Amadeus Peters: Smarte Verdachtsgewinnung. Eine strafprozessuale und verfassungsrechtliche Untersuchung der Verdachtsgewinnung mittels Künstlicher Intelligenz

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2023, Nomos, ISBN: 978-3-7560-1113-1, S. 328, Euro 99,00.

In der vorliegenden Dissertationsschrift geht es um die rechtliche Einordnung sowie die rechtlichen Grenzen der smarten Verdachtsgewinnung. Konkret wird untersucht, wie die Gewinnung von Verdachtsmomenten hinsichtlich Straftaten und Ordnungswidrigkeiten durch die Analyse von Daten mit Hilfe Künstlicher Intelligenz rechtssystematisch zu fassen sowie ob und unter welchen Voraussetzungen dieses Vorgehen verfassungskonform möglich ist.

Probleme bei der Aufdeckung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten ließen sich – so der Verfasser – in vielen verschiedenen Lebensbereichen aufzeigen, wobei in der Dissertation explizit Wirtschafts- und Steuerstraftaten in den Blick genommen werden. So fehlte es häufig an Anzeigenerstattern, wie am Beispiel des Insiderhandels deutlich werde. Daneben sei auch die Begehung von Steuerstraftaten oder der Marktmanipulation häufig unauffällig. Daher gäbe es eine bedeutende Dunkelziffer nicht entdeckter Straftaten, die zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden führten. Die Herausforderung läge nicht in der Aufklärung, sondern vielmehr in der Entdeckung der Straftaten.

Der Verfasser definiert Künstliche Intelligenz als System, das teilweise oder vollständig Fragestellungen selbstständig lösen kann (S. 29). Er stellt fest, dass über die Verwendung Künstlicher Intelligenz (KI) zur gezielten Aufdeckung von Straftaten durch staatliche Stellen in Deutschland keine konkreten Informationen vorlägen. Dagegen seien solche Praktiken aus anderen Staaten bekannt, so dass er die USA, Japan (sehr knapp), das Vereinigte Königreich, Österreich und die Niederlande in den Blick nimmt. Für Deutschland, so konstatiert der Verfasser, sei nur der Einsatz von KI im Rahmen des sog. predictive policing bekannt, also präventive Maßnahmen, während die Untersuchung der Dissertation auf repressive Ermittlungstätigkeiten beschränkt bleiben soll.

Datifizierungstendenzen in Deutschland konnte der Verfasser insbesondere im Steuer- und Börsenwesen feststellen. Insofern geht er davon aus, dass Steuerbehörden und die BaFin, wenn sie es nicht bereits tun sollten, in naher Zukunft Methoden der KI verwenden werden und dies auch für die Zwecke der Strafverfolgung. Ziel der Untersuchung ist daher, und hier wird die Überlegung zu Beginn der Dissertation wieder aufgegriffen, die rechtlichen Konsequenzen sowie die rechtliche Zulässigkeit des Einsatzes von KI zur Ermittlung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu erforschen.

Dazu beleuchtet der Verfasser in Kapitel 2 zunächst die Funktionsweise und Folgen von KI und veranschaulicht die technischen Erwägungen durch zahlreiche Abbildungen. Als Problem werden Verzerrungen und Fehler identifiziert, die es zu reduzieren bzw. zu beseitigen gelte. Durch die Verzerrungen könne das Ergebnis der smarten Verdachtsgewinnung im Vergleich zur objektiv bestehenden Situation anders ausfallen. Daher komme es neben gleichheitsrechtlichen Fragen im Rahmen des Art. 3 GG darauf an, wie die unterschiedliche Behandlung angesichts der Verzerrungen, die die Entscheidungsgrundlage für die Differenzierungen insofern verfälschen, gerechtfertigt werden könnten.

Dazu wird zunächst eine rechtssystematische Einordnung vorgenommen. Im Ergebnis sei der strafprozessuale Verdacht eine aus der Verdachtsgrundlage abgeleitete Wahrscheinlichkeit, dass eine verfolgbare Straftat vorliege. Es lasse sich aber aus der Verdachtsgrundlage nicht sicher schließen, ob eine verfolgbare Straftat tatsächlich vorliegt – letztlich werde nur eine Verdachtshypothese generiert. Rechtsstaatlich sei es geboten, die Wahrscheinlichkeit als statistische Wahrscheinlichkeit aufzufassen. Zentrales Element der Verdachtsgrundlage könne auch das Ergebnis einer smarten Verdachtsgewinnung sein. Bei der smarten Verdachtsgewinnung sei bekannt, auf welche verfolgbaren Straftaten der Algorithmus trainiert worden ist und mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit eine positive Ausgabe richtig positiv ist. Dieses Erfahrungswissen könne die Ermittlungsperson in ihre Überzeugungsbildung einfließen lassen. Insbesondere bleibe ihr die Gewichtung einer positiven Klassifizierung überlassen.

Bei der smarten Verdachtsgewinnung würden Sachverhalte überprüft, bevor ein Verdacht besteht, so dass sie einer gefahrenabwehrrechtlichen Kontrolle ähnele. Gleichzeitig diene die smarte Verdachtsgewinnung jedoch der Verfolgung von in der Vergangenheit liegenden Straftaten. Daher untersucht der Verfasser im nächsten Schritt diese „ambivalent erscheinende Natur“ smarter Verdachtsgewinnung (S. 126). Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Strafverfolgung weder aus historischen Gründen noch aus systematischen Gründen einen Anfangsverdacht voraussetze. Dies sei unabhängig von der Frage, ob einzelne oder alle Ermittlungsmaßnahmen der Strafverfolgung einen Anfangsverdacht erfordern. Hier stellt sich natürlich die Frage, warum man überhaupt ohne Anfangsverdacht ermitteln sollte.

Letztlich wird die smarte Verdachtsgewinnung als eine Maßnahme der Strafverfolgung angesehen. Der durch die Strafverfolgungsbehörden geschöpfte Verdacht verdichte sich bei einer erfolgreichen Strafverfolgung zunehmend bis hin zur Erhebung der Anklage. Die smarte Verdachtsgewinnung setze dort an, wo es noch keinen Verdacht gäbe, also zeitlich am Anfang der Strafverfolgung. Auch wenn die Literatur Vorfeldermittlungen mangels Rechtsgrundlage für unzulässig halte, gäbe es doch bei der Verfolgung bestimmter Straftaten durchaus Rechtsgrundlagen, die Vorfeldermittlungen erlauben. Diese identifiziert der Verfasser in der Abgabenordnung, im Wertpapierhandelsgesetz sowie im Geldwäschegesetz.

Produziere nun die smarte Verdachtsgewinnung eine positive Ausgabe, so entstehe ein Anfangsverdacht. Fraglich sei, wie rechtlich mit den bereits genannten Verzerrungen umgegangen werden müsse. Der Verfasser zeichnet im Folgenden den US-amerikanischen Diskurs zum verfassungsrechtlichen Umgang mit Algorithmen und Diskriminierungsfragen in der Strafjustiz nach und stellt ernüchternd fest, dass sich nur wenige Argumente für die deutsche Untersuchung fruchtbar machen ließen.

Die Auswahl von Merkmalen, die als Eingabe der smarten Verdachtsgewinnung dienen könnten, sowie die Verzerrungen in den Ergebnissen, die bei der Nutzung selbstlernender Algorithmen entstehen könnten, seien sowohl aus gleichheitsrechtlicher Perspektive an Art. 3 GG als auch aus freiheitsrechtlicher Perspektive am allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu prüfen. Darüber hinaus werde das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seinen Ausprägungen als Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Recht auf Selbstdarstellung und dem Nemo-tenetur-Grundsatz virulent. Schaue man auf den Gleichheitsgrundsatz, so sei eine möglichst realitätsgerechte Datenerhebung und Verarbeitung notwendig. Hier bewertet der Verfasser die Verzerrungen unterschiedlich, je nachdem an welchen Merkmalen sie anknüpfen. Hier müssten Maßnahmen ergriffen werden,  um  Diskriminierungsprobleme   zu  verhindern oder abzuschwächen. Das Persönlichkeitsrecht sei dagegen dann betroffen, wenn die Gefahr von auf Stereotypen aufbauenden Stigmatisierungen bestehe.

Eingriffsschärfende Faktoren smarter Verdachtsgewinnung im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung seien dessen Verdachtslosigkeit, die Streubreite der Maßnahme, die potenzielle Einleitung eines Strafverfahrens, die Persönlichkeitsrelevanz der verarbeiteten Informationen sowie die Undurchsichtigkeit der Datenverarbeitung. Dennoch sei es nicht von vornherein ausgeschlossen, den Eingriff durch smarte Verdachtsgewinnung verfassungskonform zu begrenzen und in ein angemessenes Verhältnis zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu bringen. Der Verfasser positioniert sich hier eindeutig pro KI. Durch die Beobachtung der Algorithmen könnten hinreichende Informationen gesammelt werden, um den Einsatz smarter Verdachtsgewinnung sowie die aus ihr zu ziehenden Schlüsse zu begründen. Allerdings räumt Petersein, dass viele offene Fragen in Bezug auf die rechtliche Bewertung selbstlernender Algorithmen und deren Einsatz zur Strafverfolgung verbleiben. Hier hätte man sich ggf. schon die ein oder andere Antwort im Rahmen der Dissertation gewünscht. Letztlich wird die smarte Verdachtsgewinnung – bezogen auf den Einzelfall – als verfassungsrechtlich gerechtfertigt und rechtspolitisch wünschenswert angesehen (S. 302). Eine Blaupause gibt es also nicht. Insofern dürfte die Dissertation nur ein Baustein unter vielen sein, die notwendig sein werden, um hier klare rechtliche Maßstäbe zu entwickeln. Einmal mehr ist zu fordern, dass es an der Schnittstelle von KI und Recht der interdisziplinären Forschung bedarf, um klare technische Strukturen zu schaffen, die eine verfassungsgemäße Anwendung von KI – sei es bei der smarten Verdachtsgewinnung oder sonst im Rahmen von Strafverfolgung und Justiz – ermöglichen.

 

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