KriPoZ-RR, Beitrag 40/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 18.09.2019 – 2 BvR 1165/19: Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit auch ohne konkrete Anzeichen einer drohenden Depravation

Leitsatz der Redaktion:

§ 53 Abs. 3 StVollzG NRW fordert im Lichte des Gebots, die Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen zu erhalten und zu festigen, keine konkreten Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation. Vor solchen konkreten Anzeichen soll das Gebot gerade schützen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war wegen Totschlags zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

Nachdem er etwas mehr als sechs Jahre verbüßt hatte, hatte er im Jahr 2018 bei der Justizvollzugsanstalt eine erste Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit beantragt, welche von der JVA mit der Begründung abgelehnt worden war, dass der Beschwerdeführer keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der Lebenstüchtigkeit aufweise.

Nachdem dieser Bescheid vom LG Bielefeld aufgehoben worden war, weil er keine ausreichende Abwägung erkennen lassen hatte, hatte die JVA den Antrag erneut negativ beschieden, da der Inhaftierte keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten zeige und eine Ausführung nur in gefesseltem Zustand möglich sei, was dem Zweck der Ausführung zuwiderlaufe.

Dieser Bescheid war sowohl vom LG als auch vom OLG Hamm aufrechterhalten worden. Der Beurteilungsspielraum, der der JVA zustünde, sei gewahrt worden, da alle Gründe die für und gegen eine Ausführung gesprochen hatten, abgewogen worden seien. Eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit sei rechtsfehlerfrei und unter Anwendung der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation abgelehnt worden. Die Eingangsvoraussetzung des § 53 Abs. 3 Satz 1 StVollzG NRW fordere, dass eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit entweder feststellbar sei oder nach konkreten Anhaltspunkten zumindest drohe, eine lange Haftdauer allein genüge unterdessen nicht.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die Beschlüsse des LG Bielefeld und des OLG Hamm auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG verletzten.

Dieses Grundrecht verpflichte zu einer auf Resozialisierung und Behandlung ausgerichteten Ausgestaltung des Strafvollzuges. Gerade bei langen Haftstrafen müsse den schädlichen Auswirkungen des Vollzugs entgegengewirkt werden, wobei das Gebot zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nicht erst dann eingreife, wenn der Gefangene bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweise.

Um dieses Ziel zu erreichen, seien dem Gefangenen Vollzugslockerungen oder vollzugsöffnende Maßnahmen, wie beispielsweise eine Ausführung, zu gewähren soweit dies möglich sei. Deren Ablehnung greife in das durch Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Resozialisierungsinteresse des Insassen ein.

Daher dürfe eine Ablehnung durch die JVA insbesondere nicht unter Hinweis auf pauschale Wertungen oder einer abstrakten Flucht- bzw. Missbrauchsgefahr erfolgen, so das BVerfG. Es sei vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die eine Prognoseentscheidung zur tatsächlichen Flucht- oder Missbrauchsgefahr des Gefangenen stützten.

Anhand dieser Maßstäbe hätten das LG und das OLG die Voraussetzungen an eine Ausführung nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW fehlerhaft ausgelegt.

Indem die Instanzgerichte eine konkrete Gefahr für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit gefordert hätten, hätten sie den Sinn des grundrechtlichen Gebots, den Strafvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, verkannt.

Weise ein Gefangener bereits Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation auf, handele es sich schon um konkrete haftbedingte Schädigungen, vor denen der Inhaftierte zu schützen gewesen sei.

Daraus folge, dass einem langjährig inhaftierten Gefangenen Ausführungen zu gewähren seien, auch, wenn er noch keine Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation zeige. Anders sei nur zu entscheiden, wenn eine konkrete und durch aktuelle Tatsachen belegbare Missbrauchs- oder Fluchtgefahr bestehe, der nicht durch die Begleitung von Bediensteten, der Festlegung von zusätzlichen Auflagen oder der verhältnismäßigen Anordnung einer Fesselung begegnet werden könne.

Ein pauschaler Verweis auf eine frühere aus dem offenen Vollzug heraus begangen Tat ohne aktuelle Gefahrenprognose genüge ebensowenig, wie eine Versagung mit dem pauschalen Argument, eine Ausführung unter Fesselung entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle daher ihren Zweck.

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2017 hatte das OLG Hamm entschieden, dass die Annahme einer Missbrauchs- oder Fluchtgefahr positiv festgestellt werden müsse (OLG Hamm, Beschl. v. 06.07.2017 – 1 Volz (Ws) 209/17).

Am 14. Dezember 2017 hat das OLG Hamm beschlossen, dass keine konkreten Anzeichen für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit zur Anordnung von Maßnahmen nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW erforderlich seien. Daher verwirrt das Abweichen von der eigenen Rechtsprechung in diesem Fall.

Den Beschluss vom Dezember 2017 finden Sie hier.

Zur Fesselung, die dem Zweck der Ausführung nicht entgegenwirke, hat das OLG Hamm am 28.12.2018 entschieden.

 

 

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