Matthias Schaum: Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2023, Verlag Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-18805-05, S. 297, Euro 89,90.

Anlässlich der Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 13.12.2019 die notwendige Verteidigung grundlegend reformiert (BGBl. I, S. 2128). Die Dissertation von Schaum geht der Frage nach, ob diese Reform den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechte-charta, der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und dem Grundgesetz bezüglich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand entspricht. Um dies zu untersuchen, wird rechtsvergleichend auch auf die einschlägigen Bestimmungen des österreichischen Strafprozessrechts Bezug genommen.

Zunächst wird das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention in den Blick genommen, also insbesondere Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Problematisch sei, dass nicht abschließend geklärt sei, welche Kriterien zur Festlegung der Mittellosigkeit heranzuziehen sind. Auch lasse sich der Rechtsprechung des EMGR keine allgemeine Wertgrenze entnehmen, ab der von einer Mittellosigkeit des Beschuldigten auszugehen ist. Entscheidend sei, ob die Kosten eines Verteidigers vom Beschuldigten getragen werden können, ohne dass auf Mittel für den notwendigen Unterhalt für sich selbst oder seiner Familie zurückgegriffen werden muss. Ist der Beschuldigte nicht völlig mittellos, so kann eine Selbstbeteiligung in Betracht kommen.

Geklärt ist dagegen die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Interesses der Rechtpflege im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Hier spielen laut EMGR die Schwere des Tatvorwurfs, die drohende Strafe, die Komplexität des Falls sowie die persönliche Situation des Beschuldigten eine Rolle. Dabei genügt bereits das Vorliegen eines der Kriterien, um das Interesse der Rechtspflege an unentgeltlichem Verteidigerbeistand zu bejahen. Auch soweit eine Haftstrafe droht, ist ein Verteidigerbeistand grundsätzlich erforderlich.

Schließlich garantiert Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dem mittellosen Beschuldigten nur die Unentgeltlichkeit des Verteidigerbeistands, aber nicht des gesamten Strafverfahrens. Auch falls sich die Vermögensverhältnisse des Beschuldigten nach Abschluss des Strafverfahrens bessern, kann er zur Tragung der Verteidigerkosten verpflichtet werden.

Die konkrete Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand überlässt die EMRK den nationalen Rechtsordnungen, wobei die Ausgestaltung effektiv und  wirksam  sein  muss.  Das  Recht  auf unentgeltliche

Verteidigung beginnt bereits im Ermittlungsverfahren ab Beginn der ersten polizeilichen Vernehmung. Nur bei zwingenden Gründen kann das im Ermittlungsverfahren bestehende Recht vorübergehend eingeschränkt werden, wobei darauf zu achten ist, dass die Grundsätze des fairen Verfahrens nicht beeinträchtigt werden. Die Bestellung eines Verteidigers gilt grundsätzlich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens.

Die Strafverfolgungsbehörden müssen den Beschuldigten unverzüglich über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand belehren und ihn bei der Kontaktaufnahme unterstützen. Grundsätzlich hat der Beschuldigte die Möglichkeit, sich von einem Verteidiger seiner Wahl vertreten zu lassen. Allerdings können sich die nationalen Behörden oder Gerichte über diesen Wunsch des Beschuldigten aus Gründen der Sachdienlichkeit oder des Interesses der Rechtspflege hinwegsetzen.

Konkrete Vorgaben zur Vergütung der vom Verteidiger erbrachten Leistungen als unentgeltlicher Verteidigerbeistand gibt es nicht und es ist durchaus mit der EMRK vereinbar, wenn dieser Verteidiger im Vergleich zum Wahlverteidiger eine geringere Vergütung oder sogar gar keine Entlohnung erhält. Nicht thematisiert wurde bislang vom EMGR, wie sich dies ggf. auf die Qualität der Beistandsleitung auswirkt.

Nach diesen aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK abzuleitenden Grundätzen zum Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird im zweiten Kapitel herausgearbeitet, welche Anforderungen das Recht der Europäischen Union diesbezüglich bereitstellt. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, dass das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gem. Art. 48 Abs. 2 GRC sowohl von seinen tatbestandlichen Voraussetzungen als auch von seinem Gewährleistungsumfang dem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK entspricht.

Dagegen habe das Recht auf Prozesskostenhilfe gem. Art. 47 Abs. 3 GRC kein unmittelbares Äquivalent in der EMRK. Tatbestandlich setzt das Recht auf Prozesskostenhilfe voraus, dass der Beschuldigte wiederum mittellos und die Gewährung von Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den Zugang zum Gericht wirksam zu gewährleisten. Allerdings gäbe es auch hier keine gefestigte Rechtsprechung des EuGH, welche Kriterien zur Beurteilung der Mittellosigkeit des Beschuldigten heranzuziehen sind. Der EuGH berücksichtigt sämtliche Umstände des Einzelfalls, insbesondere den Umfang der Auswirkungen auf den Beschuldigten, die Komplexität des anzuwendenden Rechts und Verfahrens sowie die Fähigkeit des Betroffenen, seine Sache wirksam zu vertreten. Dagegen normiert die Prozesskostenhilfe-Richtlinie sehr wohl Kriterien zur Ermittlung der Mittellosigkeit, allerdings nicht abschließend und inhaltlich wird lediglich die bisherige Rechtsprechung des EMGR festgeschrieben. 

Der Begriff der Prozesskostenhilfe ist in der Richtlinie weit zu verstehen und umfasst nicht nur die Übernahme der Verteidigerkosten, sondern auch das Stellen eines Verteidigers sowie die Befreiung von sonstigen Gerichtskosten. Um dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand vollumfänglich zu gewährleisten, sind die Garantien aus Art. 48 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 3 GRC parallel anwendbar. Die Prozesskostenhilfe konkretisiert laut Verfasser das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand und kodifiziert in großen Teilen die Rechtsprechung des EGMR.

Allerdings bleibe der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie teilweise hinter den Vorgaben der EMRK zurück. Dies gelte beispielsweise für die Einschränkung des Anwendungsbereichs bei geringfügigen Zuwiderhandlungen auf das gerichtliche Verfahren. Auch sei der situative Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht deckungsgleich mit dem der Rechtsbeistands-Richtline, so dass mittellose Beschuldigte in geringerem Umfang ein Recht auf Prozesskostenhilfe haben als Beschuldigte, die über Mittel verfügen. Neben diesen Feststellungen nimmt der Verfasser umfangreiche Detailvergleiche zwischen EMRK, GRC und Prozesskostenhilfe-Richtlinie vor, die teilweise Übereinstimmungen, teilweise aber auch Abweichungen zeigen (zusammengefasst in der Dissertationsschrift auf S. 114 ff.).

Nach diesem Überblick über das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach EMRK, GRC und Prozesskostenhilfe-Richtlinie wird im nächsten Kapitel auf die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Grundlagen nach deutschem Recht eingegangen. Auf knapp 100 Seiten wird herausgearbeitet, dass die verfassungsrechtliche Garantie auf ein faires Verfahren nach Art. 20 Abs. 3 GG i.V. mit Art. 2 Abs. 1 GG keine konkreten Angaben zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigungsbeistand macht. Einfachgesetzlich wird der unentgeltliche Verteidigerbeistand primär durch das Institut der notwendigen Verteidigung gewährleistet. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, dass dieses Institut durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung zwar teilweise grundlegend umgestaltet wurde, aber noch nicht durchgehend den Vorgaben der EMRK, GRC und Prozesskostenhilfe-Richtlinie sowie dem Grundgesetz entspricht.

So widerspreche das in § 141 Abs. 1 StPO neu geschaffene Antragsmodell nicht nur dem Modell der notwendigen Verteidigung, sondern stehe in seiner konkreten Ausgestaltung auch im Widerspruch zur Prozesskostenhilfe-Richtlinie, nach der die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand gerade nicht von einem Antrag abhängig gemacht werden solle. Auch knüpfe § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO nicht an die Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie an. Richtlinienwidrig seien zudem die in der Richtlinie genannten Ausnahmeregelungen in § 141 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO nicht vorgesehen.

Daneben hält der Verfasser auch § 141a StPO für richtlinienwidrig, weil die dort normierten Vernehmungs- und Gegenüberstellungsmöglichkeiten vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers durchgeführt werden könnten, was nicht auf Art. 3 Abs. 6 lit. a, b der Rechtsbeistands-Richtlinie gestützt werden könnte und das Recht auf Verteidigerbeistand einseitig zulasten des mittellosen Beschuldigten einschränke. Daneben seien auch die Bestimmungen zur Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers nicht mit der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar.

Dagegen verstoße die im Vergleich zum Wahlverteidiger vorgesehene geringere Vergütung des Pflichtverteidigers sowie die generell nicht kostendeckende Vergütung nicht gegen EMRK, GRC und Prozesskostenhilfe-Richtlinie, da diesbezüglich keine Bestimmungen enthalten sind. Allerdings verstoße die unterschiedliche Vergütung gegen das Grundgesetz. Das Institut der Beratungshilfe, sei nicht in der Lage, die Lücken im Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu schließen, die das Institut der notwendigen Verteidigung enthalte.

Nach diesen ernüchternden Erkenntnissen nimmt der Verfasser das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand kurz in den Blick. In Österreich wird das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand primär durch das Institut der Verfahrenshilfe gewährleistet. Daneben kann der Beschuldigte in Fällen des § 59 Abs. 5 öStPO kostenlos einen Verteidiger in Bereitschaft beiziehen (S. 206 ff.).

Die Ergebnisse seiner Untersuchung überführt Schaum in verschiedene Lösungsansätze für eine Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Er lehnt eine punktuelle Reform der Vorschriften der notwendigen Verteidigung ab, da diverse Problemkreise dadurch ungelöst blieben (S. 248). Auch die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung sowie die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse seien keine geeigneten Mittel, um dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten.

Daneben sei auch der Vorschlag, die zivilprozessuale Prozesskostenhilfe in die strafprozessuale Ausgestaltung zu übernehmen nur bedingt geeignet, die Probleme zu lösen (S. 253). Diskutiert und kritisiert werden daneben Vorschläge wie die Einführung einer begrenzten, subsidiären Staatshaftung für Wahlverteidigerhonorare, die Einführung eines Instituts der Verfahrenshilfe sowie die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe in Kombination mit einem Prozesskostenhilfesystem nach dem Vorbild der Zivilprozessordnung.

In einem eigenen Reformvorschlag möchte der Verfasser nun das Institut der notwendigen Verteidigung von seiner Funktion, unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten, befreien und die Gewährleistung desselben separat regeln (S. 264). Anleihen nimmt er am Vorbild des österreichischen Rechts, schränkt aber ein, dass diese Vorschriften nicht eins zu eins in das deutsche Recht übernommen werden können. Allerdings biete sich die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe nach österreichischem Vorbild an.

Voraussetzung für die Gewährung von Verfahrenshilfe sollte sein, dass der Beschuldigte außerstande ist, die gesamten Verteidigungskosten ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie zur einfachen Lebensführung notwendigen Unterhalts zu tragen. Dies knüpft nach Auffassung der Rezensentin aber genau an das an, was schon nach geltendem Recht im Rahmen der Mittellosigkeit zu berücksichtigen ist. Allerdings nimmt der Verfasser Anleihen bei zivilprozessualen Vorschriften (insb. § 115 ZPO), die zur Ermittlung des Einkommens und Vermögens des Beschuldigten heranzuziehen seien.

Daneben müsse, so der Verfasser, die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege, insbesondere im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich sein. Auch hier liest man eigentlich nichts neues. Letztlich, so Schaum, sei die Bewertung immer eine Frage des Einzelfalls. Allerdings sei das Tatbestandsmerkmal des Interesses der Rechtspflege weit auszulegen und eine § 61 Abs. 2 S. 2 öStPO vergleichbare Norm einzuführen, dass in bestimmten Konstellationen die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand jedenfalls im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.

Auch § 364b StPO sei zu reformieren, da die Verteidigerbestellung für die Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens an die Mittellosigkeit des Beschuldigten anknüpfe, unentgeltliche Verteidigung aber de lege ferenda nur noch über das Institut der Verfahrenshilfe gewährleistet wird. Neben den in § 140 StPO genannten Fallgruppen könnten laut Verfasser weitere Fallgruppen normiert werden, in denen die Mitwirkung eines Verteidigers zwar nicht notwendig, aber im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung erforderlich sei.

Die Gewährleistung von Verfahrenshilfe müsse grundsätzlich vom Beschuldigten beantragt werden, wobei für Fälle notwendiger Verteidigung eine Ausnahme zu formulieren und hier Verfahrenshilfe von Amts wegen zu gewähren sei. Es folgen weitere Ausführungen zur Ausgestaltung der Verfahrenshilfeverteidigung (S. 268), die im Einzelnen nachzulesen sich lohnen.

Schade ist, dass Schaum nicht die Gelegenheit genutzt hat, konkrete de lege ferenda Vorschläge auszuarbeiten. Allerdings können seine Ergebnisse eine wertvolle Grundlage für die weitere Diskussion um die Ausgestaltung des Rechts des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand geben. Insofern wird die seit Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung seitens der Rechtswissenschaft und -praxis geübte Kritik wohl auf längere Sicht nicht abebben. Ob sie allerdings zu einer weiteren Reform des Rechts auf notwendige Verteidigung führen wird, ist nicht absehbar.

 

 

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