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Grenzen des polizeilichen Schusswaffeneinsatzes gegen flüchtende Strafverdächtige – Überlegungen de lege ferenda hinsichtlich präventiver Maßnahmen aus Anlass repressiv-polizeilicher Aufgabenerfüllung

von Prof. Dr. Fredrik Roggan und PK Michael Brösangk

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Abstract
Die Grundproblematik, wie weit Strafverfolgung gehen darf, erfährt eine Zuspitzung durch die Frage, ob Maßnahmen mit repressiver Zielrichtung auch mit einer zumindest konkreten Gefährdung des Lebens eines Straftatverdächtigen verbunden sein dürfen. Eben das ist der Fall, wenn und solange die geltende Rechtslage den Schusswaffengebrauch gegen flüchtende Verdächtige grundsätzlich zulässt. Die Autoren des nachfolgenden Beitrags verneinen diese Frage aus Verhältnismäßigkeitsgründen und machen einen konkreten Vorschlag zur Neuregelung.

I. Einleitung

Die Strafprozessordnung enthält keinerlei Regelungen, wie strafprozessuale Maßnahmen ggf. mit unmittelbarem Zwang, also die Einwirkung auf Personen (oder Sachen) durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel körperlicher Gewalt oder Waffengebrauch,[1] durchgesetzt werden können bzw. dürfen. Dies gilt insbesondere auch für die Standardmaßnahmen der Festnahme von Straftatverdächtigen nach § 127 Abs. 2 StPO, der allerdings nur die Festnahmegründe, nicht aber die Art und den Umfang der Ergreifungshandlung zum Regelungsgegenstand hat.[2] Insoweit ist von einer Lücke des strafprozessualen Regelungsregimes zu sprechen, die nach zutreffender h.M. durch die Anwendbarkeit von Regelungen des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) geschlossen werden kann. Im Falle der Festnahme von Straftatverdächtigen durch Landesbeamte des Polizeidienstes hat de lege lata das jeweils einschlägige Polizeigesetz oder (Landesgesetz-) über den unmittelbaren Zwang Beachtung (und Befolgung) zu finden.[3] Deshalb  haben  die  entsprechenden Befugnisse eine auch praktisch nicht zu vernachlässigende Bedeutung.[4]

Mit der Anwendbarkeit von Regelungen über den unmittelbaren Zwang anlässlich einer Festnahme ist freilich noch keine Aussage darüber getroffen, welche Maßnahmen des Zwangs im Einzelnen zulässig sind und insbesondere, ob bei solchen Gelegenheiten auch Schusswaffen gebraucht[5] werden dürfen. Damit ist die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von solchen Regelungen gestellt, die den bloßen Anlass der Festnahme für einen solchen „repressiven Schusswaffengebrauch“ ausreichen lassen. Bei den folgenden Überlegungen ist zunächst der verfassungsrechtliche Rahmen abzustecken (II) und sodann die geltenden Regelungen hieran zu messen (III). Weil sich hierbei teilweise durchgreifende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einzelner Regelungen des hier im Focus stehenden UZwG zeigen, ist abschließend ein Vorschlag zur Neuregelung zu unterbreiten (IV).

II. Verfassungsrechtlicher Rahmen

1. Betroffene Grundrechte

Keiner näheren Begründung bedarf die Betroffenheit des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG), in das durch einen polizeilichen Schusswaffeneinsatz gegen einen Flüchtenden eingegriffen wird, denn durch einen Treffer wird die Beschaffenheit der Körpersubstanz[6] selbsterklärend verändert. Weniger offensichtlich ist die Betroffenheit des Grundrechts auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG in solchen Fällen, in denen die Schussabgabe tatsächlich den Hirntod[7] des Getroffenen nicht bewirkt, das Leben mithin nicht beendet wird. Allerdings herrscht insoweit weitgehender Konsens, dass ein effektiver Lebensschutz lediglich dann möglich ist, wenn auch die Verursachung eines relevanten Risikos für dieses Grundrecht als Eingriff aufzufassen ist:[8] Auch eine ungewollte Tötung eines Straftatverdächtigen – und nur um eine solche kann es sich bei einer hier interessierenden Maßnahme handeln – ist nur dann zu vermeiden, wenn auch solche Verhaltensweisen verboten wären, bei denen nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden kann, dass ein solcher Verletzungserfolg eintreten kann. Umgekehrt bedeutet eine Befugnis zum Schusswaffeneinsatz gegen eine Person dann aber, dass auf ihrer Basis Eingriffe in das Grundrecht auf Leben möglich sind. Dass das UZwG selber solche Maßnahmen als Eingriffe im Blick hat, wird durch das Zitieren des Rechts auf Leben in § 3 UZwG bestätigt.[9]

Damit ist die Frage aufgeworfen, ob sich ein Schusswaffengebrauch gegen eine – hier ausschließlich interessierend: sich der Ergreifung durch Flucht entziehende – Person überhaupt jemals als zu vernachlässigende Gefährdung des Lebens einordnen lässt und sich mithin die Frage einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung (dazu unter 3.) nicht stellt. Nachfolgend soll daher ein Blick auf die ballistischen Wirkungen von Schusswaffeneinsätzen[10] geworfen werden.

2. Exkurs: Wundballistische Betrachtungen

a) Allgemeines zur Wirkung von Körpertreffern

Im Falle eines intendierten Körpertreffers (zur Frage eines Nichttreffers im Folgenden) richtet sich die Wirksamkeit des abgegebenen Geschosses nach mehreren Kriterien. Ausschlaggebend sind dabei die Masse des Projektils, dessen Geschwindigkeit, die Energie und die Verformbarkeit des Geschosses. Diese Kriterien sind individuell für jede polizeilicherseits verwandte Geschossart und lassen sich physikalisch messen, weshalb sie geeignet sind, die Wirksamkeit eines Geschosses objektiv zu beurteilen.[11]

Die potentielle Wirksamkeit allein ist freilich kein Indikator für die tatsächliche Wirkung des Geschosses, also die Auswirkung des Projektils auf den menschlichen Körper, denn ein fehlgegangenes Geschoss großer Wirksamkeit entfaltet selbstredend keine Wirkung. Ebenso kann ein vergleichsweise minder wirksames Geschoss durchaus tödliche Verletzungen hervorrufen, also sehr wirksam sein. Wirksamkeit und Wirkung sind keine getrennt zu betrachtenden Parameter, sondern stehen in direktem Verhältnis zueinander. Beispielsweise wird ein Treffer eines wirksamen Geschosses in zentrale Bereiche des Körpers mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine große Wirkung entfalten.[12]

Da die Wirksamkeit namentlich auch von der Verformbarkeit des Geschosses abhängig ist, lohnt sich die Betrachtung der verwendeten Munition: Im Jahr 1999 empfahl die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder in einem Beschluss die Einführung einer Munitionsart für den allgemeinen Polizeidienst, welche die Eigenschaften von Deformationsgeschossen besitzt. Nach einer Erprobungsphase entschied man sich im Jahre 2002 für die flächendeckende Einführung von Deformationsgeschossen bei den Polizeibehörden des Bundes.[13] Die Munitionierung anderer Waffenarten (Revolver, Maschinenpistole oder Maschinengewehr) soll hier außer Betracht bleiben, da die Pistole als Standardbewaffnung zu betrachten ist und daher damit zu rechnen ist, dass der Einsatz dieser Waffenart am wahrscheinlichsten ist. Deformationsgeschosse – umgangssprachlich auch „Mann-Stopp-Munition“ genannt – zeichnen sich dadurch aus, dass sie beim Auftreffen auf ein Hindernis ihren Querschnitt stark vergrößern (sog. „Aufpilzen“) und dadurch nach kurzer Penetrationsstrecke den größten Teil ihrer Energie abgeben.[14] Diese Munitionsart besitzt eine Eindringtiefe von bis zu 30 Zentimetern, ihr Schusskanal verläuft in der Regel geradlinig, da das Projektil durch die Schulterkräfte (verursacht durch die Querschnittvergrößerung) im Körper stabilisiert wird. Dadurch wird erreicht, dass die Hintergrundgefährdung minimiert wird.[15] Dies gilt freilich nur für Geschosse, die ihr bestimmungsgemäßes Ziel auch getroffen haben. Projektile dieser Munition, die fehlgehen, unterscheiden sich nicht messbar im Querschlagverhalten von Vollmantelgeschossen.[16]

b) Differenzierung nach getroffenen Körperpartien

Neben der objektiven Wirksamkeit eines Geschosses bestimmen sich die tatsächlichen Folgen vor allem nach seinen konkreten Wirkungen in der getroffenen Körperpartie. Nachdem ein Deformationsgeschoss den menschlichen Körper penetriert hat, bildet sich aufgrund der bauartbedingten Deformation des Geschosses die sog. temporäre Wundhöhle. Diese wird durch die im Körper abgegebene radial wirkende Energie hervorgerufen. Die temporäre Wundhöhle besteht nur für Sekundenbruchteile und fällt nach dem Durchgang des Geschosses aufgrund der Gewebeelastizität bis auf einen Zerstörungskanal wieder zusammen.[17] Je nach Elastizität des Gewebes ruft die temporäre Wundhöhle mehr oder weniger große Verletzungen hervor. Gewebe mit hoher Elastizität, also beispielsweise Muskulatur, Haut oder Bindegewebe vermögen die wirkenden Dehnungs- und Scherkräfte besser zu absorbieren als unelastische Gewebe wie Gehirn, Leber oder Milz.[18] Eine zweite Wirkung des penetrierenden Geschosses ist die Zermalmung. Dabei wird Gewebe durch direkten Kontakt mit der Geschossoberfläche zerdrückt, zerrissen, unelastisch deformiert und damit zerstört. Dabei bildet sich der sog. Schusskanal. Zusammen mit den Verletzungen der temporären Wundhöhle, die je nach Elastizität des betroffenen Gewebes entstehen, bildet sich entlang des Schusskanals zusammen mit diesem die permanente Wundhöhle.[19] Der Ort des Treffers im Körper ist dabei ausschlaggebend für die Wirkung.

Kopftreffer enden nahezu immer tödlich und dies selbst dann, wenn von der temporären Wundhöhle und vom Schusskanal nur solche Partien betroffen sind, die keine vitale Gefährdung auslösen würden. Da Hirngewebe sehr unelastisch ist, vermag es die Dehn- und Scherkräfte der temporären Wundhöhle kaum zu absorbieren, ohne dass tödliche Verletzungen entstehen. Zudem ist das Hirn durch die starren Schädelknochen umhüllt, weshalb eine Gewebeausdehnung kaum möglich ist und durch die auftretenden Drücke auch nicht direkt getroffene, aber vitale Bereiche des Hirns geschädigt werden. Zudem kann durch die druckbedingte hydraulische Sprengwirkung das Bersten des Schädels ausgelöst werden.[20]

Im Thorax befindet sich dagegen überwiegend Gewebe, das durch eine hohe Elastizität gekennzeichnet ist. Dadurch können die wirkenden Kräfte besser kompensiert werden. Aufgrund der besonders gut durchbluteten Organe im Brustbereich kommt es aber häufig zu starken Blutungen nach innen (sog. Hämatothorax). Dabei können größere Blutungen in die Brusthöhle aufgenommen werden, wodurch ein Verbluten ohne weiteres möglich ist. Auch eindringende Luft in den Brustraum (sog. Pneumothorax) kann tödlich wirken, da der oder die Lungenflügel kollabieren und dadurch die Lungenfunktion stark beeinträchtigt ist.[21]

Der Bauchbereich ist im Gegensatz zum Thorax eher durch unelastische Organe wie Leber oder Milz gekennzeichnet. Dadurch können durch die Wirkung der temporären Wundhöhle stark blutende Einreißungen entstehen. Die auftretenden Blutungen können ähnlich wie im Thorax problemlos von der Bauchhöhle aufgenommen werden, sodass nicht zwingend Blutungen nach außen treten.[22] Der hohe Blutverlust führt dann in der Folge nicht selten zum Tod durch Sauerstoffmangel im Gehirn. Die Wirkung von möglichen Kontaminationen der Bauchhöhle mit Fäkalkeimen sei hier nicht weiter erörtert. Dennoch können solche Komplikationen lebensbedrohliche Zustände hervorrufen.

Die Geschosswirkung in Extremitäten (Arme, Beine) wird maßgeblich durch das Muskel- und Bindegewebe beeinflusst, das im Vergleich sehr elastisch ist. Dadurch kann das Gewebe die Kräftewirkungen der temporären Wundhöhle vergleichsweise gut kompensieren. Jedoch kann auch ein vermeintlich harmloser Kniedurchschuss zum lebensbedrohlichen Blutverlust und damit letztlich zum Tod führen.[23]

c) Weitere Faktoren der Risikoerhöhung

Evident ist nicht jeder von der Polizei abgegebene Schuss auf flüchtende Straftatverdächtige tödlich. Indessen sind diese nichtletalen Schüsse für die Schützen praktisch nicht kalkulierbar.[24] Der Veranschaulichung mag der Umstand dienen, dass bereits ein Visier-Korn-Fehler von 0,4 Millimetern bei einer Visierlänge von 160 Millimetern (beispielsweise der Pistole SigSauer P228) und einer Schussdistanz von 10 Metern zu einer Abweichung von 2,5 Zentimetern zum Zielpunkt führt.[25] Die Verlagerung eines Treffers um nur wenige Zentimeter kann statt des Muskelgewebes im Bein die Beinschlagader verletzen, was zeitnah zum verblutungsbedingten Tod führen kann.

Die Fehlerquellen, welche zu Zielabweichungen führen, liegen dabei einerseits beim Schützen selbst, bspw. wenn dieser aufgrund vorheriger körperlicher Belastung oder des situationsbedingten Stresses die Waffe verkantet oder es zum Visier-Korn-Fehler kommt, aber auch in äußeren Störgrößen wie eingeschränkten Sichtverhältnissen bei Dunkelheit oder dem sich bewegenden Täter.[26]

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit jeder Schussabgabe auf einen flüchtenden Straftatverdächtigen – und dies auch im Falle von Schüssen auf ein fahrendes Auto[27] – eine konkrete Gefährdung des Lebensgrundrechts einhergeht und damit – im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG – die wesentlichen Risikoquellen einer Erforschung mit naturwissenschaftlichen Methoden zugänglich sind.[28] Solche Maßnahmen sind daher ausnahmslos als Eingriffe in das Grundrecht auf Leben zu behandeln.

3. Zur Verhältnismäßigkeit

a) Zur Eignung des Schusswaffengebrauchs

Wiederum keiner näheren Betrachtung bedarf, dass im Rahmen einer Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG („Höchstwert“, „vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“[29]) der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine besondere Bedeutung besitzt. Bezugspunkt von Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit ist gegenständlich der unbestritten legitime Zweck der Ergreifung von Straftatverdächtigen, die sich ihrer Verfolgung durch Flucht[30] zu entziehen versuchen.

Ein grundsätzliches Problem zeigt sich indessen bereits auf der Ebene der Eignung, die bereits gegeben ist, wenn die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass der angestrebte Erfolg eintritt, dieser also gefördert werden kann.[31] Gerade auf dieser Ebene ist die Rechtsprechung des BVerfG äußerst zurückhaltend, was mit Blick auf die Einschätzungsprärogative des demokratisch legitimierten Gesetzgebers auch nicht in Frage gestellt werden soll(te).[32] Daraus ergibt sich unmittelbar aber auch, dass der Gesetzgeber keine Eingriffe vorsehen darf, die den Maßnahmezwecken zuwider laufen.

Sofern ein Straftatverdächtiger durch einen (gesetzlich zugelassenen) Schusswaffeneinsatz an der Flucht gehindert werden soll und dadurch der staatliche Strafverfolgungsanspruch – seinerseits ein Belang von erheblicher Bedeutung[33] – durchgesetzt werden kann und soll, ist insoweit nicht an der Eignung der Maßnahme zu zweifeln. Dieser Umstand darf indessen nicht den Blick darauf verstellen, dass derselbe Eingriff in das Grundrecht auf Leben auch mit dem Risiko der Vereitelung des Zwecks verbunden ist, denn der unbeabsichtigt tödliche Schuss beendet final die weitere Strafverfolgung des Be- bzw. Getroffenen: Gegen einen toten Beschuldigten kann der staatliche Strafanspruch nicht mehr durchgesetzt werden.[34] In einem solchen Eingriff fallen mithin – und untypischerweise! – die mögliche Zweckförderung und die keineswegs hinreichend verlässlich auszuschließende Zweckvereitelung zusammen. Vor diesem Hintergrund ist der zu rein strafverfolgenden Zwecken abgegebene Schuss – und dies nicht etwa nur bei beabsichtigt tödlicher Abgabe desselben[35] – im Unterschied zur Rechtsprechung des BGH[36]als ungeeignet zu betrachten und entsprechende Befugnisse im einfachen Recht als verfassungswidrig zu verwerfen. Oder noch weiter gehend: Der durch § 127 StPO geschützte staatliche Strafanspruch hat grundsätzlich hinter der Gesundheit eines Straftatverdächtigen zurückzutreten.[37] Niederschlag findet dieser Grundgedanke in der Regelung zur Zulässigkeit von körperlichen Eingriffen in § 81a Abs. 1 S. 2 StPO, wonach Nachteile für die Gesundheit des Beschuldigten nicht zu befürchten sein dürfen. Nach durchaus verbreiteter Ansicht ist damit gemeint, dass solche Auswirkungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sein müssen.[38]

Ein anderes Bild zeigt sich freilich, wenn nicht die Strafverfolgung als Maßnahmezweck herangezogen wird, sondern die Gefahrenabwehr. Unbestritten ist diesbezüglich, dass Eingriffe in das Lebensgrundrecht zum Schutz von hochrangigen Rechtsgütern durchaus rechtfertigungsfähig sind, wenn keine anderen Abwehrmittel zur Verfügung stehen (näher dazu im Folgenden).[39] 

b) Zur Angemessenheit des Schusswaffengebrauchs

Kann durch die Vereitelung der Flucht eines Straftatverdächtigen eine sogleich näher zu konkretisierende Gefahr beseitigt werden, so stellt sich ein Schusswaffengebrauch nicht als Verletzung dessen Menschenwürde dar, denn der gleichsam als Störer zu behandelnde Verdächtige wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt. Vielmehr entspricht es seiner Subjektstellung, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird.[40]

Eingriffe in das Grundrecht auf Leben können nur bei besonders strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt werden, dürfen mithin keinesfalls außer Verhältnis zum gefahrenabwehrenden Zweck stehen. Deshalb sind an die von dem Flüchtenden ausgehenden Gefahren besonders hohe Anforderungen sowohl in qualitativer und zeitlicher Hinsicht und schließlich auch im Hinblick auf die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit zu stellen: Eingriffe setzen dabei nicht notwendigerweise abzuwehrende Gefahren für das Leben anderer Menschen voraus. Auch andere, schwere Rechtsgutsbeeinträchtigungen, etwa schwerwiegende Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit oder andere Rechtsgüter von vergleichbarem Rang können Eingriffe in das Grundrecht auf Leben rechtfertigen.[41] Dagegen können weniger gewichtige Rechtsgüter (etwa der jedenfalls verfassungsgerichtlich anerkannte Belang, die menschliche Gesundheit vor den von Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren zu schützen[42]) nicht herangezogen werden.

In zeitlicher Hinsicht können entfernter in der Zukunft liegende Gefahren, die dem Flüchtenden zugerechnet werden können, nach hier vertretener Ansicht nicht Anknüpfungspunkt für eine Befugnis zum Schusswaffeneinsatz sein. In entsprechenden Fällen ist stets anderen Fahndungsmaßnahmen der Vorrang einzuräumen. Andersherum kann aber auch eine weiter in der Vergangenheit liegend Tat nicht ohne weiteres einen Schusswaffeneinsatz zum Zeitpunkt der späteren Festnahme rechtfertigen.[43]

Wegen der Höchstrangigkeit des Grundrechts auf Leben (s. o.) erscheint es unangemessen, als Maßnahmezweck die Feststellung der Person (§ 163b StPO) des Flüchtenden ausreichen zu lassen. Isoliert betrachtet handelt es sich bei einer Identitätsfeststellung, anders als die freiheitsentziehende Maßnahme der Festnahme, um keine Maßnahme mit zumindest mittelbar präventiver Wirkung im Sinne unechter Doppelfunktionalität, sondern ist lediglich Mittel zum Zweck, nachfolgende Maßnahmen gegen eine dann (insbesondere) namentlich bekannte Person zu ermöglichen.[44]

De lege ferenda ist darüber hinaus eine zum Maßnahmezeitpunkt hinreichend sicher feststellbare Tatsachenbasis zu verlangen, die den Schluss auf eine hohe Wahrscheinlichkeit der Entstehung oder Intensivierung eines Schadens ermöglicht. Bei all diesen Prognoseanforderungen ist jeweils die besondere Einsatzsituation, in der der einschreitende Amtswalter ggf. in „Sekundenschnelle“[45] die Entscheidung über das „Ob“ zu fällen hat,[46] in die Gesamtabwägung einzustellen. Namentlich auch letzteres haben Eingriffsbefugnisse in Rechnung zu stellen. Dem ist im Rahmen des zu unterbreitenden Vorschlags (unten IV.) nachzugehen.

4. Zwischenfazit

Jeder Schusswaffengebrauch, insbesondere wenn er in einer stressbelasteten Einsatzsituation mit einer Faustfeuerwaffe erfolgt, ist dem Risiko der Tötung des Flüchtenden verbunden:[47] Eine bezweckte Fluchtunfähigkeit (vgl. § 12 Abs. 2 UZwG) ist stets mit einer konkreten Lebensgefahr für die eine Flucht zumindest versuchende Person verbunden. Eine solche Maßnahme ist daher ausnahmslos als Eingriff in das Grundrecht auf Leben zu behandeln[48] und unter dem Gesichtspunkt einer Ermöglichung von Strafverfolgung (rein „repressiver Schusswaffeneinsatz“) nicht zu rechtfertigen,[49] denn insoweit stellt er stets eine Gefährdung eben dieses Belangs dar. Richtigerweise kann als Grund für einen Schusswaffeneinsatz nur die Gefährlichkeit des Täters, die Strafverfolgung aber lediglich der Anlass des entsprechenden Einschreitens sein.[50] Ist eine solche Gefährlichkeit der festzunehmenden Person nicht erkennbar, so darf der Schusswaffengebrauch auch nicht angedroht (§ 13 Abs. 1 UZwG) werden, denn generell dürfen nur zulässige Zwangsmittel angedroht werden.[51] Nach dem Gesagten kann wegen der verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeit de lege lata schon gegenwärtig nicht alleine auf die geltenden, materiell-rechtlichen Voraussetzungen abgestellt werden.[52]

Gleichzeitig ist festzustellen, dass das hiesige Verständnis einen weitergehenden Schutz des Grundrechts auf Leben als etwa der Wortlaut der EMRK vermittelt, die die Tötung nicht als Verletzung dieses Rechts betrachtet, wenn sie sich als unbedingt erforderliche Gewaltanwendung[53] im Rahmen der Durchführung einer ordnungsgemäßen Festnahme darstellt.[54]

III. Einfachgesetzliche Befugnisse zum Schusswaffengebrauch gegen Straftatverdächtige

Abschließende Regelungen[55] zum Schusswaffeneinsatz gegen Personen aus Anlass von strafverfolgenden Maßnahmen sind dem UZwG zu entnehmen. Sie sind den Regelungen in den Polizeigesetzen der Länder ähnlich (näher unter IV).[56]

In § 10 UZwG sind neben dem sog. „repressiven Schusswaffeneinsatz“ auch Befugnisse mit (auch rein) präventiver (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 UZwG) und strafvollstreckender Zielrichtung (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 4 UZwG) enthalten, die, der Themenstellung entsprechend, im Folgenden allerdings ohne nähere Betrachtung bleiben sollen.

Insgesamt wird die Regelung des § 10 UZwG richtigerweise als schwer zu durch- und überschauen bezeichnet,[57] was schon für sich alleine zum Anlass einer Gesamtrevision durch den Gesetzgeber genommen werden sollte. Dem vermeintlich ausschließlich repressiven Zwecken dienende Schusswaffeneinsatz nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 UZwG soll in der Praxis erhebliche Bedeutung zukommen.[58] Freilich bedarf der näheren Betrachtung, welche der Regelungen im Einzelnen tatsächlich einen rein repressiven Charakter besitzen und damit nach hiesigem Verständnis verfassungsrechtlich unzulänglich sind und damit einen Reformbedarf auslösen.

1. Ermöglichung einer Festnahme oder Identitätsfeststellung

Unproblematisch lässt sich als Anlass eines Schusswaffengebrauchs nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 UZwG eine strafverfolgende Maßnahme, nämlich eine Festnahme (§ 127 Abs. 2 StPO) oder Identitätsfeststellung (§ 163 b StPO), erkennen. Allerdings ist diese Gelegenheit – wie zu zeigen sein wird – nicht ausnahmslos deckungsgleich mit dem gesetzlich verlangten Grund der Maßnahme.  

Nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 lit. a Alt. 1 UZwG ist die Maßnahme zulässig bei einem flüchtenden Straftatverdächtigen, wenn die Person bei einer rechtswidrigen Tat auf frischer Tat betroffen wird, die sich nach den Umständen als Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB) darstellt. Die Regelung verknüpft damit die Voraussetzungen einer Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO mit einer der Bedingungen der sog. „Jedermann-Befugnis“[59] aus § 127 Abs. 1 StPO, ohne jedoch darüber hinausgehende Gefahrenmomente zu verlangen. Hierbei handelt es sich um eine rein strafverfolgende Maßnahme, selbst wenn man in einer Festnahme auch präventive Aspekte im Sinne einer unechten Doppelfunktionalität[60] der Freiheitsentziehung erblicken mag.

Im Unterschied hierzu verlangt § 10 Abs. 1 Nr. 2 lit. a Alt. 2 UZwG neben der identischen Gelegenheit (dem Betroffensein auf frischer Tat) ein noch andauerndes Vergehen (§ 12 Abs. 2 StGB), das unter Anwendung oder Mitführung von Schusswaffen oder Sprengstoffen begangen wird. In dieser Alternative verlangt der Wortlaut des Gesetzes gleichsam eine gegenwärtige Gefahr für Rechtsgüter beliebiger Personen im Zusammenhang mit dem Beisichführen – zu verstehen wie bspw. in § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB – besonders gefährlicher Gegenstände durch den Straftatverdächtigen. Der Grund für die Zulässigkeit des polizeilichen Schusswaffengebrauchs liegt insoweit eindeutig schwerpunktmäßig im Bereich der Gefahrenabwehr, womit zugleich und regelmäßig die Anwendbarkeit von § 10 Abs. 1 Nr. 1 lit. b UZwG im Sinne der Verhinderung der Fortsetzung einer solchermaßen verübten Tat eröffnet sein dürfte. Das Verhältnis dieser Bestimmungen zueinander erschließt sich somit keineswegs von alleine, soll – thematisch bedingt – hier jedoch nicht vertieft werden.

Präventive Gesichtspunkte sind bei § 10 Abs. 1 Nr. 2 lit. b UZwG, der neben dem eindeutig strafverfolgenden Anlass (s. o.) lediglich den dringenden Tatverdacht eines Verbrechens gegen die flüchtende Person verlangt, nicht zu erkennen. Es handelt sich insoweit um eine Maßnahme mit rein repressiver Zielrichtung. Dabei „wirkt“ das Merkmal des dringenden Verdachts lediglich im Falle des Schusswaffengebrauchs wegen der Feststellung der Person, denn eine jegliche Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO setzt ohnehin einen dringenden Tatverdacht voraus.[61] 

Insgesamt lässt sich der hier besonders interessierende Schusswaffengebrauch nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 UZwG nicht als rein strafverfolgende Maßnahme qualifizieren, weil die Vorschrift offensichtlich gleich zweifach die Verhinderung einer Schusswaffen- oder Sprengstoffanwendung – und damit eine gefahrenabwehrende Zielrichtung – bezweckt. Wenn aber eine solch objektiv gefährliche Verhaltensweise als unverzichtbare Bedingung für einen Schusswaffengebrauch genannt wird, lässt sich kaum von „ausschließlich repressiven Zwecken“[62] sprechen.

2. Ermöglichung der (Wieder-)Ergreifung von „Ausbrechern“

Über die genannten Regelungen zu einem „repressiven Schusswaffeneinsatz“ in § 10 Abs. 2 Nr. 2 UZwG hinaus lassen sich rein repressive Maßnahmerichtungen auch in § 10 Abs. 1 Nr. 3 lit. c und d UZwG erkennen.[63] Die genannten Freiheitsentziehungen haben evident eine strafverfahrenssichernde Funktion und der gesetzlich vorgesehene Schusswaffengebrauch dient im Falle der Fluchtvereitelung dem Unterbinden des bereits feststellbaren Fluchtversuchs, im Falle der bereits gelungenen Flucht der Wiederergreifung des Verdächtigen.[64] Mit „amtlichem Gewahrsam“ ist dabei nicht etwa eine polizeirechtliche Freiheitsentziehung gemeint,[65] die damit gefahrenabwehrenden Zwecken diente. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen Oberbegriff für strafverfahrens- und strafvollstreckungsrechtlichen – und damit repressive – Freiheitsentziehungen.[66] Erkennbar verlangt jedenfalls der Wortlaut dieser Befugnisse keine präventiven Zwecke des Schusswaffengebrauchs. Ungeachtet dessen versuchte der BGH in einer früheren Entscheidung, eben solche gefahrenabwehrenden Elemente in eine Schusswaffengebrauchsbefugnis hineinzuinterpretieren, indem er einen Schusswaffengebrauch zum Zwecke der Wiederergreifung eines flüchtigen Rechtsbrechers, gegen den wegen eines Verbrechens oder Vergehens ein Haftbefehl erlassen wurde, vor allem unter der Bedingung für zulässig hielt, dass von diesem „eine nicht unerhebliche Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht“.[67] Diese Judikatur vermag freilich nicht den Blick darauf zu verstellen, dass sich schon aus Gründen der Wesentlichkeitslehre[68] ein solches (präventiv-polizeiliches) Erfordernis aus dem Wortlaut des Gesetzes zu ergeben hätte.

IV. Reformbedarf aus Verhältnismäßigkeitsgründen

Anlässlich der Verfolgung einer Straftat können sich Hinweise auf die Entstehung weiterer, durch den Verdächtigen hervorgerufene Gefahren ergeben. Der Einsatz von Schusswaffen darf lediglich die Bewältigung letzterer im Blick haben. Dabei kann die Schwere der bereits verfolgten Tat Schlüsse auf die Qualität der abzuwehrenden Gefahr zulassen. Die Gefahrenprognose darf andersherum aber nicht alleine auf begangenes Unrecht gestützt werden.

1. Vorbemerkungen zur gesetzlichen Terminologie

Eingriffe in das Grundrecht auf Leben lassen sich ausschließlich vor dem Hintergrund der Gefährlichkeit einer Person bzw. der durch diese zum Zeitpunkt eines solchen Eingriffs verursachten Gefahr rechtfertigen. Sofern es bei dem Gebrauch von Schusswaffen also lediglich um Gefahrenabwehr zu gehen hat, sollten auch ausschließlich die einschlägigen Begrifflichkeiten in einer Befugnisnorm Verwendung finden. Nach richtiger Ansicht verlangt nämlich der Charakter der Gefahrenabwehr als Rechtsgüterschutz, dass bei der Normierung von Grundrechtseingriffen die zu schützenden Rechtsgüter und die Intensität ihrer Gefährdung in den Blick genommen werden. Nur auf diese Weise lässt sich sicherstellen, dass gefahrenabwehrende Befugnisse im Einzelnen gerechtfertigt sind und zu dem erstrebten Erfolg nicht außer Verhältnis stehen.[69] Etwa durch die Bezugnahme auf bestimmte strafrechtliche Deliktskategorien (Vergehen und Verbrechen, § 12 StGB) geht dieser Zusammenhang zwischen Grundrechtseingriff und Rechtsgüterschutz weitgehend verloren. Überdies verlangt dies im Augenblick eines regelmäßig dynamischen Fluchtgeschehens eine rechtliche Wertung, die mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist oder sein kann: Ob sich eine Tat zum Nachteil der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person als Vergehen der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 StGB oder als Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 226 StGB darstellt, wird sich in der erforderlichen „Sekundenschnelle“ vielfach nicht hinreichend sicher bestimmen lassen. Jedoch ist diese Bestimmung de lege lata von entscheidender Bedeutung für die Voraussetzungen des hier interessierenden Schusswaffengebrauchs in den zahlreichen Varianten des § 10 Abs. 1 Nr. 1 und 2 UZwG. Es ist deswegen aus Sicht – beispielsweise eines Bundespolizisten – auch nur sehr bedingt hilfreich, dass der Gesetzgeber mit der detaillierten Umschreibung der Einsatzmöglichkeiten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gleichsam „vorgeprüft“ hat.[70] Unter diesem Gesichtspunkt ist die geltende Rechtslage grundlegend unbefriedigend und bedarf schon deshalb der Reform. Diese sollte auf den Umstand Rücksicht nehmen, dass die den Schusswaffeneinsatz erwägenden Amtsträger aus der Beobachtung von Einzelheiten, die dazu noch diffus sein können, auf die Gefährlichkeit eines noch nicht klar erkennbaren zukünftigen Geschehens zu schließen haben.[71] Die gefahrenabwehrrechtliche Terminologie, namentlich auch die differenzierten Gefahrenbegriffe in Kombination mit weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen, bietet hierfür ausreichend Möglichkeiten.

Nach dem Gesagten sind in einer Befugnis zum Schusswaffeneinsatz auch strafverfahrensrechtliche Begrifflichkeiten, wie etwa das Betroffensein auf frischer Tat in § 10 Abs. 1 Nr. 2 lit. a UZwG oder der dringende Tatverdacht in § 10 Abs. 1 Nr. 2 lit. b UZwG, zu vermeiden.

2. Inhaltliche Anforderungen an Eingriffsbefugnisse

Nach dem oben Gesagten (II 3 b) stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spezifische Anforderungen an einen Schusswaffengebrauch aus Anlass von strafverfolgenden Maßnahmen. Diese sind nunmehr positiv zu wenden:

Mit dem Prinzip der Angemessenheit ist nach hier vertretener Ansicht unvereinbar, einen Schusswaffeneinsatz gegen eine Person auch bei in unbestimmbarer Zukunft liegender Gefahr, die selbstverständlich dieser Person zugerechnet werden muss, gesetzlich zu gestatten. Vielmehr ist im Sinne einer gegenwärtigen Gefahr eine Sachlage zu verlangen, bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht.[72]

In qualitativer Hinsicht können nicht beliebige gegenwärtige Gefahren Anknüpfungspunkt für Eingriffe in das Lebensgrundrecht bilden. Es wäre mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar, lediglich „nicht unerhebliche Gefahren für die Allgemeinheit“ ausreichen zu lassen.[73] Vielmehr müssen sich die durch den Schusswaffeneinsatz abzuwendenden Gefahren auf höchstrangige Rechtsgüter beziehen, zu denen insbesondere Leib, Leben und die Freiheit von anderen Personen zählen. In Betracht kommen aber auch Gefahren für solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Hierzu zählt etwa auch – namentlich auch im Zusammenhang mit terroristischen Gefahren – die Funktionsfähigkeit wesentlicher Teile existenzsichernder öffentlicher Versorgungseinrichtungen[74] bzw. wesentliche Infrastruktureinrichtungen oder sonstige Anlagen mit unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen.[75] Dagegen können Eingriffe in das Grundrecht auf Leben mit bloßem Sachwertschutz nicht gerechtfertigt werden.

3. Regelungsvorschlag

Nach alledem soll unter Ausblendung der anderweitigen, namentlich rein präventiven Befugnisse zum Schusswaffeneinsatz in § 10 UZwG (zu denen auch der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Tod eines Störers führende Schuss zählt[76]) folgende Neuregelung vorgeschlagen werden:

§ 10 Schusswaffengebrauch gegen Personen

(1) Schusswaffen dürfen gegen einzelne Personen nur gebraucht werden,

(…)

2. um eine Person, die sich der Festnahme (§ 127 Abs. 2 StPO) durch die Flucht zu entziehen versucht, anzuhalten, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die erfolgreiche Flucht zu einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben einer anderen Person oder für solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt, führen würde. Tatsachen in diesem Sinne können insbesondere die Art und Weise der Begehung der Tat, wegen derer die Festnahme erfolgen soll, oder die Anwendung oder das Mitführen von Waffen oder Sprengstoffen sein.

(…)

Sollen die Regelungen zur Wiederergreifung von „Ausbrechern“ (s.o.) beibehalten werden, so wäre § 10 Abs. 1 Nr. 3 lit. c und d UZwG, sofern ein präventiver Maßnahmegrund (noch) fehlt, entsprechend zu ergänzen. Reformbedarf besteht nach dem Gesagten, namentlich Verhältnismäßigkeitsgründen auch in den Landesgesetzen, die die Anwendung unmittelbaren Zwangs aus Anlass von strafverfolgenden Maßnahmen zum Gegenstand haben.

 

 

[1]     Überblick über sämtliche Regelungen bei Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. (2018), Rn. 558, dort Fn. 150.
[2]     Ingelfinger, JR 2000, 299 (300).
[3]     Vgl. den gleichwohl nicht zu kaschierenden Streitstand bei Paeffgen, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 127 Rn. 28 ff. und Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. (2017), § 31 Rn. 11 ff. sowie ergänzend OLG Dresden, NJW 2001, 3643 f.; zur h.M. vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. (2018), Einl.         Rn. 46; Schultheis, in: KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 127 Rn. 40; Lemke, in: HK-StPO, 5. Aufl. (2012), § 127 Rn. 23; Herrmann, in: SSW-StPO, 3. Aufl. (2018), § 127 Rn. 44; Böhm/Werner, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2014), § 127 Rn. 20.
[4]     A.A. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. (2017), S. 289: „Anwendungsbereich (…) nahezu ins Leere“.
[5]     Zum Begriff vgl. Borsdorff, in: Möllers, Wörterbuch der Polizei, 3. Aufl. (2018), S. 1990, Stichwort
Schusswaffengebrauch“.
[6]     Vgl. dazu nur Murswiek, in: Sachs, GG, 8. Aufl. (2018), Art. 2 Rn. 154 mwN.
[7]     Vgl. auch dazu nur Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 142.
[8]     EGMR, NJW 2005, 3405 (3407); ausf. – auch mit Blick auf die Rspr. des EGMRAlleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. (2013), Kap. 10 Rn. 50 ff.; Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 160; a.A. Brenneisen/Blauhut, Die Polizei 2015, 185 (187).
[9]     Vgl. dazu Ruthig, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 1. Aufl. (2014), UZwG § 3 Rn. 2; a.A. Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz, 5. Aufl. (2012), UZwG § 3 Rn. 3: nur Bedeutung für den „finalen Rettungsschuss“.
[10]   Überblick auch bei Erdmann, in: Möllers, S. 1987, Stichwort „Schussverletzung“.
[11]   Pfister/Kneubuehl, Kriminalistik 2001, 359 (361); vgl. auch den Überblick bei Neuwirth, Polizeilicher Schusswaffengebrauch gegen Personen, 2. Aufl. (2006), S. 69 ff.
[12]   Pfister/Kneubuehl, Kriminalistik 2001, 359 (361).
[13]   Stappen, Polizeigeschosse und andere Deformationsgeschosse, 2015, S. 11 f.
[14]   Neitzel/Kollig, in: Neitzel/Ladehof, Taktische Medizin, 2012, S. 209.
[15]   Pfister/Kneubuehl, Kriminalistik 2001, 359 (362).
[16]   A.a.O.
[17]   Wirth/Schmeling, Rechtsmedizin, 3. Aufl. (2012), S. 156.
[18]   Kneubuehl, in: Kneubuehl/Coupland/Rothschild/Thali, Wundballistik, 3. Aufl. (2008), S. 281 f.
[19]   Neitzel/Kollig, in: Neitzel/Ladehof, S. 203.
[20]   Kneubuehl, in: Kneubuehl/Coupland/Rothschild/Thali, S. 283 ff.
[21]   A.a.O., S. 287.
[22]   A.a.O., S. 287 f.
[23]   Rosenberger, Waffen und Einsatzmunition der Polizei, 2002, S. 89.
[24]   Vgl. dazu insbes. BGHSt 26, 99 (104): „Jeder Schusswaffengebrauch (…) beinhaltet ein solches (Tötungs)Risiko.“
[25]   Kneubuehl, Geschosse, 2013, S. 172.
[26]   Lorei/Heimann, in: Lorei, Polizeiwissenschaftliche Analysen, 2017, S. 66 f.
[27]   BGH, NJW 1989, 1811 (1812); OLG Brandenburg, NJW-RR 1996, 924 (925): „Gefahren für Leib und Leben“.
[28]   BVerfGE 66, 39 (59) – Raketen-Stationierung; vgl. auch Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 10 Rn. 54.
[29]   Vgl. nur BVerfGE 39, 1 (42).
[30]   Zum Begriff näher Möllers, in: ders., S. 802.
[31]   Überblick und zahlreiche Nachweise etwa bei Sachs, in: Sachs, Art. 20 Rn. 150.
[32]   Vgl. auch dazu nur Sachs, in: Sachs, Art. 20 Rn. 151.
[33]   Vgl. nur BVerfGE 133, 168 (199) – Verständigungsgesetz.
[34]   Mit Blick auf die hier interessierende Thematik Neuwirth, S. 69; allg. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 21 Rn. 11. 
[35]   Vgl. dazu Paeffgen, in: SK-StPO, 4. Aufl. (2012), EMRK Art. 2 Rn. 68; Gaede, in: MüKo-StPO, 2018, EMRK Art. 2 Rn. 40; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, EMRK Art. 2 Rn. 4 („nach deutschem Recht unzulässig“); Neuwirth, S. 69; vgl. auch BGH, NJW 1999, 2533 (2533 f.): „Gezielte Schüsse auf zentrale Bereiche des Menschen (…) unzulässig …“.
[36]   BGH, NJW 1999, 2533 (2535).
[37]   BGH, NStZ 2000, 603 in einem Fall der Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO; Herrmann, in: SSW-StPO, § 127 Rn. 36.
[38]   Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a Rn. 17; Rogall, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 81a Rn. 57; Bosch, in: SSW-StPO, § 81a Rn. 16; Brauer, in HK-StPO, § 81a Rn. 16: Unzulässigkeit, wenn Nachteile „mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten“ sind; Senge, in: KK-StPO, § 81a Rn. 6a: Voraussetzungen der Zulässigkeit besonders gefährlicher Eingriffe; ähnlich Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 14.
[39]   Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 171.
[40]   BVerfGE 115, 118 (161) – Luftsicherheitsgesetz.
[41]   Vgl. statt vieler nur Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 171.
[42]   Näher BVerfGE 90, 145 (174 ff.).
[43]   A.A. Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, UZwG § 10 Rn. 23: Schusswaffengebrauch ohne weiteres auch „Monate nach der Tat“; Neuwirth, S. 46: „Jahre nach der Tat“.
[44]   Ausf. dazu Graulich, in: Lisken/Denninger, Kap. E Rn. 315 f.
[45]   Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, Bundespolizeigesetz, 5. Aufl. (2015), UZwG § 10 Rn. 1.
[46]   Lorei/Heimann, in: Lorei, S. 67.
[47]   BGHSt 26, 99 (104).
[48]   BGH, NJW 1989, 1811 (1813): „besonders schwerer Eingriff in das Recht auf Leben“.
[49]   Ebenso Paeffgen, in: SK-StPO, § 127 Rn. 29c; a.A. offensichtlich BGH, NJW 1999, 2533 (2535): „(…) Schusswaffengebrauch gegenüber dem eines Verbrechens dringend verdächtigen Flüchtenden grundsätzlich zulässig … (§ 54 I Nr. 2b BadWürttPolG), …“; vgl. auch Bialon/Springer, Eingriffsrecht, 4. Aufl. (2018), S. 216.
[50]   Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. (2018), Kap. E Rn. 947; Brenneisen/Blauhut, Die Polizei 2015, 221 (227); Ingelfinger, JR 2000, 299 (300); vgl. auch Roggenkamp/König, Eingriffsrecht für Polizeibeamte in Niedersachsen, 1. Aufl. (2018), S. 397 f.; EGMR, NJW 2005, 3405 (3408): Der Bf. wurde „durch sein kriminelles Verhalten zu einer tödlichen Gefahr für unbeteiligte Personen“.
[51] Vgl. Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 13 Rn. 1; Schenke, Rn. 546; zur Rechtlage im Land Berlin auch Baller, in: Baller/Eiffler/Tschisch, ASOG Berlin, 1. Aufl. (2004), UZwG § 10 Rn. 11.
[52]   Vgl. dazu aber Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 10 Rn. 21.
[53]   Näher Paeffgen, in: SK-StPO, EMRK Art. 2 Rn. 68.
[54]   Ausf. dazu Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 10 Rn. 69 ff.; vgl. auch Brenneisen/Blauhut, Die Polizei 2015, 185 (186).
[55]   Vgl. nur Ruthig, in: Schenke/Graulich/Ruthig, UZwG § 10 Rn. 1.
[56]   Überblick bei Graulich, in: Lisken/Denninger, Kap. E Rn. 946.
[57]   Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 10 Rn. 1.
[58]   Neuwirth, S. 44; vgl. auch Brenneisen/Blauhut, Die Polizei 2015, 221 (223).
[59]   Vgl. dazu statt vieler nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 127 Rn. 7.
[60]   Zum Begriff etwa Roggan, Die Polizei 2008, 112 (113).
[61]   Mit Bezug zum Gegenstand der hiesigen Betrachtungen Graulich, in: Lisken/Denninger, Kap. E Rn. 944.
[62]   So aber Neuwirth, S. 44; vgl. auch Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 10 Rn. 4 und Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, UZwG § 10 Rn. 21: „Anhalten einer Person aus Gründen der Strafverfolgung“.
[63]   Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, UZwG § 10 Rn. 30.
[64]   Näher dazu Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 10 Rn. 32 ff.
[65]   Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 10 Rn. 37.
[66]   A.a.O., Rn. 33.
[67]   BGHSt 26, 99 (102); dagegen Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, UZwG § 10 Rn. 30.
[68]   Vgl. nur Sachs, in: Sachs, Art. 20 Rn. 117.
[69]   So für ein Polizeigesetz ThürVerfGH, Urt. v. 21.11.2012 – VerfGH 19/09, S. 41.
[70]   So aber Walter, in: Drewes/Malmberg/Walter, UZwG § 10 Rn. 1.
[71]   ThürVerfGH, Urt. v. 21.11.2012 – VerfGH 19/09, S. 41._
[73]   So aber BGHSt 26, 99 (102).
[74]   BVerfGE 120, 274 (328) – Online-Durchsuchungen.
[75]   BVerfGE 141, 220 (287) – BKAG.
[76]   Näher zur entsprechenden Problematik bspw. Gusy, S. 289 f.

 

 

 

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