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KriPoZ-RR, Beitrag 67/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 31.08.2020 – StB 23/20: Beurteilungsspielraum bei der Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers

Amtlicher Leitsatz:

Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es kann die Beurteilung des Vorsitzenden, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung nicht erfordert, nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält.

Sachverhalt:

Das OLG Dresden führt gegen den Angeklagten ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und zur Sachbeschädigung, in einem Fall in Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung.

Er soll als Mitglied einer rechtsextremistischen Vereinigung an einem Sprengstoffanschlag mitgewirkt und identitätsstiftende Fotografien unter Abbildung eines Hakenkreuzes und des „Hitlergrußes“ angefertigt sowie rassistische und fremdenfeindliche Graffitiparolen gesprüht haben.

Der Ermittlungsrichter am OLG hatte dem Angeklagten einen Rechtsanwalt als Verteidiger bestellt. Knapp zwei Jahre später hatte der Angeklagte die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers beantragt, da aufgrund des Umfangs und der Komplexität des Prozessstoffs nur bei Arbeitsteilung zweier Verteidiger eine sachgerechte Verteidigung möglich sei. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Senats beim OLG abgelehnt, wogegen sich die Beschwerde des Beschuldigten zum BGH richtete.

Entscheidung des BGH:

Der BGH wies die zulässige sofortige Beschwerde des Angeklagten als unbegründet zurück.

§ 144 Abs. 1 StPO erlaube in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten bis zu zwei zusätzliche Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich sei. Diese, vom Willen des Beschuldigten unabhängige, Möglichkeit fordere also die Notwendigkeit der Bestellung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung. Für die Auslegung der Vorschrift könne auf die frühere Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers sei demnach nur in begrenzten Ausnahmefällen möglich, wenn ein unabweisbares Bedürfnis für eine solche bestehe, um eine sachgerechte Verteidigung des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten.

Dies sei immer dann anzunehmen, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstrecke und sicherzustellen sei, dass auch bei Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden könne oder der Verfahrensstoff derart umfangreich sei, dass er nur im Zusammenwirken zweiter Verteidiger beherrscht werden könne.

Zwar trete bei der sofortigen Beschwerde das Beschwerdegericht eigentlich an die Stelle des Erstgerichts und nehme eine eigene Ermessensentscheidung vor. Bei der Entscheidung über die Beiordnung eines weiteren Verteidigers stehe dem Vorsitzenden des Tatgerichts jedoch ein Beurteilungsspielraum für die oben genannten Voraussetzungen zu. Das Beschwerdegericht könne demnach nur prüfen, ob der Vorsitzende sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.

Dies folge daraus, dass dem Vorsitzenden des Erstgerichts ein solcher nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum schon nach der alten Rechtslage zugestanden habe. Für eine abweichende Bewertung nach der Reform der Vorschriften zur notwendigen Verteidigung bestehe indes kein Anlass, so der BGH.

Die Gesetzesmaterialien böten ebenso wenig Anlass dafür, wie der Zweck des Gesetzes. Dieser sei es dem Vorsitzenden in seiner Funktion als Leiter der Hauptverhandlung, die Möglichkeit zu bieten, einen oder mehrere weitere Pflichtverteidiger beizuordnen, um die Rechte des Angeklagten auf eine sachgerechte Verhandlung und ein Urteil innerhalb angemessener Frist (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6. Abs. 1 Satz 1 MRK) zu wahren. Damit könne das Beschwerdegericht nicht ohne weiteres seine eigene Beurteilung, wie die Hauptverhandlung zu gestalten sei, um dem Beschleunigungsgrundsatz zu entsprechen, an die Stelle derjenigen des Vorsitzenden setzen. Das widerspräche dem gesetzlichen Kompetenzgefüge.

Im vorliegenden Fall begegne die Entscheidung des Vorsitzenden keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da seine Entscheidungsgründe noch ausreichend dargelegt worden seien und so keine Ermessenfehler zu besorgen seien.

 

Anmerkung der Redaktion:

Das Recht der notwendigen Verteidigung wurde 2019 durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 zur Anpassung an die EU-Richtlinie 2016/800 und 2016/1919 reformiert. Weitere Informationen zum Gesetz erhalten Sie hier.

 

 

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