2020, Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-15844-7, S. 330, Euro 79,90.
I. Einleitung
Felix Ruppert beschäftigt sich in seinem Werk mit der Sozialadäquanz und ihrer Rolle im Strafrecht. Es ist zugleich die Dissertation des Autors, welche im Jahr 2019 an der Universität Bayreuth angenommen und unter Betreuung von Prof. Dr. Brian Valerius verfasst wurde. Sie wurde im November 2019 mit dem Preis der Stadt Bayreuth für herausragende Dissertationen ausgezeichnet.
Die Sozialadäquanz beschäftigt das Strafrecht seit jeher. Ihre Anerkennung als eigenständige Rechtsfigur ist ebenso wie ihr Standort im System des Strafrechts umstritten (S. 21). Bereits der Titel und die Einleitung des Buches zeigen, worum es dem Verfasser geht. Er möchte die dogmatische Berechtigung der Sozialadäquanz aufzeigen, ihr handhabbare Kriterien verleihen und sie im strafrechtlichen Deliktsaufbau verorten.
II. Zum Inhalt
1. Ursprung, Relevanz und Funktion der Sozialadäquanz im deutschen Strafrecht
Der Verfasser gibt zunächst einen umfassenden Einblick in die Entwicklung und den aktuellen Diskussionsstand hinsichtlich der Sozialadäquanz im Strafrecht. Dabei packt er das Problem tief an der Wurzel und geht bis zum „Vater der Rechtsfigur“ (S. 21) zu Welzel zurück. Von den Ursprüngen ausgehend, über die Rezeption in Literatur, Rechtsprechung und Gesetzgebung gelangt Ruppert zu der Erkenntnis, der Anwendungsbereich der Sozialadäquanz sei äußerst „facettenreich“ (S. 30) und im Laufe der Jahre in nahezu alle Bereiche des allgemeinen und besonderen Teils im Strafgesetzbuch (StGB) vorgedrungen (S. 94 f.). Die durch Teile der Literatur abgesprochene Bedeutung der Sozialadäquanz werde deren tatsächlichen Relevanz in der aktuellen Strafrechtswissenschaft daher nicht gerecht (S. 95). Auf über 50 Seiten werden zahlreiche Fallgruppen aus Literatur und Rechtsprechung ausgewertet, in deren Diskussion die Sozialadäquanz eine entscheidende Rolle spielt. Dies reicht von Klassikern wie dem ärztlichen Heileingriff (S. 37 ff.) und der Knabenbeschneidung (S. 39 f.), über neutrale Beihilfehandlungen im Rahmen des § 27 StGB (S. 80 ff.) bis hin zu exotischeren Konstellationen wie dem Diebstahl des Maibaums (S. 72 f.). Dem Verfasser ist mit seiner Arbeit somit eine nahezu allumfassende Zusammenstellung der in diesem Kontext diskutierten Rechtsfragen gelungen. Kernanliegen der Sozialadäquanz sei dabei die gesellschaftliche und soziale Bewertung des Verhaltens (S. 95), wobei nicht immer explizit der Begriff Sozialadäquanz fällt (sog. originäre Sozialadäquanz, S. 94 f.), sondern diese Aspekte teils auch durch „Surrogate“ (S. 95 f.) hergeleitet und begründet würden. Dabei sei deren Funktion ebenso klar wie vielfältig. Es gehe um das Ausscheiden sozialüblicher Handlungsweisen (S. 97 f.), die Begründung von Bagatellgrenzen und Erheblichkeitsschwellen innerhalb von Tatbeständen (S. 101) sowie die Behandlung neuartiger Rechtsfragen (S. 98 ff.). Darüber hinaus diene sie in einigen Fällen als Grundlage für die Begründung anderer Lösungsansätze (S. 100.) Besonders überzeugend ist auch die Kritik Rupperts an der Verwendung der Sozialadäquanz als Atonym zum strafbaren Verhalten. Diese schaffe die Gefahr, ohne nähere Begründung durch bloßen Verweis auf diesen Begriff die Straflosigkeit bestimmter Verhaltensweisen herzuleiten (S. 101).
2. Begründung der Sozialadäquanz und Verortung im strafrechtlichen Deliktsaufbau
Nachdem der Verfasser die Relevanz und Funktion der Lehre von der Sozialadäquanz bestätigt sieht, geht er im Hauptteil des Werks auf deren dogmatischen Ursprung einer- und die Verortung im strafrechtlichen Deliktsaufbau andererseits ein. Hierbei stellt er zunächst fest, dass sich der Verweis auf sozialadäquate Handlungen im Strafrecht einer hohen Beliebtheit erfreut, „die eigentliche Begründung dieser Rechtsfigur indes weitaus weniger versucht“ und ihre Berechtigung zumeist „vielmehr schlicht stillschweigend vorausgesetzt“ wird (S. 103). So „wird die dogmatische Begründung dieser Rechtsfigur per se kaum argumentativ in Frage gestellt“ (S. 129). Die von Welzel (Sozialadäquanz als mangelnde Unrechtskomponente, S. 104 ff.), Garcia (Sozialadäquanz als „scheinbare strafrechtliche Relevanz der Handlung“, S. 110 ff.), Klug (Sozialadäquanz als überpositives Strafbarkeitskorrektiv, S. 116 ff.) und Exner (Sozialadäquanz als historisch-soziologische Reduktion, S. 121 ff.) vertretenen Ansätze überzeugen den Verfasser dabei gleichermaßen wenig. Diese enthielten bezüglich der eigentlichen dogmatischen Begründung keinen Erkenntnisgewinn (S. 120), gingen über bloße „Aneinanderreihung von Thesen“ (S. 109) nicht hinaus, lieferten lediglich ein fragliches Konzept (S. 128 f.) oder ließen die innere Stimmigkeit vermissen (S. 116). Ruppert gelangt somit zu der überzeugenden Erkenntnis, der Sozialadäquanz fehle es insgesamt an einem „tragfähigen dogmatischen Fundament“ (S. 131).
Die Verortung im strafrechtlichen Deliktsaufbau bezeichnet er als „Hauptunruheherd im Rahmen der Sozialadäquanz“ (S. 131). Seit jeher werde kontrovers über diese Rechtsfrage debattiert, dabei sei exemplarisch nur Welzel genannt, der die Sozialadäquanz im Laufe der Jahre mehrfach an anderer Stelle des Delikts verortet wissen wollte (S. 131 ff.). Ruppert führt den Leser anschließend durch die vertretenen Lösungsansätze, die alle Stufen des strafrechtlichen Delikts vom Tatbestand bis zur Schuld durchlaufen. Er gewinnt dabei die Erkenntnis, dass die uneinheitliche Verortung vor allem dem nach wie vor ungeklärten Wesen dieser Rechtsfigur geschuldet sei (S. 145). So verhalte es sich auch bei den zur Bestimmung von sozialadäquaten Verhaltensweisen anzulegenden Kriterien. Der besondere Konflikt hierbei bestehe darin, einen Raum für gesellschaftliche Wertungen zu eröffnen und gleichzeitig keinen Zustand der Rechtsunsicherheit zu schaffen (S. 147). Hier läge auch der Kernpunkt ihrer Kritiker, welche der Sozialadäquanz die Unbestimmtheit ihrer Voraussetzungen vorwerfen (S. 153). Die bisherigen Versuche diesem Begriff Konturen zu verleihen (vgl. dazu die S. 147 ff.), haben diese indes nicht verstummen lassen. Der Verfasser stellt insofern eine „begriffliche Unschärfe“ und die damit einhergehende „Missbrauchsgefahr“ fest (S. 167). Vor allem auch deshalb müsse die Sozialadäquanz präzisiert und dabei eine „Waage zwischen Bestimmbarkeit und Flexibilität“ dieser potentiellen Rechtsfigur hergestellt werden (S. 167).
3. Eigener Lösungsansatz Rupperts
a) Dogmatische Begründung
Die eigentliche dogmatische Begründung sozialer Adäquanz geriet für den Verfasser bisher zu knapp (S. 168). Eine Feststellung, die man kaum bestreiten kann. Das Werk verdient insofern Zustimmung, wenn es mit Blick auf deren weiten Verbreitung eine Ergründung von Ursprung und Wirkungsweise der Sozialadäquanz als unumgänglich erachtet (S. 168). Sie könne dabei nicht auf altbekannte Prinzipien gestützt werden, sondern fände ihren „dogmatischen Kern“ in einem Zusammenspiel mehrerer Säulen (S. 195), vor allem dem Bestimmtheitsgrundsatz (S. 195ff.), der Fragmentarität des Strafrechts (S. 206 ff.) und den Strafzwecken (S. 209 ff.). Ruppert sieht die Wirkungsweise der Sozialadäquanz in einer „metateleologischen Reduktion“, die eine Harmonie zwischen Strafrecht und Strafzweck schaffe (S. 249). Anders als die teleologische Reduktion, die eng an den Zweck konkreter Vorschriften geknüpft sei, beschränke sich die Sozialadäquanz gerade nicht auf solche (S. 223 f.). Für sie sei vielmehr der Telos des Gesamtsystems, in dem sich die einzelne Strafnorm als einzelner Baustein befinde, maßgeblich (S. 224). Sie diene der Sicherung des Strafrechts als ultima ratio, in dem sie die Subsumtion eines Verhaltens unter eine Strafnorm auf deren Übereinstimmung mit übergeordneten Zwecken des Gesamtsystems überprüft (S. 224 ff.). Sie restringiere somit im Einzelfall den Anwendungsbereich einer Norm, indem sie deren, durch abstrakt-generelle Regelungstechnik entspringende, Unbestimmtheit in Übereinstimmung mit den Strafzwecken korrigiere (S. 225 f.). Insofern wirke die Lehre von der Sozialadäquanz letztlich ähnlich wie der Grundsatz von Treu und Glaube im Zivilrecht und überprüfe die Übereinstimmung bestimmter Verhaltensweisen mit den Zwecken des Gesetzes durch die Bildung allgemeiner Wertungen und Kriterien (S. 227 ff.).
b) Verortung im Deliktsaufbau
Der Verfasser sieht durch das der Sozialadäquanz nunmehr verliehene dogmatische Grundgerüst eine eindeutige Verortung in den strafrechtlichen Deliktsaufbau als möglich an (S. 229). Sie finde einzig auf Tatbestandsebene ihren Platz (S. 229 f.), liege ihre primäre Aufgabe doch darin, konkretes Handeln aus dem tatbestandlichen Bereich auszunehmen, welches der Wortlaut einer Norm formell erfasse (S. 230). Dabei entfalte sie ihre Wirkung als Rechtsfigur sui generis und nicht lediglich bei der Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale (S. 231 f.). Dies sei schon darin begründet, dass im Mittelpunkt der Betrachtung die gesellschaftliche Bewertung einer Handlung und gerade nicht einzelne Tatbestandsmerkmale stünden (S. 231). Die Sozialadäquanz dränge den abstrakt-generell formulierten Unrechtsbereich einer Norm zurück, indem sie den Einzelfall mit Blick auf das Greifen der Strafzwecke hin untersucht (S. 231). Dadurch reduziere sie den gesamten Tatbestand und nicht lediglich einzelne Merkmale. Mithin sei die Prüfung einer Handlung auf deren sozialen Adäquanz subsidiär zur Subsumtion unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale (S. 232). Erst, wenn ein Verhalten formell vom Tatbestand erfasst sei, komme eine Strafbarkeitsrestriktion durch diese Rechtsfigur in Betracht (S. 232).
c) Kriterien sozialadäquaten Verhaltens
Weitaus schwieriger gestaltete sich derweil die Frage nach den anzulegenden Kriterien, um ein Verhalten als sozialadäquat erscheinen zu lassen. So gelangt auch der Verfasser zu der überzeugenden Erkenntnis, dass die Benennung strikter Kriterien wohl nicht möglich ist (S. 248). Maßgeblich sei somit letztlich die Billigung bzw. Akzeptanz eines Verhaltens durch die Gesellschaft (S. 235). Eine Beschränkung auf die Kongruenz des Handelns mit der geschichtlich bedingten Ordnung des Gemeinschaftslebens greife indes zu kurz (S. 235 f.). Zwar könnten sich bestimmte Verhaltensmuster im Laufe der Geschichte etabliert haben und dies somit für eine Billigung durch die Gesellschaft sprechen (S. 235 f.), Maßstab dafür bleibe aber immer die gesellschaftliche Wertung der Gegenwart (S. 236). Ebenso verhalte es sich mit dem Argument, ein bestimmtes Verhalten sei üblich. Auch dies sei allenfalls ein Indiz für die gesellschaftliche Akzeptanz (S. 238). Hierfür streite bereits, dass andernfalls bestimmte Rechtsbrüche allein aufgrund ihrer Häufigkeit als sozialadäquat angesehen werden könnten. Entscheidend sei somit allein die gegenwärtige gesellschaftliche Billigung bestimmter Verhaltensweisen. Insofern sei die Sozialadäquanz entwicklungsoffen und berücksichtige auch neue technische Erscheinungen (S. 236, 248). Besonders überzeugend bekräftigt der Verfasser, dass die subjektiven Vorstellungen einer Person bei ihrem Handeln unabdingbare Voraussetzung für ein sozialadäquates Verhalten sind (S. 243 ff.). Dort nämlich, wo ein Handeln unter dem Deckmantel der Sozialadäquanz mit Schädigungsabsicht vorgenommen werde, ende auch dessen Billigung (S. 247 f.). Eine derartige Pervertierung eines per se akzeptierten Verhaltens lasse den Grund einer metateleologischen Reduktion tatbestandlichen Verhaltens entfallen (S. 248).
III. Fazit
Ruppert ist es gelungen, der Frage der Sozialadäquanz im Strafrecht deutlich an Struktur zu verleihen. Die praktische Bedeutung der Rechtsfigur ist enorm, taucht sie doch immer häufiger als Begründung der Straflosigkeit bestimmter Verhaltensweisen auf. Dies belegt der Verfasser allein schon anhand der von ihm dargestellten zahlreichen Fallgruppen quer durch alle Bereiche des Strafrechts. Diese werden de lege lata zumeist nicht einheitlich behandelt. Dabei lässt es Ruppert nicht bewenden und bezieht zu ausgewählten Beispielen am Ende seines Werkes Stellung. Ausgangspunkt dafür sind die von ihm vorab getroffenen Feststellungen. Er sieht die Bedeutung der Sozialadäquanz in einer metateleologischen Reduktion, d.h. der Einordnung von Straftatbeständen in ein gesamtteleologisches Gefüge und verortet diese als eigenständige Rechtsfigur im Tatbestand des Delikts. Die von ihm vorgebrachten Argumente vermögen dabei fast ausnahmslos zu überzeugen. Gleichwohl unbefriedigend bleibt der Umstand, keine handfesten Kriterien für die Frage zu erhalten, wann ein Verhalten als sozialadäquat anzusehen ist. Dies ist jedoch nicht auf ein Versäumnis des Verfassers zurückzuführen, sondern entspringt dem dogmatischen Ursprung dieser Rechtsfigur. Insofern wird die Sozialadäquanz das Strafrecht auch in Zukunft begleiten. Ein Blick in das besprochene Werk kann dabei durchaus lohnenswert sein.