Frank Wallenta: Deutsche Staatsanwaltschaften zwischen Verfassungsrecht und europäischem Leitbild – Eine Betrachtung des ministeriellen Einzelweisungsrechts im Lichte des unionsrechtlichen Anerkennungsprinzips

von Prof. Dr. Bernd Hecker 

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2021, Nomos, ISBN: 978-3-8487-8249-9, S. 70, Euro 19,00.

Der Verfasser, Bundesanwalt beim BGH, beleuchtet in seiner Schrift die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen, die an die Unabhängigkeit der ausstellenden und vollstreckenden Justizbehörde im Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls zu stellen sind. Eindrucksvoll zeigt er die nachteiligen Auswirkungen dieser Judikatur auf die Auslieferungspraxis in Deutschland auf. Nach fundierter Auseinandersetzung mit den gesetzgeberischen Lösungsmöglichkeiten plädiert er letztlich für das praxisgerechte Modell eines limitierten externen Einzelweisungsrechts, auf dessen Grundlage auch ein von ihm erarbeiteter Referentenentwurf des BMJV[1] beruht.    

Das in § 147 Nr. 1, 2 GVG verankerte (externe) ministerielle Einzelweisungsrecht ist vor dem Hintergrund der uneindeutigen Stellung der Staatsanwaltschaft im Staatsgefüge seit jeher umstritten.[2] Zwei neuere Urteile des EuGH zum Europäischen Haftbefehl haben diese Diskussion neu entfacht. Zwar entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Gerichthofs, dass mit der für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständigen „Justizbehörde“ – ein autonomer Begriff des Unionsrechts – nicht allein die Gerichte eines Mitgliedstaats gemeint sind, sondern darüber hinaus auch die Behörden, die an der Strafrechtspflege mitwirken.[3] Davon zu unterscheiden ist jedoch die andere Frage, ob die Ausstellungsbehörde den im jeweiligen unionsrechtlichen Regelungskontext gestellten Anforderungen genügt.[4] In seinem Urteil v. 27.5.2019[5] verneinte der Gerichtshof den Status der deutschen Staatsanwaltschaft als „unabhängige“ Justizbehörde, weil sie nicht ausnahmslos unabhängig von der Exekutive agieren kann. Mit dieser Entscheidung leitete der Gerichtshof das (vorläufige) Ende der bis dahin geübten  deutschen  Rechtspraxis  ein,  dass  Staatsanwälte  als „ausstellende Justizbehörde“ i.S.d. Art. 6 Abs. 1 RB-EuHb fungieren.

In Deutschland mussten daraufhin sämtliche aufgrund Europäischer Haftbefehle bestehenden offenen Fahndungsausschreibungen einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden. Eindrücklich beschreibt der Verfasser, wie in einem „organisatorisch-inhaltlichen Kraftakt“ die Verfahrenspraxis dahingehend geändert wurde, dass im Wege rahmenbeschlusskonformer Auslegung bei Ausschreibungen zum Zwecke der Strafverfolgung nach § 77 Abs. 1 IRG i.Vm. § 131 Abs. 1 StPO der zuständige Haftrichter und bei Ausschreibungen zum Zwecke der Strafvollstreckung nach § 77 Abs. 1 IRG i.V.m. § 457 Abs. 2 StPO das Gericht des ersten Rechtszuges zur Ausstellung Europäischer Haftbefehle berufen sind, wobei die Vorbereitung und Durchführung weiterhin den Staatsanwaltschaften obliegt (S. 28 ff.). Dass diese neue Verfahrensweise erhebliche Kapazitäten bei den Staatsanwaltschaften und vor allem bei den Gerichten bindet, liegt auf der Hand. 

Die Kapazitätsproblematik und die damit einhergehenden nachteiligen Auswirkungen auf die Verfahrensdauer haben sich noch weiter verschärft, nachdem der EuGH in einem weiteren Urteil v. 24.11.2020 dieselben Anforderungen, die an die Unabhängigkeit der Ausstellungsbehörde zu stellen sind, auch auf die „vollstreckende Justizbehörde“ i.S.d. Art. 6 Abs. 2 RB-EuHb übertragen hat.[6] War bislang allein die Generalstaatsanwaltschaft dazu berufen, über die Zulässigkeit einer Überstellung der verfolgten Person zu entscheiden, sind hierfür nunmehr im Wege rahmenbeschlusskonformer Auslegung nach §§ 78 Abs. 1, 29 Abs. 2 IRG die Oberlandesgerichte zuständig. Die mit dem vereinfachten Verfahren, bei dem die verfolgte Person ihrer Überstellung zustimmt, angestrebte Verfahrensbeschleunigung und Verringerung der Dauer der Auslieferungshaft wird dadurch in ihr Gegenteil verkehrt (S. 30). 

Der Verfasser gelangt ungeachtet der Funktion der Staatsanwaltschaften, im Strafverfahren unparteiisch und objektiv, mithin „gerichtsähnlich“ auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit hinzuwirken, zu dem Befund, dass sie Teil der Exekutive sind (S. 24 ff.). Das eng begrenzte und faktisch höchst selten eingesetzte ministerielle Einzelweisungsrecht der Exekutivspitze gegenüber der Staatsanwaltschaft sei zwar durch Art. 20 Abs. 2 GG (hier in der Ausprägung der Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber dem Parlament) verfassungsrechtlich legitimiert. Da es aber nicht gelungen sei, den EuGH davon zu überzeugen, die deutsche Staatsanwaltschaft als „vollwertigen europäischen Justizpartner“ zu akzeptieren, sucht der Verfasser nach einer sowohl den verfassungsrechtlichen als auch den unionsrechtlichen Anforderungen entsprechenden Lösung de lege ferenda, die eine effektive grenzüberschreitende Strafverfolgung in Europa gewährleistet (S. 36 ff.).   

Der Verfasser legt mit überzeugender Begründung dar, dass weder der „Gang in den Richtervorbehalt“ (S. 36-38) noch der Weg einer generellen Freistellung der Exekutive vom ministeriellen Einzelweisungsrecht (S. 38-47) beschritten werden sollte. Der erstgenannte Lösungsvorschlag, der darin besteht, dass das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Entscheidung über die Stellung eines Auslieferungsersuchens trifft („Antragslösung“) oder dass die Staatsanwaltschaft das zuvor vom Gericht überprüfte und bestätigte Ersuchen stellt („Validierungslösung“), würde nicht nur erhebliche personelle Ressourcen binden und zu einer längeren Verfahrensdauer führen.

Überdies käme die Statuierung einer Vielzahl von Richtervorbehalten im Bereich des Rechtshilfewesens der Einführung einer Art „Untersuchungsrichterprinzip“ nahe, das mit einer zentralen rechtskulturellen Prämisse des deutschen Rechtssystem bricht – der federführenden Rolle der Staatsanwaltschaft bis zur Anklagehebung (S. 38). Gegen den Lösungsvorschlag, das ministerielle Einzelweisungsrecht generell abzuschaffen, spreche das signifikante Spannungsverhältnis zu Art. 20 Abs. 2 GG. Angesichts der hohen Eingriffsintensität, die mit der Wahrnehmung der Aufgaben der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens verbunden sind, müsse ihre im Demokratieprinzip wurzelnden parlamentarische Verantwortlichkeit als Teil der Exekutive grundsätzlich gewahrt bleiben (S. 44, 47).

Schließlich findet der Verfasser in dem von ihm entwickelten Modell eines limitierten externen Einzelweisungsrechts einen verfassungskonformen und praxisgerechten Lösungsvorschlag, der die Handlungsfähigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften als eigenständige Akteure im Bereich der Ausstellung und Vollstreckung Europäischer Haftbefehle wieder herstellt, indem durch eine Änderung des § 147 GVG die Staatsanwaltschaften für den Sektor der strafrechtlichen Zusammenarbeit innerhalb der EU vom externen ministeriellen Einzelweisungsrecht freigestellt werden (S. 58 ff., 66 f.). Diesem überzeugenden Lösungsvorschlag, der bereits von einem Referentenentwurf des BMJV aufgegriffen wurde, ist zu wünschen, dass er vom Gesetzgeber zügig umgesetzt wird.

 

[1]      Online abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Unabhaengigkeit_Staatsanwaltschaften.html.
[2]      Vgl. hierzu nur Heghmanns, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Bd. 7 (2020), § 16 Rn. 44 ff. und Wallenta, S. 24 ff. m.w.N.
[3]      EuGH, BeckRS 2016, 82664 (Rn. 34); EuGH, NJW 2019, 2145, (2147, Rn. 50).
[4]      Vgl. hierzu nur Hecker, Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. (2021), Kap. 11 Rn. 5 m.w.N.
[5]      EuGH, NJW 2019, 2145 (2147 ff.).
[6]      EuGH, BeckRS 20220, 31838 (Rn. 54 ff., 70)

 

 

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