KriPoZ-RR, Beitrag 56/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 10.06.2020 – 3 ZB 1/20: Zu den Anforderungen an die sog. drohende Gefahr bzw. die Einordnung als Gefährder im Polizeirecht

Amtliche Leitsätze:

1. Für das Rechtsbeschwerdegericht sind die von der Vorinstanz festgestellten Tatsachen sowie deren Würdigung grundsätzlich bindend. Es überprüft aber im Rahmen der Rechtsbeschwerde ihre Beurteilung in ihrer Gesamtheit im Hinblick auf die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe.

2. Das individuelle Verhalten einer Person begründet die konkrete Wahrscheinlichkeit, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine terroristische Straftat begehen wird, wenn sich aus ihrem Verhalten auf der Grundlage einer hinreichend zuverlässigen Tatsachenbasis konkrete tatsächliche Anhaltspunkte ergeben, dass sich jederzeit eine terroristische Gefahr aktualisieren kann. Es reicht dabei nicht aus, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen und die Tatsachenlage durch eine hohe Ambivalenz der Bedeutung einzelner Beobachtungen gekennzeichnet ist. Ebenso wenig genügen reine Vermutungen oder bloße Spekulationen.

3. Anknüpfungspunkt der Prognose muss stets das Verhalten des Betroffenen sein. Allein seine Disposition oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe, deren Angehörige sich regelmäßig in einer bestimmten Art und Weise verhalten, reicht nicht aus. Insoweit bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Betroffenen, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen oder Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr ausgeht, sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Betroffenen in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu stabilisieren oder gar zu bestärken.

4. An den Wahrscheinlichkeitsmaßstab sind mit Blick auf das große Gewicht des Schutzes der Allgemeinheit vor Terroranschlägen und der Bereitstellung wirksamer Aufklärungsmittel zu ihrer Abwehr für die demokratische und freiheitliche Grundordnung, der Bedeutsamkeit der von terroristischen Straftaten betroffenen Rechtsgüter und des drohenden Ausmaßes der durch terroristische Anschläge drohenden Schäden sowie ihrer Eigenart, dass sie oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, keine überspannten Anforderungen zu stellen.

5. Insbesondere steht der Prognose nicht entgegen, dass andere Deutungen der festgestellten Tatsachen und Äußerungen nicht ausgeschlossen sind. Sind die für eine Gefahrprognose sprechenden tatsächlichen Anhaltspunkte und Gründe mindestens ebenso gewichtig wie die möglicherweise für eine gegenteilige Prognose sprechenden Gründe, reicht dies für die erforderliche konkrete Wahrscheinlichkeit aus.

6. Verdachtsfälle, die bereits eine (endgültige) Abschiebung ohne vorherige Androhung tragen, beziehungsweise wertungsmäßig ähnlich gewichtige Fälle müssen jedenfalls auch für die Rechtfertigung des weniger schwerwiegenden Eingriffs der Datenerhebung durch längerfristige Observation ausreichen.

Sachverhalt:

Das OLG hat die Beschwerde des Polizeipräsidiums gegen den Beschluss des AG zurückgewiesen.

Das AG hatte eine längerfristige Observation des Betroffenen nach § 15 HSOG abgelehnt.

Als Begründung hatten sowohl AG als auch OLG angeführt, dass von dem Betroffenen keine abstrakte Gefahr i.S.v. § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 HSOG ausgehe.

Gegen diese Zurückweisung richtete sich die zulässige Rechtsbeschwerde des Polizeipräsidiums zum BGH.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Beschluss des OLG auf.

Zunächst begründete er kurz, weshalb er zwar als Beschwerdegericht grundsätzlich an die von der Vorinstanz festgestellten Tatsachen und deren rechtlicher Würdigung gebunden sei. Allerdings stünde ihm als Beschwerdegericht eine Beurteilung im Hinblick auf die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe zu. Die verallgemeinerbaren Maßstäbe der Ausfüllung solcher entzögen sich dem Beurteilungsspielraum des Tatgerichts.

Demnach habe das OLG den Rechtsbegriff der „durch individuelles Verhalten bedingten konkreten Wahrscheinlichkeit“ nicht zutreffend erfasst und konkretisiert.

§ 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 HSOG gestatte die Datenerhebung durch Observation und den Einsatz technischer Mittel über Personen, deren individuelles Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit begründe, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine terroristische Straftat begehen werden, wenn die Maßnahme zur Verhütung dieser Straftat erforderlich sei, so der BGH.

Eine Legaldefinition dieses Gefährderbegriffs fände sich weder im Hessischen SOG noch in anderen Polizeigesetzen. Lediglich im Bayerischen PAG bilde dieser Ausdruck einen Teil der Definition für die „drohende Gefahr“.

Die Regelung sei als Umsetzung der Entscheidung des BVerfG zum BKAG in das Gesetz eingefügt worden. In dieser Entscheidung hatte das BVerfG dem Gesetzgeber gestattet, die Anforderungen an den Kausalverlauf für eine Gefahrenlage im Hinblick auf terroristische Gefahren zur Anordnung bestimmter Aufklärungsmaßnahmen abzusenken.

Die Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs, wie sie sich aus den Leitsätzen ergibt, erfolge durch Auslegung.

Bereits der Wortlaut unterscheide zwischen den Begriffen „Wahrscheinlichkeit“ und „Gefahr“, wobei erstere eine abgesenkte Eingriffsschwelle zulasse.

Dieses Ergebnisse stimme auch mit der Gesetzessystematik überein, da in § 15 HSOG selbst in absteigender Reihenfolge zunächst von einer konkreten Gefahr und später nur noch von „konkreter Wahrscheinlichkeit“ spreche.

Da es Zweck der Aufklärungseingriffe sei, terroristische – also schwerste – Straftaten zu verhüten, dürfe auch an die Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts keine überspannten Anforderungen gestellt werden.

Bei der Tätigkeit der Polizei im Gefahrenvorfeld müsse ein größerer Grad an Ungewissheit in Kauf genommen werden.

Insoweit seien heimliche Überwachungsmaßnahmen verfassungsrechtlich bereits dann zulässig, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar sei, jedoch das individuelle Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit begründe, dass die Person terroristische Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen werde.

Nicht mehr zulässig seien Maßnahmen jedoch dann, wenn der Eingriffsanlass noch weiter in das Vorfeld einer in Konturen noch nicht absehbaren konkreten Gefahr verlegt werde, so der BGH.

Allerdings dehne sich der zulässige polizeiliche Aktionsraum auch in zeitlicher Hinsicht desto weiter aus, je größer das sich abzeichnende Schadenspotential sei.

Ein mehrjähriger Zeitraum komme deshalb bei terroristischen Straftaten, die hochrangiges Rechtsgüter bedrohten, durchaus in Betracht.

Je ranghöher das Schutzgut und je größer und folgenschwerer der drohende Schaden sei, desto geringere Anforderungen seien von Verfassungs wegen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen.

Da das OLG hinsichtlich dieser Maßstäbe von einer zu hohen Eingriffsschwelle ausgegangen sei, sei der Beschluss aufzuheben gewesen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Nach der Entscheidung des BVerfG zum BKAG kam es 2018 und 2019 zu einer Welle an Änderungen der Polizei- und Verfassungsschutzgesetze, bei denen neue Eingriffsmöglichkeiten im Gefahrenvorfeld geschaffen worden waren.

Weitere Informationen finden Sie hier.

 

 

 

 

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