KriPoZ-RR, Beitrag 02/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 197/20: Aufgabe der Senatsrechtsprechung zum Beruhen eines Urteils auf einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO

Amtlicher Leitsatz:

Auf dem Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen, weil dieses Verfahren eine gleichwertige Alternative zum Verlesen einer Urkunde ist.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Nach dem für das Revisionsvorbringen maßgeblichen Verfahrensgeschehen hatte der Vorsitzende am 13. Hauptverhandlungstag eine Anordnung zur Durchführung des Selbstleseverfahrens getroffen und entsprechende Unterlagen verteilt. Am darauffolgenden Verhandlungstag hatte der Verteidiger des Angeklagten einen Widerspruch gegen die Einführung der Vermerke erhoben. Über diesen erging bis zum Urteil keine Entscheidung.

Die Revision sieht in diesem Vorgehen einen Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision, da das für einen reversiblen Verfahrensverstoß des tatgerichtlichen Urteils erforderliche Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler (vgl. § 337 Abs. 1 StPO) bei einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO regelmäßig ausgeschlossen sei.

Dies begründete der Senat damit, dass es für ein Beruhen des Urteils auf dem Fehler nicht ausschließbar sein dürfe, dass sich der Verfahrensfehler auf die Entscheidung des Gerichts ausgewirkt habe. Im Falle des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO bedeute dies, dass bei einer alternativen Verlesung der Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO ein anderes Ergebnis des Gerichts denkbar sein müsse.

Da allerding nach der gesetzlichen Wertung das Verlesen von Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO gleichwertige Möglichkeiten zur Einführung des Urkundsbeweises in die Hauptverhandlung darstellten, sei ein Rechtsfehler bei der Frage, welches Verfahren vom Vorsitzenden gewählt werde, regelmäßig nicht zu erwarten.

Beide Verfahren gewährleisteten die Einführung desselben Beweisinhalts in die Hauptverhandlung und beide Verfahren böten in gleichem Maße die Möglichkeit der Mitwirkung für die Verfahrensbeteiligten.

Lediglich in Ausnahmefällen sei ein Verfahrensverstoß bei Vorziehung der einen Variante gegenüber der anderen denkbar, beispielsweise bei Unfähigkeit des Angeklagten zu lesen, sodass ein Urteil regelmäßig nicht auf einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO beruhe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Damit rückt der Senat von seiner bisherigen Rechtsprechung ab, die einen Verstoß gegen die Bescheidungspflicht aus § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO als reversibel ansah und ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler nicht von vornherein ausschloss (Beschl. v. 28.08.2012 – 5 StR 251/12).

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 50/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 03.09.2019 – 3 StR 291/19: Einführung von DNA-Gutachten im Selbstleseverfahren

Leitsatz der Redaktion:

Liegt kein Einverständnis des Angeklagten vor, kann ein von einem nicht allgemein vereidigten Sachverständigen erstelltes DNA-Gutachten, nicht im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingebracht werden.

Sachverhalt:

Das LG Wuppertal hat den Angeklagten wegen mehreren Wohnungseinbruchdiebstählen verurteilt.

Während der Hauptverhandlung hatte der Vorsitzende das Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO unter anderem auch für acht DNA-Gutachten angeordnet. Die Gutachten waren von privaten und nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO vereidigten Sachverständigen erstellt worden und hatten maßgeblich zur Verurteilung durch das LG beigetragen.

Ein ausdrückliches Einverständnis hatten weder der Angeklagte noch sein Verteidiger erklärt. Ein Widerspruch gegen die Verlesung war ebenfalls nicht erhoben worden.

Gegen diese Verfahrensweise hat der Angeklagte die Verfahrensrüge erhoben und eine Verletzung von § 250 StPO gerügt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH sah die Rüge als begründet an, da das LG den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 StPO) umgangen habe.

Die beiden einzig in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände – § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO und § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO – seien nicht erfüllt gewesen, sodass das Tatgericht die Sachverständigen persönlich in der Hauptverhandlung hätte befragen müssen.

Ein ausdrücklich erklärtes Einverständnis iSd § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO des Angeklagten habe nicht vorgelegen. Die Einlassung des Verteidigers, dem Selbstleseverfahren nicht entgegenzutreten, sei lediglich dahingehend zu verstehen gewesen, dass er mit den Modalitäten des Selbstleseverfahren einverstanden sei und sein Mandant die Urkunden auch als Nichtmuttersprachler lesen und verstehen könne.

Eine Aussage zum „Ob“ der Verlesung der Urkunden im Selbstleseverfahren sei hierin nicht zu sehen, so der BGH.

Auch eine konkludente oder stillschweigende Zustimmung sei nicht anzunehmen gewesen, da das Erfordernis eines Einverständnisses nie in der Verhandlung thematisiert worden sei und man daher nicht davon ausgehen dürfe, dass die Beteiligten die Tragweite ihres Schweigens realisiert hätten. Zudem hätte ein solches stillschweigendes Einverständnis auch im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung bereits bestehen müssen. Da der Vorsitzende aber erst in der Anordnung des Selbstleseverfahrens die betroffenen Urkunden benannt hatte, habe den Beteiligten die Möglichkeit gefehlt, ein Einverständnis bezogen auf die zur Verlesung bestimmten Urkunden zu erklären.

§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO sei schon deshalb nicht einschlägig, weil es sich bei den Gutachtern nicht um allgemein vereidigte Sachverständige gehandelt habe. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Norm komme nicht in Betracht, da diese als Ausnahmevorschrift zu § 250 StPO eng auszulegen sei und somit die Reputation der Gutachter keine Rolle spiele. Es komme gerade auf die im Vereidigungsverfahren geprüfte sachliche und persönliche Befähigung des Sachverständigen an, die ihn mit einer Autorität ausstatteten, welche eine Gleichstellung mit einer öffentlichen Behörde (vgl. § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO) rechtfertige. Werde das Vereidigungsverfahren nicht durchlaufen, sei daher für die Ausnahme kein Raum.

Schließlich sei eine Beanstandung gemäß § 238 Abs. 2 StPO nicht erforderlich gewesen, da nach § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO der gesamte Spruchkörper über eine Verlesung zu entscheiden habe, was die Rüge einer Verletzung des § 251 Abs. 1 StPO ohne vorherige Beanstandung ermögliche. Zum anderen hätte der Vorsitzende bei der Stützung seines Vorgehens auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO zwingendes Recht ohne eigenen Ermessenspielraum anwenden müssen. Die Rüge der Verletzung solch zwingenden Rechts sei auch ohne Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO möglich.

Damit verstoße das Vorgehen des LG gegen § 250 StPO.

Anmerkung der Redaktion:

Schon in früheren Urteilen hat der BGH klargestellt, dass die gesetzlichen Ausnahmen zu § 250 StPO eng auszulegen und nur in besonderen Fällen zu erweitern sind.

Beispiele für diese Rechtsprechung finden Sie hier und hier.

An dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber auch mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens nichts ändern wollen.

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