6. „Medizinrecht-aktuell“ – Podiumsdiskussion: Freiheit oder Solidarität – Die Welt nach den Corona-Impfungen

von Till Schaller

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Unter dem Titel „Freiheit oder Solidarität – Die Welt nach den Corona-Impfungen“ fand am 18. Februar 2021 die 6. „Medizinrecht-aktuell“ – Podiumsdiskussion des Göttinger Zentrums für Medizinrecht in Kooperation mit       der Hochschulgruppe Demokratische-Aktion-Fachschaft (DAF) im Onlineformat statt. Kurz vor dem Jahreswechsel begannen in Deutschland die Impfungen gegen Covid-19. Schon zuvor entbrannte eine Debatte unter Wissenschaftlern und Politikern über die Verteilung des Impfstoffes und die Reihenfolge der zu impfenden Personengruppen. Unter dem Stichwort „Priorisierung“ wird diese Debatte bis heute fortgeführt. Dazu werden Stimmen lauter, die, mit wachsendem „Impffortschritt“, gegen den staatlich oktroyierten „Gehorsam“ für eine Rücknahme der Freiheitsbeschränkungen demonstrieren. Während einerseits von „Privilegien“ für Geimpfte gesprochen wird, werfen wieder andere die Frage auf: Begründet sich nicht die gesamtgesellschaftliche Debatte um die Privilegierung Einzelner auf einem, die Verantwortung ausschließenden, „ex ministerieller autoritatis“ zugeschriebenen „Impfrang“? Wie lassen sich Freiheitseinbußen noch rechtfertigen, wenn der Geimpfte seine Freiheitsrechte, womöglich ohne infektiologische Gefahr für das Kollektiv, in Anspruch nimmt?

Nicht nur die Brisanz der Thematik, sondern ebenso die hochkarätigen Referenten sorgten für ein hohes Interesse der interessierten Öffentlichkeit und unter den Studierenden. Als Gäste und Referenten eingeladen waren Prof. Dr. iur. Stefan Huster, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr Uni Bochum, Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Wienands, Abteilung für Zelluläre und Molekulare Immunologie an der UMG und Sachverständiger im Corona-Sonderausschuss des Niedersächsischen Landtages, Prof. Dr. rer. nat. Susanne Schreiber, Professorin für theoretische Neurophysiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Dr. rer. soc. Elisabeth Wacker, Lehrstuhlinhaberin für Diversitätssoziologie an der TU München und zugleich Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats für den Teilhabebericht des BMAS über die Lage von Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland.

Die Moderation der Podiumsdiskussion übernahm Prof. Dr. Gunnar Duttge, Direktor der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität und zugleich Vorstandsmitglied des Göttinger Zentrums für Medizinrecht.

„Welches Maß an „Sicherheit“ dürfen wir nach heutigem Stand von den zugelassenen Impfstoffen gesamtgesellschaftlich erwarten, und wie sollten wir das infektiologische Risiko einschätzen, wenn die Freiheitsräume für die bereits Geimpften vor den anderen wieder geöffnet würden?“ Diese Kernfrage des Moderators aufgreifend, wies Prof. Dr. Wienands in seinem Eingangsreferat daraufhin, dass die zugelassenen Impfstoffe, gleich ob auf genetischer Grundlage oder schwachen Erregern basierend, und ungeachtet teils bedingter Zulassungen, mit Blick auf die bekannten Mutanten sicher seien. Eine ernsthafte Diskussion um Lockerungen für Einzelne hielt Wienands erst für möglich, wenn abschließend geklärt sei, ob immunisierte Personen noch infektiologische Treiber seien. Gleichwohl erteilte er mit Blick auf mögliche Sonderrechte während des „Schwebezustands“ bis zur „Herdenimmunität“ dem im Titel behaupteten Widerspruch „Freiheit oder Solidarität“ eine Absage. Beide Begriffe bedingten sich gegenseitig und ließen sich durch ihre innere Konnexität – so Wienands – nur im Sinne einer „Freiheit durch Solidarität“ verstehen. Das Interesse des Einzelnen an der Aufrechterhaltung des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens, in dem er seine Freiheit ausübe, ende dort, wo eine übermäßige Belastung des Gesundheitssystems wieder zur Begrenzung seiner Freiheit berechtige.

Im Hinblick auf die infektionstreibenden Örtlichkeiten verwies Wienands, neben der Überlastung der Gesundheitsämter, auf das bestehende Wissensdefizit bzgl. der Infektionsketten hin, welches auch nicht durch die bereits bekannte hohe Wahrscheinlichkeit von Infektionen im häuslichen Umfeld und Pflegeeinrichtungen beseitigt werde. Zwar sei es entscheidend, den Handlungsauftrag nach empirischen Studien schnellstmöglich zu erfüllen, doch liege es im Wesen der Forschung, dass viele Erkenntnisse zunächst nur eine schemenhafte und fragile Sicherheit erzeugten, die teils nachträglich wieder revidiert werden müsse. Daher führten vorschnelle Öffnungen ohne fundierte wissenschaftliche Grundlagen, die durch einen „föderalen Flickenteppich“ noch verstärkt würden, zu einer Zuspitzung der Situation im Gesundheitssystem. Maßgeblich unterschieden sich die leitenden Prinzipien im Verhältnis von Wissenschaft und Politik, wobei ersteres jedoch ein rationales Fundament mitbringe, ohne dabei das politische Kernmetier zu beschneiden. Die klare Zuständigkeitsverteilung zwischen Politik und Wissenschaft müsse auch nach außen kommuniziert werden, ohne dass sich dabei – wie es die Debatte andeute – der „schwarze Peter“ gegenseitig zugeschoben würde. Darüber hinaus dürfe eine „vernünftige“ Politik in der Debatte um mögliche Lockerungen nicht primär nur auf den das infektiologische Geschehen abbildenden Inzidenzwert, abseits der ökonomischen und juristischen Debatten, als Grundlage für Beschränkungen abstellen.

Anschließend ging Frau Prof. Dr. Schreiber darauf ein, ob die bis auf Weiteres bestehenden Freiheitseinbußen für die zwischenzeitlich Geimpften nach den „Ad-hoc“-Empfehlungen des Deutschen Ethikrates aufrechterhalten bleiben sollten. Auf die kritische Anmerkung von Prof. Dr. Duttge, dass sich unser Gemeinwesen doch im Grundsatz der „Freiheit in Gleichheit“ verschrieben hätte, verwies Schreiber zunächst darauf hin, dass die endlos anmutenden Entbehrungen keine dauerhafte Lösung seien und immer wieder eine Evaluierung der Erforderlichkeit sowie Angemessenheit stattfinden müsse, die durch ein sozialpsychologisch-gesellschaftliches Element ergänzt werde. Gleichzeitig betonte sie, dass mit Blick auf die hohen inzidenzwerte die aktuell eingreifenden Schutzmaßnahmen durch ihre zeitliche Begrenzung zumutbar seien.

Die Aufrechterhaltung der bis dato geltenden Beschränkungen unterstützend argumentierte Schreiber zudem, dass bisher keine Sicherheit bestehe, ob – wie ihr Vorredner bereits feststellte – Geimpfte tatsächlich keine infektiologische Gefahr mehr darstellten; es könne vielmehr auch so sein, dass ein vorschnelles Zurück zum status quo ante schlimmstenfalls einem „Lotteriespiel“ gleichkäme. Ausnahmen für Geimpfte seien daher in den Empfehlungen bisher – rückführend auf diese Unabwägbarkeiten und auf die mathematischen Modelle der STIKO – nicht vorgesehen. Auch eine Überarbeitung der entworfenen Verteilungsstrategie, die der Deutsche Ethikrat in Kooperation mit der Ständigen Impfkommission (STIKO) und der Leopoldina erstellt hatte (in welchem neben den „systemrelevanten“ Berufsgruppen insbesondere die Vulnerablen der dritten Priorisierungsgruppe vorrangig zu impfen seien), bringe keine andere Beurteilung zugunsten der jüngsten und mobilsten Bevölkerungsgruppe. Das gesamtgesellschaftliche Ziel der Vermeidung einer „Triage-Situation“ könne nicht erreicht werden, wenn, trotz ihres besonderen „Freiheitsbedürfnisses“, mit den jungen und vitalen Personen begonnen würde, da es bei diesen regelmäßig zu einem milderen Krankheitsverlauf komme. Dabei gehe es nach Schreiber im Wesentlichen um das Prinzip der Solidarität, welches sich, solange die Mehrheit der Bürger keine Möglichkeit für eine Impfung erhalte, in der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge und einer Erhaltung der Solidarbereitschaft ausdrücke. Das oberste Ziel gesamtgesellschaftlicher Solidarbereitschaft könne kaum gewahrt werden, wenn einzelne Geimpfte ihre „Freiheiten“ voll ausschöpften. Während der „harte“ Lockdown fremdbestimmt war, komme jetzt mit Fortschreiten der Impfungen die Eigenverantwortung des Einzelnen hinzu, die jedoch neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Blick haben müsse.

Daran anknüpfend fehle es laut Schreiber an der nötigen Faktengrundlage, um darüber diskutieren zu können, ob eine „Diskriminierung“ durch private Anbieter jenseits der ganz existentiellen Dinge erlaubt wäre. Sollte sich diese Unsicherheit (der Virusübertragbarkeit) in Zukunft beseitigen lassen, so müsse neben einer neuen Verhältnismäßigkeitsüberprüfung bzgl. der Beschränkungen eine intensive Debatte um die konkrete Ausgestaltung der Kontrahierungspflicht im privaten Bereich mit Blick auf unzulässige Monopole geführt werden. 

Hierauf ging Prof. Dr. Huster weiter ein und beurteilte die sog. mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in der privaten Unterhaltungsbranche der Kinos und Theater jenseits von Monopolstellungen als eine deutlich abgeschwächtere. Private Anbieter dürften den Zutritt durchaus von einem Impfnachweis abhängig machen. Im Unterschied zu den zuletzt ergangenen Urteilen des BVerfG zur mittelbaren Drittwirkung bestehe vorliegend ein deutlich hervorgehobener legitimer und gesellschaftlich tolerierte Zweck in der Eindämmung der Infektionsketten und der existentiellen Bedrohung im Falle eines nachweislichen Ausbruchs. Hingegen müsse für die Bereiche der Daseinsvorsorge auf Grundlage der dort anerkannten „Kontrahierungspflicht“ anders entschieden werden. Für Apotheken und Supermärkte ließe sich also eine Auswahl zwischen Geimpften und Nichtgeimpften kaum rechtfertigen. Die sich daran anschließende Frage nach der Sorge vor einem „faktischen Impfzwang“ durch die „Hintertür“, wozu nach Huster – entgegen der Ansicht des Deutschen Ethikratskein Anlass bestehe, sei mit Blick auf die Eigenverantwortung des Einzelnen und der persönlichen Willensentscheidung zu beantworten. Gleichzeitig halte er eine Impfpflicht aus politscher wie auch aus juristischer Sicht für höchst zweifelhaft. Dem stimmte auch Prof. Dr. Schreiber zu, wobei sie ergänzend darauf hinwies, dass nur in „begründeten Ausnahmefällen“ an eine Impfpflicht gedacht wurde.

Daran anknüpfend bezeichnete Huster eine im öffentlichen Diskurs häufig betonte Priorität der Gleichheit gegenüber der individuellen Freiheit als „Rückfall in den Steinzeitkommunismus“, wenn die Freiheitsbeschränkungen also allein zugunsten der Gemeinschaft aufrechterhalten würden. Auf die Rückfrage des Moderators, ob das Fundamentalproblem der Verteilungsgerechtigkeit nicht gesamtgesellschaftlich doch zu sensibel sei, um allein den „glücklich Geimpften“ sich ihrer „Selbstbestimmung“ zu erfreuen, entgegnete Huster, dass es im Kern nicht um Solidarität ginge, sondern vielmehr um die Vermeidung von Missgunst zulasten derjenigen, die bereits „unverschuldet“ geimpft wurden. Die Frage der Solidarität lasse sich durch ihre Unbestimmtheit kaum mit (verfassungs-)rechtlichen Maßstäben eingrenzen und sei somit kein Argument für die Aufrechterhaltung von Freiheitsbeschränkungen. Freiheit in Gleichheit sei eine irrige Annahme, denn es frage sich doch gerade, wieso Freiheitsbeschränkungen zugunsten der Gleichheit in Kauf genommen werden sollten. Darüber hinaus könne der Begriff der Solidarität auch dahingehend verstanden werden, dass sich die noch nicht Geimpften den bereits Geimpften gegenüber verständnisvoll ob deren Inanspruchnahme von neu gewonnenen Freiheiten verhielten.

Mit Blick auf jene, die sich nicht an die verschriebene Impfreihenfolge hielten, verwies Huster darauf, dass dies aus grundrechtlicher Sicht kaum von hinreichender Relevanz sei. Vielmehr sei das Tun von „Impfdränglern“ lediglich moralisch fragwürdig, jedoch stehe im Endeffekt der ganzheitliche Fortschritt im Fokus und es könne eine Priorisierung „auf dem Papier“ ohnehin kaum eingehalten werden. Daher sollten die Vakzine, bevor sie überhaupt nicht mehr verimpft würden, auch an andere Gruppen verteilt werden können.

Auf die Frage nach den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates, die in Bezug auf Pflege- und Seniorenheimen sowie Behinderteneinrichtungen von (aufrechtzuerhaltenden) sog. „Sonderbelastungen“ sprechen, bestätigte Frau Prof. Dr. Wacker zunächst die überdurchschnittliche psychische Belastung für Vulnerable in stationärer, aber auch in häuslicher Pflege. Diese hätten sich in der Pandemie über die bereits bestehende gesellschaftliche Situation hinaus erheblich verschärft. Gleichzeitig folge daraus ein besonderes Bedürfnis der Vulnerablen, dass ihre Interessen im Rahmen der Verteilungsgerechtigkeit und vor dem Hintergrund der Wiederverschaffung des freiheit- sowie gesundheitlichen Geltungsanspruchs hinreichend berücksichtigt werden. Der besondere Abwägungsvorrang von Menschen mit einer Behinderung solle jedoch nicht als eine „Wiederbeschaffung in großherziger Weise“, sondern vielmehr als eine Beseitigung von übermäßigen Nachteilen im Sinne einer pragmatischen Inklusion betrachtet werden. Auch dürfe nicht vergessen werden, dass eine Vielzahl der politischen, sich stetig wandelnden Erwägungen und Vorgaben (durch die Corona-VO) für Vulnerable kaum nachvollziehbar seien.

Einer Beschränkung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen allein auf nachweislich infektionstreibende Einrichtungen wie Pflegeheime stand Wacker ablehnend gegenüber, da es nicht mit einer kulturellen Konvention der Gleichwertigkeit und der Menschenrechte vereinbar sei, wenn „Sondergruppen“ als „Problemmacher“ dargestellt würden und für sie eine „Sonderwelt“ geschaffen werde. Die Forderung einer inklusiven Gesellschaft aus „Friedenszeiten“ bleibe graue Theorie, wenn erst ad-hoc auf die akute Not von Vulnerablen reagiert und bereits frühzeitig erkennbare Bedürfnisse sowie Anlässe für ein präventives Handeln außer Acht gelassen würden. Daran anknüpfend verwies die Referentin weiterhin darauf, dass vorgeschlagene Schutzmaßnahmen, ausgenommen die Selbstisolation, für viele aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund fehlenden Verständnisses für die Notwendigkeit nicht in toto umsetzbar seien. Schließlich wies Wacker daraufhin, dass die Alten und Behinderten auch nach der „zweiten Welle“ über keine Lobby verfügten. Zahlreiche Fragen werfe auch die Impfpriorisierung auf, da es nur schwerlich nachvollziehbar sei, weshalb Vulnerable in häuslicher Quarantäne sowie pflegende Angehörige – obgleich ein evidenter Unterschied zu jenen in Pflegeeinrichtungen fehle – erst in der zweiten Priorisierungsgruppe Berücksichtigung fänden. Im Ganzen zeigten die defizitären politischen Erwägungen zum Umgang mit Vulnerablen in symptomatischer Weise, dass das Vergessen, insbesondere jener, die zuhause gepflegt werden, in Widerspruch zur ureigensten Aufgabe des Sozialstaates zu einer Exklusion anstatt der gebotenen Inklusion führe.

Die abschließende Frage des Moderators nach einem resümierenden Statement beantworteten Schreiber wie auch Wienands mit ihrer Sorge vor den sich entwickelnden Mutationen. Gleichzeitig zeigte sich Schreiber beeindruckt von den immensen gesellschaftlichen Solidaritätsressourcen. In Richtung der sich von den Impfstoffnebenwirkungen bestärkt fühlenden Impfkritiker warf Wienands die These auf, dass es nicht unwahrscheinlich sei, dass diejenigen, die schwere Nebenwirkungen durch die Impfungen zeigten, auch eine infektiologischen schweren Verlauf davontrügen. Für eine sachliche gleichfalls die rechtlichen Unterschiede der streitenden Gruppen stärker in den Fokus rückende Debatte, stimmte Huster. Schließlich plädierte Wacker für eine Bewusstseinsschärfung in unserer inklusiven Gesellschaft.

Inwieweit spiegeln sich die vorstehenden Überlegungen in den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Pandemie wider? Ist die Debatte um „Privilegierungen“ auf Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse weiter vorangeschritten? Mittlerweile befindet sich das Land in der „dritten Welle“ der Pandemie. Die Diskussion um mögliche Privilegierungen nimmt wieder stark an Fahrt auf. Nicht nur die der Diskussion zugrunde liegende Annahme, Geimpfte seien keine Infektionstreiber, wurde inzwischen durch empirische Studien mit „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ verifiziert, sondern darüber hinaus sollen ab Anfang Mai die Impfungen der zweiten Priorisierungsgruppe beginnen. Die lauter werdenden Rufe nach einer Rücknahme der Freiheitsbeschränkungen könnten sich nun vordergründig auf die „ad-hoc“-Empfehlungen des Deutschen Ethikrates berufen, die auf Basis einer normativen Relation zwischen der Wahrscheinlichkeit einer Infektion und der Belastung durch Schutzmaßnahmen von einem Legitimationsverlust der Beschränkungen infolge des Impffortschritts ausgegangen sind. Dem ist jedoch mitnichten so, denn die oberste Prämisse der „ad-hoc“-Empfehlungen, die Beseitigung der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems, bleibt durch die stetig neuen – teilweise impfresistenten – Mutationen hochaktuell. Eine „No-Covid“-Strategie scheint in Anbetracht der nur schleppend voranschreitenden Impfungen, der prekären Wirksamkeit mancher Vakzine sowie der fortlaufend neuen Mutationen nahezu unmöglich, sodass sich die Öffentlichkeit lieber den Fragen in einer „Welt während der Coronapandemie“ widmen sollte.

Mittlerweile findet man vielzählige und kostengünstige Antigen-Tests, welche die Situation um mögliche „Privilegien“ aus einer anderen Perspektive wieder anheizen. Nachweislich Nicht-infizierte könnten doch somit – im Wesentlichen gleich den Geimpften – wieder ihren alltäglichen Freizeitbeschäftigungen nachgehen, oder nicht? Nach Maßgabe der bisherigen Erfahrungen ist jedoch durch einen bloßen „Negativ-Test“ weder die Fremdgefährdung anderer noch eine Selbstinfektion auszuschließen, sodass die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems nicht beseitigt würde und somit Freiheitsbeschränkungen im Lichte der Solidarität weiterhin gerechtfertigt sind. Zusammenfassend könnte die vorangegangene  Debatte  unter  John Rawls  „Schleier  des  Nichtwissens“ entschieden werden. Der heutige Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Bedürfnissen, der Verteilung des Impfstoffs zugunsten der weniger begünstigten Mitglieder der Gesellschaft, namentlich der Vulnerablen, und auch die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen bereits „unverschuldet“ Geimpfter findet seine Antwort in Rawls sog. „Urzustand“, in welchem jeder Einzelne unwissend über sein zukünftiges Ergehen für eine solidarische sowie gerechte Gesellschaftsordnung in Gleichheit plädiert. Im „Urzustand“ wäre der rationale Beurteiler geneigt, sich für eine frühzeitige Impfung der „Risikogruppe“ zu entscheiden, denn mit dem „Lüften des Schleiers“ wäre ein Abwarten als „Risikoperson“ wohl kaum, als vitale Person durchaus, hinnehmbar.

 

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