KriPoZ-RR, Beitrag 64/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 02.07.2020 – 4 StR 678/19: Schutzlose Lage in § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB ist nach obj. Maßstäben zu bestimmen

Amtliche Leitsätze:

  1. Der Begriff der schutzlosen Lage ist rein objektiv zu bestimmen; einer subjektiven Zwangswirkung der Schutzlosigkeit auf das Tatopfer bedarf es nicht.

  2. Zum Begriff des „Ausnutzens“ im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Halle hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, in einem davon in Tateinheit mit sexuellem Übergriff und in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte im April 2018 das ihm bekannte sechs Jahre alte Tatopfer unter einem Vorwand in eine verlassene Fabrikhalle gelockt, ihr dort Hose und Unterhose ausgezogen und im Intimbereich berührt. Nachdem das Mädchen angefangen hatte zu weinen und den Angeklagten gebeten hatte aufzuhören, hatte er von ihr abgelassen.

Im November 2018 hatte der Angeklagte ein vor seinem Haus wartendes achtjähriges Mädchen entdeckt. Er hatte das Kind daraufhin hochgehoben und den Mund zugehalten. Im Anschluss hatte er das Mädchen unter Todesdrohungen zu einer verlassenen Ruine geführt. Wiederum hatte er dann Hose und Unterhose des Kindes sowie seine eigene ausgezogen und das Kind im Intimbereich geleckt. Danach hatte das Mädchen ihm einen Kuss geben sollen. Nach dessen Weigerung hatte der Beschuldigte das Kind geküsst und war mit seiner Zunge in ihren Mund eingedrungen. Danach hatte er das Mädchen auf ihre Bitte hin gehen lassen.

Die erste Tat ist vom LG als sexueller Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff im Sinne der § 176 Abs. 1 und § 177 Abs. 1 StGB abgeurteilt worden. Eine Verurteilung wegen § 177 Abs. 5 Nr. 3 ist nicht erfolgt, da es an einer schutzlosen Lage und auf Seiten des Opfers an der Kenntnis der schutzlosen Lage fehle.

Die zweite Tat ist vom LG als sexueller Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung im Sinne der § 176 Abs. 1, § 177 Abs. 1 und Abs. 5 Nr. 2 StGB abgeurteilt worden. Wiederum hat es dem LG für eine Verurteilung nach der Variante des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB an einer schutzlosen Lage und einer darauf beruhenden Willensbeugung des Opfers gefehlt.

Hiergegen wendete sich die Revision.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil zuungunsten des Angeklagten auf, da das LG von einem zu engen Verständnis der schutzlosen Lage i.S.d. § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB ausgegangen sei.

Die Vorschrift ist durch das 50. Gesetz zur Änderung des StGB – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung am 4. November 2016 eingeführt worden. Inhaltlich entspreche das Tatbestandsmerkmal des Ausnutzens einer schutzlosen Lage zwar dem § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F., dennoch lasse sich die hierzu ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung nicht auf den neuen Tatbestand übertragen, so der BGH.

Ursprünglich sei auch nach der Rechtsprechung des BGH die Schutzlosigkeit einer Lage rein objektiv zu bestimmen und zu bejahen gewesen, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Tatopfers in einem solchen Maße verringert seien, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben sei. Dies sei dann der Fall, wenn sich das Opfer dem Täter alleine gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen könne.

Da nach der alten Gesetzesfassung jedoch für alle Tatbestandsalternativen zusätzlich eine nötigende Einwirkung des Täters gefordert worden war, ging die Rechtsprechung zu einer einschränkenden subjektivierten Auslegung über und verlangte von da an, dass das Tatopfer die Schutzlosigkeit der Lage erkannt und gerade deshalb auf ihm grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet habe.

Diese einschränkende Auslegung des Merkmals sei nun für die neue Gesetzesfassung aus mehreren Gründen nicht zu übernehmen, so der Senat.

Zum einen setzte der neu konzipierte § 177 Abs. 5 StGB eine nötigende Einwirkung des Täters nicht mehr voraus. Mit der Gesetzesreform 2016 habe der Gesetzgeber einen Wechsel der Schutzrichtung erreichen wollen. Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit sei nicht mehr länger die Beugung des Opferwillens im Sinne einer Nötigung, sondern die Missachtung des erkennbar entgegenstehenden Willens des Opfers. Damit könne eine etwaige einschränkende subjektivierende Auslegung des Merkmals des Ausnutzens einer schutzlosen Lage nicht mehr mit dem Erfordernis einer nötigenden Einwirkung begründet werden.

Zum anderen seien auch die Ansichten in der Literatur, die dennoch an einer subjektiven Zwangswirkung beim Opfer festhielten, nicht mit dem Wortlaut oder den Gesetzesmaterialien vereinbar. Anderslautende Hinweise in den Gesetzesmaterialien seien widersprüchlich und nicht mit dem eigentlichen Zweck der Gesetzesänderung zu vereinbaren, so der BGH.

Auch die Systematik spreche gegen eine einschränke Auslegung, da ansonsten die für alle sexuellen Übergriffe in § 177 Abs. 1 und 2 StGB geschaffene Qualifikation des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB nicht auf die Grundtatbestände des § 177 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 StGB angewendet werden könne, da in diesen Fällen gerade kein entgegenstehender Wille beim Opfer gebildet werden könne.

Das Argument, dass in Fällen, in denen ein Kind das Tatopfer ist, bei einer rein objektiven Beurteilung regelmäßig eine schutzlose Lage anzunehmen sei und so der Tatbestand mit denen der §§ 176, 176a StGB verschwimmen würden, ließ der Senat nicht gelten. Schließlich schützten die Vorschriften gänzlich unterschiedliche Rechtsgüter, was eine Abgrenzung der Anwendungsfelder nicht erforderlich mache.

Schließlich sprächen aus Sinn und Zweck der Gesetzesreform für eine rein objektive Bestimmung der schutzlosen Lage, da nur so der umfassende Schutz der sexuellen Selbstbestimmung erreicht werden könne, den der Gesetzgeber gewollt habe.

Demnach sei im Ergebnis allein die objektive Schutzlosigkeit des Opfers genügend. Diese sei zu bejahen, wenn nach zusammenfassender Bewertung die Möglichkeiten des Täters, mit Gewalt auf das Opfer einzuwirken, größer sind als die Möglichkeiten des Tatopfers, sich solchen Einwirkungen des Täters mit Erfolg zu entziehen, ihnen erfolgreich körperlichen Widerstand entgegenzusetzen oder die Hilfe Dritter zu erlangen. Eine gänzliche Beseitigung jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten sei ebenso wenig Voraussetzung wie die Herbeiführung der schutzlosen Lage durch den Täter persönlich.

Erforderlich sei eine Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischen äußeren Umstände und persönlichen Voraussetzungen von Täter und Opfer im jeweiligen Einzelfall.

 

Anmerkung der Redaktion:

Informationen zum Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 58/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

KG Berlin, Beschl. v. 27.07.2020 – 4 Ss 58/20: Strafbarkeit des sog. Stealthing

Amtlicher Leitsatz:

Das sog. Stealthing erfüllt jedenfalls dann den Tatbestand des sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB, wenn der Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf des ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in den Körper des bzw. der Geschädigten ejakuliert.

Sachverhalt:

Das AG Tiergarten hat den Angeklagten wegen sexuellen Übergriffs verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte zunächst einvernehmlichen vaginalen Geschlechtsverkehr mit der Zeugin, nachdem diese ihm mitgeteilt hatte, nur unter Benutzung eines Kondoms mit ihm schlafen zu wollen.

Dies war zunächst vom Beschuldigten akzeptiert worden.

Bei einem Stellungswechsel hatte der Angeklagte dann jedoch heimlich und von der Zeugin unbemerkt das Kondom von seinem Glied abgezogen und danach ungeschützten Geschlechtsverkehr mit ihr vollzogen an dessen Ende er in die Vagina des Opfers ejakuliert hatte.

Entscheidung des KG Berlin:

Das KG bestätigte die Verurteilung wegen sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB.

Der Schutzzweck des § 177 Abs. 1 StGB erlaube es beiden Sexualpartnern nicht nur über das „ob“ der sexuellen Aktivitäten zu entscheiden, sondern auch über die Art und Weise, sodass letztlich ein konsensuales Verhalten beider Sexualpartner vom Gesetz nach dessen Reform im Jahr 2016 gefordert werde.

Aus dem Verhalten der Zeugin sei für den Angeklagten klar erkennbar hervorgegangen, dass sie mit dem Vollzug des Geschlechtsverkehrs nur unter Verwendung eines Kondoms einverstanden gewesen sei. Insbesondere sei dies dadurch unmissverständlich gewesen, da sie den Versuchen des Angeklagten, ungeschützt in sie einzudringen eindeutig widersprochen und diese blockiert hatte.

Das zunächst vorliegende Einverständnis habe auch nicht nach Entfernung des Kondoms fortgewirkt. Es sei gerade nicht nur auf die Penetration als solche gerichtet gewesen, sondern auf die bestimmte sexuelle Handlung des vaginalen Geschlechtsverkehrs mit Kondom. Der Geschlechtsverkehr ohne Kondom sei demnach eine neue sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB gewesen und nicht bloß eine Begleiterscheinung desselben Geschlechtsverkehrs.

Dabei sei der Streit, ob schon das Eindringen ohne Kondom einen sexuellen Übergriff darstellen könne, in diesem Fall nicht zu entscheiden gewesen, da zumindest die ungeschützte Ejakulation des Täters in die Vagina des Opfers eine gänzlich neue und von ihr nicht gewollte sexuelle Handlung darstelle, da sie die Prägung und Intimität des geschlechtlichen Verkehrs komplett verändere.

Auch das Argument, dass im Moment des Kondomabstreifens der entgegenstehende Wille des Opfers nicht erkennbar gewesen sei und auch der früher geäußerte Wille nicht fortwirke, da dies zu einer unzulässigen Gesamtbetrachtung führen würde, ließ das KG nicht gelten. Eine solche Ansicht würde dem Rechtsgutträger aufbürden bei jeder neuen sexuellen Handlung einen etwaigen entgegenstehenden Willen äußern zu müssen, was es ihm gerade vor dem Hintergrund des unbemerkten und sehr schnellen Wechsels der sexuellen Handlung beim Stealthing nahezu unmöglich machen würde, seine Bestimmungsmacht über die eigenen Rechtsgüter wahrzunehmen.

Abschließend wies das KG darauf hin, dass zwar tatbestandlich auch die Voraussetzungen der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB vorgelegen hätten, es von ihm jedoch hinzunehmen sei, dass das AG diese Strafzumessungsregel als nicht erfüllt angesehen hat.

 

Anmerkung der Redaktion:

§ 177 StGB ist durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz reformiert worden, wobei das Konsensprinzip eingeführt worden war. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

 

 

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