OLG Celle erklärt neu eingeführten Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar

OLG Celle, Beschloss. v. 22.4.2022 – 2 Ws 62/22 (Volltext) 

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Tenor:

1      1.

2      Die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des LG Verden vom 25.2.2022 über die Zulässigkeit des Antrags der Staatsanwaltschaft Verden (Aller) auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 362 Nr. 5 StPO wird als unbegründet verworfen.

3      2.

4      Die Beschwerde des Betroffenen gegen die in dem Beschluss der 1. großen Strafkammer des LG Verden vom 25.2.2022 angeordnete Untersuchungshaft wird als unbegründet verworfen.

[…]

Gründe:

7      A.

8    Mit seiner sofortigen Beschwerde wendet sich der Betroffene gegen den Beschluss des LG Verden vom 25.2.2022 (1 Ks 148 Js 1066/22), durch den der Antrag der Staatsanwaltschaft Verden (Aller), das durch rechtskräftigen Freispruch im Urteil des LG Stade vom 13.5.1983, Az. 10 Ks 9 Js 3228/83 (12/83), abgeschlossene Strafverfahren zuungunsten des Betroffenen wiederaufzunehmen, für zulässig erklärt wurde. Zudem erhebt der Betroffene Beschwerde gegen die in dem Beschluss getroffene Anordnung der Untersuchungshaft.

9    Die Staatsanwaltschaft Lüneburg (Az. 42 Js 1030/81) warf dem Beschwerdeführer mit Anklage vom 2.3.1982 vor, sich der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1 StGB a.F. sowie des Mordes nach § 211 StGB strafbar gemacht zu haben. […]

20   B.

21   Das Rechtsmittel des Beschwerdeführers führt weder hinsichtlich der vom LG für zulässig erklärten Wiederaufnahme des Verfahrens wegen der ihm zur Last gelegten Taten zum Nachteil der getöteten F. v. M. noch bzgl. der vom LG angeordneten Untersuchungshaft zum Erfolg.

22   I.

23    Die sofortige Beschwerde gegen die Zulassung des Wiederaufnahmeverfahrens  ist  gemäß  § 372 StPO  statthaft sowie form- und fristgerecht nach §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO erhoben worden. Sie führt in der Sache jedoch nicht zum Erfolg. Das LG hat im Additionsverfahren nach § 368 StPO mit zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen die von der Staatsanwaltschaft Verden (Aller) beantragte Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens gegen den freigesprochenen Beschwerdeführer unter Zugrundelegung der Regelung in § 362 Nr. 5 StPO für zulässig erklärt.

24   1. Die aus §§ 296 Abs. 1, 365, 366 Abs. 1 StPO folgenden formellen Anforderungen an den Wiederaufnahmeantrag sind gewahrt.

25   2. Die vom LG bei seiner angefochtenen Zulässigkeitsentscheidung zugrunde gelegte Gesetzesregelung in § 362 Nr. 5 StPO über die erweiterte Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten eines Angeklagten ist verfassungskonform. Der gegenteiligen Ansicht des Beschwerdeführers vermag der Senat nicht zu folgen. Die Aussetzung des vorliegenden Verfahrens und die Vorlage der Sache zur Entscheidung durch das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG durch den Senat ist daher nicht veranlasst.

26   a) Insbesondere ist die mit dem „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021 (BGBl. I 2021 S. 5252) eingeführte und am 30.12.2021 in Kraft getretene Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO mit dem im Grundgesetz in Art. 103 Abs. 3 geregelten Verbot der Doppelbestrafung vereinbar.

27   aa) Art. 103 Abs. 3 GG schützt den Einzelnen vor mehrfacher Bestrafung wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze. Das auf dem historisch tradierten, bereits im römischen Recht anerkannten ne bis in idem-Grundsatz beruhende Verbot gewährleistet dem Einzelnen eine gewisse Rechtssicherheit und gibt ihm die Garantie, nach einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung in derselben Sache nicht erneut strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Radtke, in: BeckOK-GG, 3. Aufl. [2020], GG Art. 103 Rn. 44 f). Dabei ist über den Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG hinausgehend nicht nur die mehrfache Bestrafung, sondern bereits die erneute Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat ausgeschlossen.

29    Das Verbot der Mehrfachverfolgung gibt dem Einzelnen insoweit einen subjektiven Rechtsanspruch darauf, dass er sich nach einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung nicht wegen derselben Tat erneut verantworten muss. Dieses Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat stellt nach herrschender Meinung eine Gewährleistungsgarantie, mithin wie auch die in Art. 103 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen anderen Garantien ein grundrechtsgleiches Recht bzw. Prozessgrundrecht dar. Das Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung bildet damit ein unmittelbar aus dem Grundgesetz folgendes strafprozessuales Verfahrenshindernis (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.1953, 1 BvR 230/51 – BVerfGE 3, 248; 17.1.1961, 2 BvL 17-60 – BVerfGE 12, 62; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Überblick Rd. 2; Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Bd. III, 3. Aufl. [2018], Art. 103 Abs. 3, Rn. 14). Zu den Entscheidungen, die ein solches Prozesshindernis begründen, zählen v.a. Urteile verurteilender oder freisprechender Art (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.1.1961, 2 BvL 17/60 – BVerfGE 12, 62; BGH NJW 1954, 609; Radtke, a.a.O., Rn. 45).

30   bb)

31    Das aus Art. 103 Abs. 3 GG seinem Wortlaut nach vorbehaltlos folgende Verbot der Mehrfachverfolgung gilt jedoch nicht absolut oder unbegrenzt.

32   Vielmehr hat der historische Verfassungsgeber bei der Aufnahme von Art. 103 Abs. 3 in das Grundgesetz ganz bewusst an die vorkonstitutionelle Rechtslage mit den in § 402 Nr. 1-4 der Reichsstrafprozessordnung vorgesehenen Möglichkeiten der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des vormaligen Angeklagten angeknüpft. Das BVerfG hat hierzu in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1953 ausgeführt: „[…] Die Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass der Rechtssatz ne bis in idem durch die Aufnahme in das Grundgesetz inhaltlich geändert und die durch die Rechtsprechung gezogenen Grenzen anders als bisher bestimmt werden sollten. Vielmehr sollte nur dem überlieferten Rechtssatz wegen seines grundrechtsähnlichen Charakters in dem Grundgesetz Ausdruck verliehen werden. […] Der in Art. 103 Abs. 3 GG niedergelegte Rechtsgrundsatz nimmt daher auf den bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Stand des Prozessrechts und seiner Auslegung durch die herrschende Rechtsprechung Bezug …“ (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.12.1953, 1 BvR 230/51 – BVerfGE 3, 248). Das wird in Teilen der Literatur dahin verstanden, das BVerfG habe die Begrenzung des Gewährleistungsgehalts des Art. 103 Abs. 3 GG ausschließlich auf den Stand beschränkt, der vor Inkrafttreten des Grundgesetzes von der Rechtsprechung zum ne bis in idem-Grundsatz gegeben gewesen sei. Das vorkonstitutionelle Prozessrecht sei daher als einzige immanente Schranke des Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen. Einer weiteren Einschränkung durch das im Grundgesetz verankerte Rechtsstaatsprinzip und den ihm innewohnenden Grundsätzen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit sei Art. 103 Abs. 3 GG nicht zugänglich. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeige, dass der Verfassungsgeber die Abwägung zwischen diesen beiden Grundsätzen bereits abschließend und zugunsten der Rechtssicherheit getroffen habe. In der Folge seien die in § 362 Nrn. 1-4 StPO genannten Gründe für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen jeglicher Ausweitung verschlossen (vgl. Conen, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag vom 21.6.2021, S. 3 ff.; Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251; Leitmeier, StV 2021, 341; Slogsnat, ZStW 2021, 741).

33    Für eine derart restriktive Auslegung von Art. 103 Abs. 3 GG bieten die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes indes keine Grundlage. Die Auswertung der Protokolle der Beratungen des Parlamentarischen Rates und der von ihm gebildeten Ausschüsse über die Aufnahme von Art. 103 Abs. 3 GG in das Grundgesetz führt zu keinen entsprechenden Anknüpfungspunkten (vgl. die Zusammenstellung der Protokolle und Dokumente des Parlamentarischen Rates bei Klostermann, Das Grundgesetz, Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 24, Art. 97-104,    S. 607-682). Ausgangspunkt der Beratungen des Parlamentarischen Rates war die vom vorbereitenden Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vorgeschlagene Aufnahme des ne bis in idem-Grundsatzes in das neue Grundgesetz mit der Formulierung: „Niemand darf wegen derselben Tat zweimal gerichtlich bestraft werden“ (vgl. Klostermann, a.a.O., S. 625 f). Vorbild hierfür waren vergleichbare Formulierungen in den Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Hessen und Bayern. Im Parlamentarischen Rat wurde der vorgeschlagene Wortlaut jedoch als zu weitgehend angesehen. Im Folgenden schlug der Vorsitzende des Rechtspflegeausschusses die alternative Formulierung vor: „Niemand darf wegen derselben Tat zweimal gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden“ (vgl. Klostermann, a.a.O., S. 637). Sodann wurde im Verlauf der 7. und 8. Ausschusssitzung zum einen diskutiert, ob der ne bis in idem-Grundsatz überhaupt in das Grundgesetz aufgenommen werden solle, da er doch allgemeines Kulturgut sei. Die Frage wurde unter Hinweis auf die negativen Erfahrungen mit der Aushöhlung des Grundsatzes während der Nazizeit mehrheitlich bejaht. Zum anderen rangen die Ausschussmitglieder um einen möglichst eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut. Einzelne Ausschussmitglieder befürchteten, dass eine missverständliche Formulierung die künftige Auferlegung einer Disziplinarstrafe neben einer Kriminalstrafe als unzulässig erscheinen lassen könne (vgl. Klostermann, a.a.O., S. 649 ff). Schließlich einigte sich der Ausschuss auf den heutigen Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG. Er wurde von den weiteren Entscheidungsgremien des Parlamentarischen Rates und auf der abschließenden Sitzung des Plenums vom 8.5.1949 im Zuge der Verabschiedung des Grundgesetzes bestätigt (vgl. Klostermann, a.a.O, S. 669-682). Im gesamten Verlauf der Beratungen des Parlamentarischen Rates und seiner Gremien wurde indes die Frage der Begrenzung des Schutzbereichs von Art. 103 Abs. 3 GG und der Durchbrechungen des in ihm verankerten ne bis in idem-Grundsatzes nicht näher erörtert. V.a. wurden auch die in der damals geltenden § 402 Nrn. 1-4 Reichsstrafprozessordnung enthaltenen Tatbestände für die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten des Betroffenen nicht näher diskutiert. Gleiches gilt für die Frage der Zulässigkeit einer etwaigen Ausweitung der Wiederaufnahmetatbestände. Hätte der Verfassungsgeber den damaligen Rechtszustand – wie von Teilen der Literatur angenommen – dauerhaft festschreiben und jegliche Weiterungen der damals bestehenden Rechtskraftdurchbrechung ausschließen wollen, hätte er dies ausdrücklich in Art. 103 Abs. 3 GG klargestellt. Dass er davon abgesehen hat und sich aus den Materialien auch nicht ergibt, dass dies diskutiert worden wäre, lässt erkennen, dass er eine solche Verabsolutierung nicht in sein Vorstellungsbild aufgenommen hat (vgl. Hoven, JZ 2021, 1154).

34   Das BVerfG hat insoweit in einer Entscheidung aus dem Jahr 1981 klarstellend ausgeführt, dass die Bezugnahme von Art. 103 Abs. 3 GG auf den bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Stand des Prozessrechts nicht bedeute, dass das überlieferte Verständnis des ne bis in indem-Grundsatzes für jede auftauchende Zweifelsfrage bereits eine verbindliche Auslegung durch die Rechtsprechung bereithalte. Stattdessen sei eine Weiterentwicklung in offenen Randbereichen und dogmatischen Zweifelsfällen zulässig. Art. 103 Abs. 3 GG stehe Grenzkorrekturen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht entgegen. Er garantiere nur den Kern dessen, was vorkonstitutionell als Inhalt des ne bis in indem-Grundsatzes in der Rechtsprechung herausgearbeitet worden sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.1.1981, 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22). Vereinzelt wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, diese Ausführungen beträfen lediglich den ihr zugrundeliegenden Einzelfall. Daher könnten sie auch nicht als tragfähige Grundlage für eine Erweiterung der in § 362 Nr. 1-4 StPO geregelten Wiederaufnahmetatbestände angesehen werden. Dies wird damit begründet, dass die Entscheidung ausschließlich den Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG zum Gegenstand gehabt habe (vgl. Conen, a.a.O., S. 7 f.). Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Für eine derartige Einengung der vom BVerfG entwickelten Leitlinien ergibt sich aus der Entscheidungsbegründung kein Anhalt, zumal das BVerfG auch Grenzkorrekturen durch den Gesetzgeber für zulässig angesehen hat. Nähere Orientierungspunkte dafür, was den Umfang und den Inhalt des Kernbereichs des in Art. 103 Abs. 3 GG enthaltenen Verbots der Mehrfachverfolgung ausmacht, hat das BVerfG indes bisher nicht bestimmt.

35   Fraglich ist daher, ob die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO in den vom BVerfG gemeinten Kernbereich von Art. 103 Abs. 3 GG eingreift. In der Literatur besteht insoweit weitgehend Einigkeit nur dahingehend, dass als Mindestgarantie des Kernbereichs anzusehen ist, dass in den Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG eingreifende Normen hinreichend bestimmt sein müssen und nicht nur vage, potenziell ausufernde Voraussetzungen enthalten dürfen (vgl. Kaspar, GA 2022, 28 m.w.N.; Eisele, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag vom 21.6.2021, S. 4 f.). Aus dem Vorstehenden ergibt sich jedoch auch, dass der Schutzgehalt des in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten ne bis in idem-Grundsatzes gerade nicht absolut gilt. Vielmehr ist es dem Gesetzgeber möglich, auf der Grundlage sich unmittelbar aus der Verfassung ergebender Schranken als notwendig angesehene Korrekturen vorzunehmen, sofern sie nicht den Kernbereich des Verbots der Mehrfachverfolgung verletzen.

36   cc)

37    Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO schränkt den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 3 GG nicht in unzulässiger Weise ein.

38   (1)

39   Da Art. 103 Abs. 3 GG keine Schrankenregelung in Form eines Gesetzesvorbehalts enthält, kann sich die Zulässigkeit der von § 362 Nr. 5 StPO ausgehenden zusätzlichen Einschränkungen des Verbots vor Mehrfachverfolgung nur aus dem Grundgesetz selbst ergeben. In Betracht kommt hierbei das Rechtsstaatsprinzip als Leitlinie des Grundgesetzes mit den ihm innewohnenden Grundsätzen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit (vgl. Schulze-Fielitz, a.a.O., Art. 103 Abs. 3, Rn. 12 ff.; Kment, in: Jarras/Pieroth, GG, 16. Aufl. [2020], Art. 103 Rn. 106; Slogsnat, a.a.O.). Das BVerfG misst beiden Grundsätzen essenzielle Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Urt. v. 1.7.1953, 1 BvL 53/51 – BVerfGE 3, 380; Urt. v. 13.1.2013, 2 BvR 2628/10 – BVerfGE 133, 168). Es weist die Aufgabe, den häufigen Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit mal zur einen und mal zur anderen Seite zu entscheiden, in erster Linie dem Gesetzgeber zu. Dessen Entscheidungen sind hinzunehmen, solange sie nicht willkürlich getroffen werden (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.12.1953, 1 BvL, 106/53 – BVerfGE 3, 225; Beschl. v. 8.11.1967, 1 BvR 60/66 – BVerfGE 22, 322). Im Hinblick auf das in Art. 103 Abs. 3 GG enthaltene Verbot der Mehrfachverfolgung hat der Verfassungsgeber indes die Abwägung beider Grundsätze i.S. eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zugunsten der Rechtssicherheit getroffen (vgl. Aust, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag v. 21.6.2021, S. 3; Kubiciel, GA 2021, 381). Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Gesetzgeber in begründeten Ausnahmefällen hiervon abweicht und dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang einräumt (vgl. Gärditz, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag v. 21.6.2021, S. 4; Kubiciel, GA 2021, 381; Zehetgruber, JR 2020, 157). Entsprechende Ausnahmen waren u.a. in den schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Wiederaufnahmetatbeständen zuungunsten des Betroffenen nach § 402 Nr. 1-4 RStPO geregelt und gelten bis heute in § 362 Nr. 1-4 StPO – verfassungsrechtlich unbeanstandet – unverändert fort.

40   Hinsichtlich der von Teilen der Literatur angenommenen Unzulässigkeit der weiteren Einschränkung des Verbots der Mehrfachverfolgung durch die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO ist zusätzlich darauf hinzuweisen, dass die Reichweite des Verbots bereits zuvor nicht nur durch die schon angeführten Wiederaufnahmetatbestände in § 362 Nr. 1-4 StPO begrenzt war. So ermöglicht auch § 373a StPO – verfassungsrechtlich anerkannt (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.12.1953, 1 BvR 230/51 – BVerfGE 3, 248) – die Wiederaufnahme zuungunsten eines Betroffenen. Voraussetzung ist hier, dass neue, im vorausgegangenen Strafbefehlsverfahren unbekannt gebliebene Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen. Unter den gleichen Voraussetzungen erlaubt § 85 Abs. 3 OWiG die Wiederaufnahme eines gerichtlichen Bußgeldverfahrens zuungunsten des Betroffenen. Zwar bestehen zwischen einem Strafbefehls- sowie einem gerichtlichen Bußgeldverfahren einerseits und einem Freispruch am Ende der Hauptverhandlung eines Strafverfahrens andererseits verfahrensstrukturelle Unterschiede. Auch sind die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung in der Hauptverhandlung eines Strafverfahrens sowie an die Überzeugungsbildung des Tatrichters deutlich weitreichender, als im Strafbefehls- oder gerichtlichen Bußgeldverfahren. Jedoch ist allen drei Verfahren wesentlich gemein, dass nach ihrem Abschluss eine grundsätzlich identische Rechtskraft eintritt (vgl. § 410 Abs. 3 StPO). Deshalb sind sie im Hinblick auf das aus Art. 103 Abs. 3 GG folgende Verbot der Mehrfachverfolgung durchaus miteinander vergleichbar (vgl. Kubiciel, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag v. 21.6.2021, S. 3).

41   Im Hinblick auf die Frage, ob durch die Neuregelung in   § 362 Nr. 5 StPO der Kernbereich des Mehrfachverfolgungsverbots in Art. 103 Abs. 3 GG verletzt wird, ist ferner in den Blick zu nehmen, dass die schuldangemessene Bestrafung schweren Unrechts auf der Grundlage einer zutreffenden Tatsachenermittlung das Kernanliegen des Strafrechts und ein Gebot der Rechtstaatlichkeit ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 16.1.2003, 2 BvR 716/01 – BVerfGE 107, 104; Beschl. v. 19.6.1979, 2 BvR 1060/78 – BVerfGE 51, 324). Hierbei gewährt das Grundgesetz dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber einen weiten Raum freier politischer Gestaltung (vgl. Hoven, a.a.O.). Der Gesetzgeber hat hiervon auf der Grundlage seiner vom BVerfGausdrücklich zuerkannten Ermächtigung zur Korrektur des Schutzgehalts von Art. 103 Abs. 3 GG in Grenzbereichen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.1.1981, 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22) mit der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO zur Überzeugung des Senats in verfassungskonformer Weise Gebrauch gemacht. Er hat über die in § 362 Nr. 1-4 StPO genannten Wiederaufnahmegründe einen weiteren Wiederaufnahmegrund für eine eng umrissene Ausnahmekonstellation geschaffen, der unter dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit eine herausragende Bedeutung zukommt. Die hierzu getroffene Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO bewegt sich im Rahmen der vom BVerfG dem Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit der Weiterentwicklung des in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten ne bis in idem-Grundsatzes in Randbereichen (vgl. Gärditz, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag vom 21.6.2021, S. 3 f.; Kubiciel, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag vom 21.6.2021, S. 5 ff.; Eisele, a.a.O., S. 4 f.; Hoven, a.a.O.).

42   Der von Teilen der Literatur vertretenen gegenteiligen Auffassung, § 362 Nr. 5 StPO verletze den absolut geschützten Kernbereich der Gewährleistungsgarantie des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. Aust, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag vom 21.6.2021, S. 2 f.; Conen, a.a.O., S. 3 ff.; Kaspar, GA 2022, 21; Arnemann, StraFo 2021, 442; Leitmeier, a.a.O.; Slogsnat, a.a.O.), folgt der Senat aus folgenden Gründen nicht:

43   (a)

44    Die Befürworter dieser Auffassung gehen zum einen von der – wie oben bereits erörtert – unzutreffenden Annahme aus, dass dem Gesetzgeber innerhalb von Art. 103 Abs. 3 GG jegliche Abwägung zwischen dem Grundsatz der Rechtssicherheit und der Forderung nach materieller Gerechtigkeit und daher eine Erweiterung der in § 362 Nr. 1-4 StPO geregelten Wiederaufnahmetatbestände von vornherein verwehrt sei.

45   (b)

46    Zum anderen wird nicht ausreichend bedacht, dass von dem neuen Wiederaufnahmegrund in § 362 Nr. 5 StPO nur eine äußerst eng umgrenzte Fallkonstellation erfasst wird. So hat der Gesetzgeber für die Anwendbarkeit dieses Wiederaufnahmegrundes in mehrfacher Hinsicht besonders hohe Hürden festgeschrieben:

47   Zum einen kommt eine Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO ausschließlich dann in Betracht, wenn „neue“ Tatsachen oder Beweise vorliegen, denen eine hohe Beweisqualität zukommt und die für sich bzw. im Ergebnis der Gesamtwürdigung mit den anderen vorhandenen Beweismitteln „dringende“ Gründe für eine spätere Verurteilung des Freigesprochenen begründen. Damit ist hinreichend sichergestellt, dass nicht jede nachträgliche, nur einen einfachen oder hinreichenden Tatverdacht i.S. der §§ 152, 203 StPO begründende Veränderung der Beweislage die Grundlage einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen darstellen kann. Vielmehr muss seine Verurteilung mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (vgl. Gärditz, a.a.O., S. 6).

48   Zum anderen ist der Anwendungsbereich von § 362 Nr. 5 StPO zusätzlich dadurch restriktiv eingeschränkt, dass er ausschließlich die unverjährbaren Straftaten des Mordes, des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person, mithin nur die vom Gesetz als schwerste Verbrechen angesehenen Straftaten erfasst. All dies zeigt nach Ansicht des Senats, dass es sich bei der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO i.S. des o.g. Maßstabs des BVerfG lediglich um eine Weiterentwicklung im Randbereich des in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten ne bis in indem-Grundsatzes handelt und dessen Wesensgehalt unberührt lässt.

49   Die in der Literatur teilweise geäußerte Befürchtung, die Einführung des Weiteren Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO führe zu einem „Dammbruch“, da er die Möglichkeit zur faktischen Aufgabe des in Art. 103 Abs. 3 GG gewährleisteten Mehrfachverfolgungsverbotes eröffne (vgl. Frister/Müller, ZRP 2019, 101), ist spekulativ und ohne valide Grundlage. Angesichts dessen, dass der Gesetzgeber den neuen Wiederaufnahmegrund bewusst mit den bereits genannten, besonders hohen Anwendungsvoraussetzungen versehen hat und jede weitere Ausweitung der Wiederaufnahmegründe der restriktiven Rechtsprechung des BVerfG zur Unverletzlichkeit des Kernbereichs des Art. 103 Abs. 3 GG unterworfen wäre, ist nicht ersichtlich, auf welche valide Basis sich die geäußerte Besorgnis der Gefahr einer rechtspolitischen Fehlentwicklung i.S. eines „Dammbruchs“ gründet (vgl. Hoven, JZ 2021, 1154).

50   (c)

51    Soweit der Gesetzgeber ein Festhalten an der vor dem Inkrafttreten von § 362 Nr. 5 StPO fehlenden Möglichkeit, das frühere Verfahren gegen einen Freigesprochenen wegen eines unverjährbaren Tötungsdelikts trotz neuer Tatsachen oder Beweismittels mit besonders hoher Beweiskraft nicht wiederaufnehmen zu können, als „unerträglich“ angesehen hat, mag die verwendete Begrifflichkeit aufgrund ihrer emotionalen Einfärbung auf den ersten Blick ungeeignet erscheinen (vgl. Frister/Müller, a.a.O.). Jedoch gibt der Gesetzgeber mit dem Hinweis auf die „Unerträglichkeit“ im Kern zu erkennen, dass er das Absehen von der schuldangemessenen Bestrafung eines Freigesprochenen bei den in § 362 Nr. 5 StPO aufgeführten schwersten Straftaten gegen das Leben für eine so evidente Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in den Rechtsstaat und den Rechtsfrieden mit den damit einhergehenden negativen Folgen für die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege hält, dass in diesen Fällen im Interesse der materiellen Gerechtigkeit der Grundsatz der Rechtssicherheit zurücktreten muss (vgl. BT-Drs. 19/30339, S. 9 f.; Eisele, a.a.O., S. 4; Hoven, a.a.O.). Die Annahme der „Unerträglichkeit“ beruht hierbei nicht primär auf einer bloßen emotionalen Befindlichkeit. Sie leitet sich vielmehr daraus ab, dass in diesen Fällen der im ersten Strafverfahren ergangene Freispruch höchstwahrscheinlich auf einer nicht korrekt festgestellten oder nicht hinreichend ausermittelten Tatsachengrundlage beruht hat und daher im eklatanten Widerspruch zum tatsächlichen Tatgeschehen steht, was eine nicht hinnehmbare Verletzung des verfassungsrechtlichen Ziels des Strafverfahrens darstellt, nämlich die im Interesse der Rechtssicherheit und der materiellen Rechtssicherheit liegende tat- und schuldangemessene Bestrafung des Täters auf der Grundlage einer zutreffend ermittelten Tatsachengrundlage (vgl. Zehetgruber, a.a.O.). Die in der Annahme der „Unerträglichkeit“ zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertentscheidung, im Fall von schwersten Verbrechen gegen das Leben der materiellen Gerechtigkeit unter den engen Anwendungsvoraussetzungen des Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO gegenüber der Rechtssicherheit den Vorrang einzuräumen, findet sich kongruent in der vom BVerfGals verfassungskonform angesehenen Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe für diese Straftaten und ihrer Unverjährbarkeit wieder.

52   Dass die Zahl der Fälle, in denen ein an sich schuldiger Täter einer der in § 362 Nr. 5 StPO aufgeführten Tatbestände durch einen rechtskräftigen Freispruch vor einer Aburteilung verschont geblieben ist bzw. bleibt, eher gering ist, ändert an den vom Gesetzgeber bei einem Fortbestand des freisprechenden Urteils angenommenen Gefährdungen für das Vertrauen in den Rechtsstaat sowie für die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nichts. Der neue Wiederaufnahmegrund in § 362 Nr. 5 StPO erfasst besonders gefährliche und verwerfliche Angriffe gegen das Leben als das vom Grundgesetz als höchstes anerkanntes Rechtsgut sowie schwerste, die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührende Verbrechen. Gerade bei diesen Straftaten kann sich nicht nur bei einem späteren Geständnis eines Freigesprochenen i.S. von § 362 Nr. 4 StPO, sondern gleichermaßen bei den von § 362 Nr. 5 StPO erfassten neuen Tatsachen oder Beweismitteln der unveränderte Fortbestand einzelner Freisprüche nachhaltig negativ auf die Rechtsgemeinschaft auswirken (vgl. Kubiciel, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung im Deutschen Bundestag v. 21.6.2021, S. 9; Eisele, a.a.O.,    S. 4). Dies zeigt exemplarisch der vorliegende Fall des Beschwerdeführers im Hinblick auf die breite Berichterstattung in den Medien, das besonders hohe Interesse der Öffentlichkeit und die intensiven Diskussionen um die Frage der nachträglichen Strafverfolgung des Beschwerdeführers eindringlich.

53   (d)

54    Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO weder willkürlich ist noch in den Kernbereich des von Art. 103 Abs. 3 GG gewährleisteten Verbots der Mehrfachverfolgung eingreift. Die Neuregelung ist für die von ihr erfassten unverjährbaren Straftaten als prozessuales Äquivalent zu der im materiellen Strafrecht enthaltenen Regelung ihrer Unverjährbarkeit anzusehen.

55   (2) Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO steht auch nicht im Widerspruch zum Völkerrecht, zur Europäischen Menschenrechtskonvention oder zu anderen europarechtlichen Normen, was ebenfalls bei der Auslegung von Art. 103 Abs. 3 GG zu berücksichtigen ist.

56   Der in vielen Ländern innerstaatlich anerkannte und häufig auch kodifizierte ne bis in idem-Grundsatz bzgl. des Verbots der Doppelbestrafung und Mehrfachverfolgung hat sich bisher weder als Völkergewohnheitsrecht noch als allgemeiner Rechtsgrundsatz manifestiert und stellt daher keine allgemeine Regel des Völkerrechts dar (vgl. Esser, in: LR-StPO, 26. Aufl. [2012], Art. 6 EMRK, Rn. 1054).

57   Auch in das Regelungswerk der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hat der ne bis in indem-Grundsatz keinen Eingang gefunden (vgl. dazu Rüping, in: GG, 194. Akt. [2018], Art. 103 Abs. 3 Rn. 5). Daher einigten sich einige Mitgliedsstaaten des Europararates auf das Zusatzprotokoll Nr. 7 zur EMRK und verankerten in Art. 4 Abs. 1 des Protokolls das Verbot der Doppelbestrafung und der Mehrfachverfolgung. Indes schließt Art. 4 Abs. 2 die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens auch gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates u.a. dann nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen. Auch wenn Deutschland das Zusatzprotokoll bisher nicht ratifiziert hat, so ist bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO in den Blick zu nehmen, dass die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen beim Vorliegen von neuen Tatsachen nicht den europarechtlichen Mindeststandards für die Einhaltung der Menschenrechte widerspricht. Dabei kommt hinzu, dass Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls weit geringere Anforderungen an die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen enthält, als der deutsche Gesetzgeber sie in § 362 Nr. 5 StPO festgeschrieben hat. Er hat besonders hohe Hürden hinsichtlich der Beweisqualität der neuen Tatsachen oder Beweismittel und des Verdachtsgrades vorgesehen sowie die Anwendung des neuen Wiederaufnahmegrundes restriktiv auf die abschließend aufgeführten schwersten Verbrechen gegen das Menschenleben beschränkt.

58   Soweit auf der Ebene der Europäischen Union in Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta (EUC) das Verbot der Doppelbestrafung und der Mehrfachverfolgung aufgenommen wurde, erfasst es gemäß Art. 51 Abs. 1 EUC lediglich solche Taten, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Durchführung des Rechts der Europäischen Union, also im Anwendungsbereich des Unionsrechts begangen wurden (vgl. Radtke, a.a.O., Rn. 1090 m.w.N.). Ein Verstoß der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO gegen Art. 50 EUC kommt daher von vornherein nicht in Betracht.

59   Schließlich ist in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) bestimmt, dass derjenige, der in einem der Vertragsstaaten des Abkommens rechtskräftig abgeurteilt worden ist, wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat nicht verfolgt werden darf. Es handelt sich hierbei jedoch um eine transnationale Regelung, die lediglich Geltung im Verhältnis der Vertragsstaaten untereinander hat, aber keine unmittelbare Bindungswirkung im innerstaatlichen Recht entfaltet (vgl. Radtke, a.a.O., Art. 103 Rd. 49).

60   Zudem hat das LG in seiner Verfügung vom 7.3.2022 (SH Beschwerde, Bl. 1 ff.) zutreffend darauf hingewiesen, dass auch andere Länder in Europa, wie z.B. Bulgarien, Dänemark, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Österreich, Schweden, die Slowakei, Ungarn oder die Tschechische Republik in ihren Strafprozessordnungen ausdrücklich die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten des früheren Angeklagten wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel zulassen.

61   (3)

62    Der neue Wiederaufnahmetatbestand in § 362 Nr. 5 StPO fügt sich auch in die Regelung der weiteren Wiederaufnahmegründe in § 362 Nrn. 1-4 StPO ein. In der Literatur wird teilweise die Ansicht vertreten, dass § 362 Nr. 5 StPO als systemfremd anzusehen sei (vgl. Kaspar GA 2022, 21; Leitmeier, a.a.O.). Einen Systembruch vermag der Senat in der Aufnahme des neuen Wiederaufnahmetatbestandes in § 362 Nr. 5 StPO jedoch nicht zu erkennen, da die von § 362 Nr. 1-4 StPO erfassten Wiederaufnahmegründe für sich genommen keiner zwingenden, einheitlichen Systematik folgen. Während die in Nr. 1-3 geregelten Tatbestände ihren Grund in schwerwiegenden Verfahrensmängeln haben, enthält der Tatbestand in Nr. 4 das spätere Geständnis eines rechtskräftig Freigesprochenen, also – ähnlich wie die Neuregelung in Nr. 5 benannten neuen Tatsachen oder Beweismittel – einen nachträglichen eintretenden und die Beweislage zu Lasten des Freigesprochenen ändernden Wiederaufnahmegrund (vgl. Hoven, a.a.O.; Zehetgruber, a.a.O.). Sowohl das nachträgliche Geständnis als auch die neuen Tatsachen oder Beweismittel haben dabei lediglich Indizwirkung und bedürfen der kritischen Überprüfung und Würdigung im Wiederaufnahmeverfahren. Der in der Literatur (vgl. Kaspar, a.a.O.) teilweise als wesentlicher Unterschied angesehene Umstand, dass das nachträgliche Geständnis nach Nr. 4 aus der subjektiven Sphäre des Freigesprochenen stamme und auf seiner bewussten, willentlichen Äußerung beruhe, während die von Nr. 5 erfassten neuen Tatsachen oder Beweismittel, wie z.B. der Nachweis des Freigesprochenen als Verursacher von nachträglich gesicherten DNA-Spuren, gerade nicht von dem Freigesprochenen gewollt seien, führt nicht zur Annahme der Systemwidrigkeit von Nr. 5. Denn auch die in Nrn. 1-3 genannten Wiederaufnahmetatbestände sind nicht von einer freiwilligen Mitwirkung des Freigesprochenen abhängig (vgl. Zehetgruber, a.a.O.). Hinzu kommt, dass das in Nr. 4 genannte spätere Geständnis nicht allein deshalb einen Wiederaufnahmegrund darstellt, weil der Freigesprochene es freiwillig abgelegt hat. Anderenfalls müsste nicht nur das Geständnis eine Wiederaufnahme begründen, sondern jede freiwillige Veränderung der Beweislage durch den Freigesprochenen, z.B. durch die freiwillige Übermittlung der einzig mit seinen Fingerabdrücken versehenen Tatwaffe. Der Gesetzgeber hat in einem nachträglichen Geständnis vielmehr auch und gerade deshalb einen Wiederaufnahmegrund gesehen, weil diesem traditionell ein besonders großer Beweiswert zugesprochen wird. Das – glaubhafte – Geständnis bildet mithin einen dringenden Grund für die Annahme, dass der Freigesprochene die Tat begangen hat. Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO knüpft systematisch in vergleichbarer Weise an andere neue Tatsachen oder Beweismittel an, die – in der Zusammenschau mit den bisher schon bekannt gewesenen Beweismitteln – dringende Gründe für die Tatbegehung des Betroffenen begründen (vgl. Kubiciel, a.a.O., S. 3; Gärditz, a.a.O., S. 5f.).

63   (4)

64    Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO genügt auch dem allgemeinen, verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

65   (a)

66    Erklärtes Ziel des Gesetzgebers bei der Einführung dieser Bestimmung war es, die Wiederaufnahme eines Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen bei schwersten Straftaten auch dann zu ermöglichen, wenn erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens neue, belastende Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, aus denen sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Freigesprochenen ergibt. Hierdurch soll das als unerträglich angesehene Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils zugunsten der Herstellung der materiellen Gerechtigkeit überwunden werden können. Mit der Erleichterung der Wiederaufnahme des Verfahrens soll eine effektivere Verfolgung schwerster Straftaten und eine Stabilisierung des Rechtsfriedens sowie der Geltung von Normen zum Schutz von höchstrangigen, subjektiven Rechten und von fundamentalen völkerrechtlichen Interessen erreicht werden (vgl. BT-DRs. 19/30399, S. 1). Diese Bestrebungen des Gesetzgebers sind in jeder Hinsicht legitim.

67   (b)

68    Die Eignung des neuen Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO für eine Effektivierung der Verfolgung und Aburteilung der tatbestandlich erfassten schwersten Straftaten gegen das Leben sowie der zugrunde liegenden weiteren vom Gesetzgeber verfolgten Ziele ist offenkundig.

69   (c)

70    Die Einführung des Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO war auch erforderlich. Weniger belastende Mittel, mit denen die mit der Neuregelung verbundenen gesetzgeberischen Ziele in vergleichbar erfolgreicher Weise herbeigeführt werden könnten, sind nicht ersichtlich. Die Möglichkeit der späteren Verurteilung eines rechtskräftig Freigesprochenen im Fall nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel mit besonders hohem indiziellem Wert für dessen Begehung einer der in § 362 Nr. 5 StPO genannten Straftaten kann anders, als durch die Schaffung eines entsprechenden Wiederaufnahmegrundes nicht erreicht werden.

71   (d)

72    Die Angemessenheit des von der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO ausgehenden Eingriffs in das aus Art. 103   Abs. 3 GG folgende prozessuale Grundrecht des Verbots der Mehrfachverfolgung ist ebenfalls gewahrt. Der Eingriff steht nicht außer Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber erstrebten Zweck. Zwar geht von dem Eingriff eine Beeinträchtigung der durch das Verbot gewährleisteten individuellen Rechtssicherheit eines Freigesprochenen aus. Jedoch hat der Gesetzgeber – wie oben unter (1) bereits dargestellt – besonders hohe Hürden als Voraussetzungen für das Eingreifen des neu eingeführten Wiederaufnahmegrundes aufgestellt. Hinzu kommt, dass das frühere Strafverfahren erst wiederaufgenommen werden kann, wenn die neuen Tatsachen oder Beweismittel im vorab nach §§ 368 Abs. 1, 370 Abs. 1 StPO durchzuführenden Verfahren der Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags im konkreten Einzelfall einer qualifizierten Überprüfung anhand der o.g. Anforderungen unterzogen wurden. Die aufgezeigten hohen Hürden tragen den berechtigten Interessen des Freigesprochenen hinreichend Rechnung. Sie lassen erwarten, dass es nur in sehr seltenen Ausnahmefällen tatsächlich zu einem neuen Strafverfahren gegen einen Freigesprochen kommen wird (vgl. Gärditz, a.a.O., S. 6). Daher geht auch die im Schrifttum teilweise vertretene Ansicht fehl, ein Freigesprochener lebe fortan unter dem „Damoklesschwert“ der wiederholten Strafverfolgung, es gebe künftig nur Freisprüche unter „Vorbehalt“ (vgl. Leitmeier, a.a.O.; Bayram, DRiZ 2021, 266).

73   (5) Im Ergebnis der vorstehenden Erwägungen verstößt die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO nicht gegen Art. 103 Abs. 3 GG.

74   b)

75   Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO genügt in ihrem restriktiven, auf unverjährbare, abschließend aufgeführte und konkret beschriebene Tatbestände sowie auf „neue“ Tatsachen oder Beweismittel bezogenen Regelungsgehalt einschließlich der konkreten Festlegung des die Wiederaufnahme voraussetzenden hohen Verdachtsgrades – „dringende Gründe“ – den Anforderungen des aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Bestimmtheitsgrundsatzes. Der Gesetzgeber hat bei der Formulierung der Neuregelung keine neuen, in der Strafprozessordnung und der zu ihr ergangenen Rechtsprechung nicht enthaltenen Rechtsbegriffe verwendet, die hinsichtlich ihres Inhalts eine nähere Bestimmung erfordern würden.

76   c) Das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsverbot wird durch die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO ebenfalls nicht verletzt.

77   Das spezielle Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG steht der Anwendung des neuen Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO auf Altfälle, in denen das freisprechende Urteil bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung in Rechtskraft erwachsen ist, nicht entgegen. Art. 103 Abs. 2 GG schließt die Bestrafung von Taten aus, sofern die Strafbarkeit nicht bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Der Schutzbereich dieses grundrechtsgleichen Rechts untersagt mithin nur die rückwirkende Anwendung von materiell-rechtlichen Bestimmungen des Strafrechts. Auf Änderungen des Strafprozessrechts findet Art. 103 Abs. 2 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG daher keine Anwendung (vgl. BVerfG, Beschl.                     v. 10.2.2021, 2 BvL 8/19 – BVerfGE 156, 354). Alleiniger Maßstab ist daher das aus Art. 20 GG abgeleitete Rechtsstaatsprinzip als immanenter Verfassungsgrundsatz mit dem ihm innewohnenden allgemeinen Rückwirkungsverbot. Die Anforderungen an die Beachtung dieses Verbots sind nach dem BVerfG (vgl. BVerfG, a.a.O.) davon abhängig, ob es sich um eine unechte oder echte Rückwirkung handelt. Hinsichtlich der Einordnung der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO besteht in der Literatur keine Einigkeit (vgl. Kubiciel, GA 2021, 380 [394]; Garson, StV 2022, 124). Der Senat kann die Frage offenlassen. Denn auch bei der Annahme einer echten Rückwirkung wären die vom BVerfG an deren Zulässigkeit gestellten besonders hohen Anforderungen erfüllt. Danach ist eine „echte“ rückwirkende Anwendung belastender Normen u.a. dann ausnahmsweise zulässig, wenn zwingende, dem Vertrauensschutz vorgehende Gemeinwohlbelange gegeben sind (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 142 ff.). Diese sieht der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO in der notwendigen Wahrung der materiellen Gerechtigkeit und der Stabilisierung von Normen, welche Rechtsgüter von höchstem Verfassungsrang gegen besonders gefährliche und verwerfliche Angriffe, wie Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schützen. Die Integrität der Rechtsordnung würde besonders schwer beschädigt, wenn die vom Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO erfassten schwersten Straftaten unzureichend bewältigt bleiben müssten. Dies würde dem Rechtsstaatsprinzip und der Befriedungsfunktion des Strafrechts in unerträglicher Weise zuwiderlaufen (vgl. BT-Drs. 19/30399, S. 6, 10). Der Senathält diese Erwägungen für tragfähig. Das BVerfG hat im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der rückwirkenden Anwendung der Neuregelung des Vermögensabschöpfungsrechts (Art. 316h EGStGB) als überwiegende, zwingende Gemeinwohlbelange auch die Notwendigkeit, „in normbekräftigender Weise“ der Rechtsgemeinschaft die Geltung des Rechts vor Augen zu führen und so „die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken“ sowie einem die „Rechtstreue der Bevölkerung abträglichen Eindruck eines erheblichen Vollzugsdefizits“ entgegenzuwirken, anerkannt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.2.2021, 2 BvL 8/19 –         BVerfGE 156, 354). Das BVerfG hat hierbei keine Einschränkung vorgenommen, soweit von der Rückwirkung auch bereits verjährte Taten betroffen sein könnten. Das Gericht hält es in der zitierten Entscheidung vielmehr ausdrücklich für zulässig, rückenwirkend an bereits verjährte Taten aus überragenden Gemeinwohlbelangen nachteilige Rechtsfolgen zu knüpfen, weil der Unrechtscharakter der Tat durch die fehlende Verfolgbarkeit nicht verloren gehe (vgl. BVerfG, a.a.O., Rd. 159). Genauso liegt es bei der nachträglichen Schaffung des neuen Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO und dessen rückwirkender Anwendbarkeit auf die von ihm erfassten Taten. Auch diese durften bislang aus rechtlichen Gründen – wegen des in Rechtskraft erwachsenen Freispruchs des vormaligen Angeklagten – nicht (mehr) verfolgt werden. Gleichermaßen haben auch diese Taten trotz fehlender Verfolgbarkeit nicht ihren Unrechtscharakter verloren. Und auch in dieser Konstellation wird in die Rechtssicherheit für den betroffenen Freigesprochenen zugunsten der materiellen Gerechtigkeit – in eng umgrenzten Ausnahmefällen – nachträglich eingegriffen. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass das BVerfG in der genannten Entscheidung festgestellt hat, dass die dort zu beurteilenden nachträglichen negativen Rechtsfolgen – die Abschöpfung von durch Straftaten inkriminiertem Vermögen – keinen Strafcharakter haben, ganz im Gegensatz zu den drohenden Rechtsfolgen des neugeschaffenen Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO. Denn – genau wie bei der Vermögensabschöpfung – ist auch bei der Schaffung eines neuen Wiederaufnahmegrundes nicht das spezielle, auf die rückwirkende Anwendung von Strafnormen bezogene Rückwirkungsverbot in Art. 103 Abs. 2 GG betroffen, sondern das allgemeine aus Art. 20 GG abgeleitete Rückwirkungsverbot. Mit der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO ist kein neuer materiell-rechtlicher, rückwirkend anwendbarer Straftatbestand geschaffen worden. Vielmehr wurde nur die Verfolgbarkeit von bereits unter Strafe gestellten Taten rückwirkend neu geregelt.

78   Bei Zugrundelegung des o.g. vom BVerfG vorgegebenen Maßstabs ergeben sich nach alledem an der Zulässigkeit der rückwirkenden Anwendung der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO keine Zweifel, zumal der darin enthaltene neue Wiederaufnahmegrund von vornherein nur auf die vom Gesetzgeber als schwerste Straftaten angesehenen, unverjährbaren und mit lebenslanger Freiheitsstrafe bewährten Verbrechen gegen das Menschenleben als höchstes von der Verfassung geschütztes Rechtsgut anwendbar ist.

79   d) Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO verstößt schließlich auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG.

80   Der Gesetzgeber hat die Anwendbarkeit des neu eingeführten Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO auf die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bewehrten Verbrechen des Mordes, des Völkermordes, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen gegen Menschen beschränkt. Teile der Literatur sehen darin einen Widerspruch, der sich daraus ergebe, dass andere, ähnlich schwerwiegende und mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Verbrechen, wie z.B. die Tatbestände in §§ 178, 212 Abs. 2, 251, 306c StGB nicht in den Katalog des § 362 Nr. 5 StGB aufgenommen worden seien (vgl. Hoven, a.a.O.; Slogsnat, a.a.O.). Indes lässt sich hieraus kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 GG ableiten. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist eine Verletzung dieses Grundsatzes nur dann gegeben, wenn „… eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.1983, 2 BvR 282/80 – BVerfGE 65, 377). Der Gesetzgeber hat als Grund für die restriktive Begrenzung der Wiederaufnahme auf die in § 362 Nr. 5 StPO abschließend aufgeführten Taten deren Unverjährbarkeit benannt. Unter Zugrundelegung des o.g. Maßstab des BVerfG stellt die Unverjährbarkeit einen wesentlichen Unterschied im Vergleich zu den von § 362 Nr. 5 StPO nicht erfassten anderen, oben genannten schweren Taten dar, der ihre allein sachbezogene und nicht an persönliche Eigenschaften anknüpfende, ungleiche Behandlung begründet und daher nicht willkürlich erscheinen lässt. Der Gesetzgeber hat mit diesem Abgrenzungskriterium – auch vor dem Hintergrund der oben unter a), bb) bereits erörterten engen verfassungsrechtlichen Grenzen für die Zulässigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich von Art. 103 Abs. 3 GG – zugleich in besonderer Weise den herausragenden Charakter der in § 362 Nr. 5 StPO genannten Taten herausgestellt. Soweit in der Nichtaufnahme solcher Taten in den Katalog des § 362 Nr. 5 StPO gleichwohl eine Inkohärenz gesehen werden könnte (vgl. Hoven, a.a.O.), folgt daraus für die vom Gesetzgeber vorgenommene Beschränkung keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Es ist allein Aufgabe des Gesetzgebers, die Frage der Erforderlichkeit und der Möglichkeit der Überwindung einer etwaigen Inkohärenz zu prüfen (vgl. Letzgus, NStZ 2020, 217).

81   3. Das LG hat die Voraussetzungen für die Annahme des in § 362 Nr. 5 StPO geregelten Wiederaufnahmegrundes unter Zugrundelegung des maßgeblichen rechtlichen Prüfungsmaßstabs zutreffend bejaht. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat zunächst auf die diesbezüglichen Ausführungen des LG in dem angefochtenen Beschluss Bezug. Die von der Verteidigung des Beschwerdeführers erhobenen Einwände greifen nicht durch.

82   Ergänzender Erörterung durch den Senat bedarf nur das Folgende:

83   a) Hinsichtlich des vom LG als „neues“ Beweismittel i.S.v. § 362 Nr. 5 StPO eingestuften molekulargenetischen Vergleichsgutachtens des LKA N. vom 24.7.2012 liegt nunmehr mit dem weiteren molekulargenetischen Vergleichsgutachten des LKA N. vom 16.3.2022 ein zusätzliches „neues“ Beweismittel vor. Das Gutachten war von der Staatsanwaltschaft Verden (Aller) mit der Maßgabe in Auftrag gegeben worden, das im Jahr 2012 in 13 DYS-Merkmalssystemen molekulargenetisch untersuchte Spurenmaterial zum Zwecke der Auftypisierung in 16 DYS-Merkmalssystemen erneut molekulargenetisch zu untersuchen. Gegenstand beider Gutachten war jeweils die Untersuchung von Spermaspuren, die in der Unterbekleidung bzw. in hierin eingelegten Slipeinlagen und Toilettenpapierblättern der getöteten F. v. M. gesichert werden konnten. Insgesamt vier Sekretantragungen wurden molekulargenetisch ausgeformelt und einem männlichen Verursacher zugeordnet. Als Vergleichsprobe lag dem LKA N. eine Haarprobe mit anagenen Haarwurzeln zugrunde, deren genetische Merkmale ebenfalls ausgeformelt werden konnten und die mit den untersuchten männlichen Sekretspuren aus Slipeinlagen und Toilettenpapier aus der Unterbekleidung des Tatopfers übereinstimmten.

84   Nach dem Ergebnis beider Gutachten kann diejenige männliche Person, von der die Haarprobe stammt, als Verursacher der genannten Spermaspuren angesehen werden. Die Annahme, dass die Haarprobe von dem Beschwerdeführer stammt, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Die untersuchte Haarprobe wurde im Gutachten des LKA N. vom 24.7.2012 mit der Spurennummer 875.881.81.1 (Ass.-Nr. 2012/9295.11) bezeichnet. Zwar wurden in dem im Jahr 1981 geführten polizeilichen Ermittlungsverfahren zur Aufklärung der Umstände des Todes von F. v. M. von mehreren Personen Haarproben entnommen. Eine mit der im genannten Gutachten des LKA N. verwendeten Kennzeichnung der gewonnenen Haarproben findet sich in den ursprünglichen Ermittlungsakten nicht. Gleichwohl lässt sich nachvollziehen, dass es sich bei der durch das LKA untersuchten Haarprobe um eine solche des Beschwerdeführers handelt. Ausweislich des Berichtes der Mordkommission M. vom 29.12.1991 (HA Bd. II, Bl. 36 d.A.) wurden dem Beschwerdeführer in dem Ermittlungsverfahren Haarproben entnommen. Diese wurden – bereits unter den Bezeichnungen 875/81 – 881/81 – Gegenstand eines kriminaltechnischen Untersuchungsberichtes des Landeskriminalpolizeiamts N. vom 22.3.1982 (HA Bd II, Bl. 162 d.A.), in dem im Auto des Beschwerdeführers gefundene Haarspuren mit zuvor genommenen Vergleichshaarproben des Beschwerdeführers, des Tatopfers F. v. M. sowie von zwei weiteren Personen verglichen wurden. Bei einer erneuten Asservatensichtung im Jahr 2012 sind die seinerzeit entnommenen Haarproben in einem Briefumschlag auf Objektträgern gefunden worden. Diese waren mit der Kennzeichnung „875/881-81 Vergleichshaare Ismet H…. mitte-oben 1, 2“ beschriftet. Daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die in dem molekulargenetischen Vergleichsgutachten des LKA N. vom 24.7.2012 untersuchte und mit der Spurennummer 875.881.81.1 (Ass.-Nr. 2012/ 9295.11) bezeichnete Haarprobe dem Beschwerdeführer zuzuordnen ist.

85   b) Das LG hat in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt, dass dem molekulargenetischen Vergleichsgutachten des LKA N. vom 24.7.2012 – das o.g. weitere Vergleichsgutachten vom 16.3.2022 lag dem LG zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht vor – und den darin mitgeteilten Untersuchungsergebnissen eine hohe indizielle Bedeutung zukommen. Darüber hinaus hat das LG nachvollziehbar dargelegt, dass in der Zusammenschau der Untersuchungsergebnisse mit den weiteren maßgeblichen, in den Beschlussgründen mitgeteilten Tatumständen, insbesondere der bereits im früheren Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer festgestellten Übereinstimmung der an der Kleidung der getöteten F. v. M. sichergestellten Faserspuren mit den im damaligen Fahrzeug des Beschwerdeführers vorhandenen Textilien (Sitzfelle, Bezug der Kopfstützen, Teppich im Fußraum), dringende Gründe für die Annahme der Täterschaft des Beschwerdeführers vorliegen.

86   Der Senat teilt insoweit die Ansicht des LG, dass dem für sich genommen den Beschwerdeführer entlastenden Umstand, dass die im Tatortbereich vorgefundenen Reifenspuren im damaligen Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht dem ihm seinerzeit gehörenden Fahrzeug zugeordnet werden konnten, keine durchgreifende Beweisbedeutung zukommt.

87    Konkrete, tatsächliche Anknüpfungspunkte dafür, dass nicht der Beschwerdeführer, sondern ein Dritter F. v. M. getötet haben könnte, sind ebenfalls nicht ersichtlich.

88   Der Senat geht daher davon aus, dass das LG Stade als insoweit maßgebliches „Erstgericht“, aus dessen Perspektive zu prüfen ist, ob das freisprechende Urteil bei Berücksichtigung der neuen Beweise anders ausgefallen wäre   (st. Rspr., vgl. Schmidt, in: KK-StPO, 8. Aufl. [2019], § 368 Rn. 10), im Falle der Kenntnis der Ergebnisse der molekulargenetischen Vergleichsuntersuchungen des LKA N. und im Ergebnis der Gesamtwürdigung der Gutachten sowie der übrigen Beweise die Täterschaft des Beschwerdeführers bzgl. der Tötung der F. v. M. als erwiesen angesehen hätte.

89   c) Die Annahme des LG, es lägen auch dringende Gründe dafür vor, dass F. v. M. vor ihrem durch mehrere Messerstiche herbeigeführten Tod das Opfer einer Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1 StGB a.F. geworden sei, wird vom Senat ebenfalls geteilt.

90   Die Verteidigung des Beschwerdeführers vertritt die Auffassung, es sei nichts dafür ersichtlich, dass der an F. v. M. ausgeführte Geschlechtsverkehr durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben i.S. von § 177 Abs. 1 StGB a.F. durchgeführt worden sei. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

[…]

95   d) Die Verteidigung des Beschwerdeführers nimmt überdies aus einem weiteren Grund eine Verdeckungsabsicht des Täters bei der Tötung der F. v. M. in Abrede. Sie stellt unter Bezugnahme auf verschiedene Entscheidungen des BGH zur Beurteilung einer Vielzahl von Verletzungshandlungen als möglicher Folge eines affektiven Erregungszustandes sowie unter Hinweis auf die aktenkundige große Abneigung von F. v. M. gegenüber …stämmigen Personen die These auf, die ihr zugefügten 11 Messerstiche und das Durchtrennen ihrer Kehle seien eine „wahrscheinlich allein auf wuterregende Vorhaltungen“ zurückzuführende, affektgesteuerte Reaktion des Täters gewesen. Diese These zeigt indes nur eine von vielen abstrakt-theoretisch denkbaren Abläufen des Tatgeschehens auf. Es fehlt insoweit jedoch an konkreten tatsächlichen Anknüpfungspunkten dafür, dass dieser von der Verteidigung des Beschwerdeführers spekulativ vermutete Ablauf dem tatsächlich stattgefundenen Geschehen entspricht. Aus dem Akteninhalt ergeben sich keine entsprechenden Anhaltspunkte, ebenso wenig aus der Beschwerdebegründung. Für die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes ist insoweit kein Raum. Denn es besteht kein Anlass, zugunsten eines Beschuldigten oder Angeklagten von der für ihn günstigsten Fallgestaltung auszugehen, wenn hierfür keine zureichenden Anhaltspunkte gegeben sind (st. Rspr., vgl. Meyer-Goßner, StPO, 65. Aufl. [2022],       § 261 Rn. 26 m.w.N.).

96   II.

97  Die nach § 117 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 304 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die vom LG in dem angefochtenen Beschluss getroffene Anordnung der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers bleibt ebenfalls ohne Erfolg. […]

 

 

 

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