonsten nur ein „erheblicher Nachteil für das Wohl“ und auch das lediglich bei Zeugen unter 18 Jahren, beachtlich ist (§ 247 S. 2 StPO), bestätigt, dass das Schutzbedürfnis einer Frau, die gegen ihren Willen ihr Gesicht unverhüllt zeigen muss, als ausreichender Entfernungsgrund nicht vorgesehen ist.  Hier wäre eine Erweiterung des Normtextes durch den Gesetzgeber wünschenswert.

VI. Schluss

Ein früherer Bundespräsident hatte einmal gesagt: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Was auch immer man von dieser Äußerung halten mag; in dem Gesetzgebungsverfahren zur Modernisierung des Strafverfahrens war davon nichts zu merken. In den Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf überwogen Desinteresse und mangelndes Problembewusstsein. Die ausnahmslos männlichen Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung vor dem Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz erweckten mit ihren schriftlichen Statements nicht den Eindruck intensiven Nachdenkens über die Thematik. Den wenigen kritischen Kommentaren, in denen die Neuregelung als „überflüssig“ bezeichnet wurde[27], ist nur teilweise zuzustimmen. Besser als der vorherige gesetzliche Zustand ist § 176 Abs. 2 GVG schon. Noch besser wäre jedoch eine Klarstellung dahingehend, dass ein Auftritt mit unverhülltem Gesicht allein zum Zwecke der Identitätsfeststellung oder Beweiswürdigung verlangt werden darf und einer ausdrücklichen und begründungspflichtigen Anordnung des Vorsitzenden – mit der Möglichkeit der Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO – bedarf. Was in § 176 Abs. 2 S. 1 GVG zur Regel erklärt wurde, ist tatsächlich die Ausnahme und deshalb sollte die gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG dem Vorsitzenden anheimgestellte Gewährung von Ausnahmen vom Gesetzgeber in eine Regel umgeformt werden.

 

[1]      Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10. 12. 2019, BGBl I Nr. 46, S. 2121.
[2]      So die Vereinigung Berliner Strafverteidiger, der Deutsche Richterbund sowie die Sachverständigen Heidenreich, Jahn und Maier.
[3]      So die Sachverständigen Caspari und Mosbacher. Für überflüssig hielt das Verbot der Vertreter des Deutschen Anwaltvereins.
[4]      Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 176 GVG Rn. 7a.
[5]      Richtigstellend Hecker, ZRP 2019, 151 (152).
[6]      Act on the Modernisation of Criminal Procedure of 10 Dec 2019, BGBl I No. 46, p. 2121.
[7]      These include the Berlin Association of Defence Lawyers, the German Association of Judges and the experts Heidenreich, Jahn and Maier
[8]      According to the experts Caspari und Mosbacher. The representative of the German Bar Association considered the ban superfluous.
[9]      Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, S. 46
[10]    Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 14.
[11]    Wer dem oder der Vorsitzenden selbst zur Pflicht macht, das Gesicht nicht zu verhüllen, bleibt auf Grundlage dieses Gesetzestextes eben so offen wie generell die Anwendung des § 176 GVG gegenüber dem Vorsitzenden. Dass sich die Sitzungspolizei „auf alle Anwesenden“ erstreckt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 GVG Rn. 10), bestätigt die Berechtigung der Frage, gibt darauf aber keine Antwort.
[12]    Claus, NStZ 2020, 57 (62).
[13]    Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 193 GVG Rn. 2.
[14]    Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 223 Rn. 18.
[15]    Restriktionen des strafrechtlichen Bildnisschutzes durch enge Gestaltung des § 201a StGB werden in der Literatur mit dem „viktimodogmatischen“ Selbstschutzprinzip erklärt, Eisele, JR 2005, 6 ff.
[16]    Dazu Mitsch, ZRP  2014, 137 (140).
[17]    Trück, in: MüKo-StPO, Bd. 1 (2014), § 81 a Rn. 34.
[18]    Murmann, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, 2008, III Rn. 296.
[19]    Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. (2006), Rn. 433; Murmann, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch, III Rn. 288.
[20]    Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 7; Murmann, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch, III Rn. 292.
[21]    Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 27; Murmann, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch, III Rn. 293.
[22]    Abwegig ist der Hinweis auf § 169 GVG in der Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft für Lehrerinnen und Lehrer des Rechts an Fachhochschulen (BAGHR) zum Referentenentwurf (a.a.O., S. 2): „Es ist wenig nachvollziehbar, einerseits den Unmittelbarkeitsgrundsatz als eine der Prozessmaximen zu bezeichnen (§ 250 StPO) und den Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen (§ 169 GVG) zu statuieren, andererseits jedoch die Realisierung dieser Grundsätze im Kernstück eines Strafverfahrens, der Hauptverhandlung, durch sich verhüllende, verschleierte oder sich maskierende oder sonst unkenntlich machende, sich aus der Öffentlichkeit in die Unkenntlichkeit zurückziehende Verfahrensbeteiligte, zumeist Angeklagte, zu vereiteln und letztlich auszuhebeln.“
[23]    Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 261 Rn. 20.
[24]    Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 58 Rn. 9.
[25]    Zur Duldungspflicht des Beschuldigten auf dieser Grundlage Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 81b Rn. 10.
[26]    Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 Rn. 14.
[27]    Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zum Referentenentwurf, S. 5: „Es handelt sich um Symbolpolitik“; Stellungnahme Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, S. 9: „“rein populistisch begründet“; Stellungnahme Deutscher Anwaltsverein, S. 22: „gesetzgeberischer Aktionismus“.

 

 

 

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