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Analyse über das Phänomen des Betrugs von besonderer Art in Japan – Kriminologische und dogmatische Untersuchung über die Aufgabe in der heutigen Gesellschaft

von Prof. Akihiro Onagi

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Abstract
In diesem Beitrag skizziert der Autor überblicksweise das soziale Problem des Betrugs von besonderer Art in Japan. Dieses neue Betrugsphänomen wird dabei sowohl von der kriminologischen als auch von der dogmatischen Hinsicht beleuchtet. Insbesondere die zunehmende Alterung der Bevölkerung und der Konzentration des Reichtums auf diese Gruppe der Älteren bildet den Bezugspunkt für dieses moderne Kriminalitätsfeld. Die neuere Rechtsprechung offenbart zugleich die dogmatischen Schwierigkeiten dieses Problembereiches.

In this issue the author intends to outline the overview of the social problem of special fraud in Japan. Then, this problem will be dealt with from both a criminological and a criminal-theoretical aspects. In particular, it hast the criminal case also shows the difficulty of interpretation of criminal law on this problem area. 

I. Einleitung

Den Lesern ist sicherlich bekannt, dass der weltweite Einfluss der deutschen Strafrechtswissenschaftler groß ist. Dies wird durch die Vielzahl der ausländischen Teilnehmer bei der deutschsprachigen Strafrechtslehrertagung bestätigt, denen die dortige Diskussion über Dogmatik und Gesetzgebung für ihr Heimatland wichtig erscheint. Japan ist auch eines jener Länder, die durch die deutsche Strafrechtswissenschaft nachhaltig beeinflusst sind. Der Autor hat bereits in mehreren wissenschaftlichen Beiträgen diesen Anknüpfungspunkt erläutert. Besonders wurde in seinem Beitrag „Auslegung als eine Bekämpfungsmethode Antisozialer Organisationen im Rahmen des Betrugstatbestandes in Japan“ in der Festschrift für Franz Streng im Jahre 2017 geschildert[1], dass der Schadensbegriff im japanischen Betrugstatbestand doch anders interpretiert wird als in Deutschland, trotz der sehr ähnlichen gesetzgeberischen Struktur: Hierbei wird das Interesse des Verkäufers im großen Umfang berücksichtigt, dass er – konkret gesagt – auf keinen Fall mit einem Mitglied der Antisozialen-Organisation den Kaufvertrag abschließen will. Im Ergebnis kann der Schaden bereits angenommen werden, wenn der Käufer seine Mitgliedschaft in solch einer Organisation verheimlicht hat, obwohl die Leistung voll bezahlt wird. Dies ist auch eine Methode zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, deren Bekämpfung beide Staaten vor eine unübersichtliche Aufgabe stellt und die industrialisierten Staaten am schwersten belastet.

In der vorliegenden Arbeit soll die Problematik des Betruges in Bezug auf ein besonderes Kriminalitätsphänomen interessieren, welches heutzutage gesellschaftlich, sowohl in Deutschland als auch in Japan, sehr problematisch ist: der sog. „Betrug von besonderer Art“. Hierbei handelt es sich um eine Begehungsform, in welcher der Täter das Opfer typischerweise telefonisch täuscht und das Opfer dem Täter Geld gibt. Ein typischer Fall ist der „Enkeltrick“. Jedoch sind die Begehungsformen sehr unterschiedlich und mannigfaltig. Im Folgenden wird zunächst das Phänomen des Betruges, dann die neuere Rechtsprechung in der japanischen Judikatur und schlussendlich die kriminalpolitische Aufgabe erläutert.

II. Kriminologische Analyse

1. Wandel der Anzahl der Betrugstaten in der Kriminalstatistik

§ 246 des Japanischen Strafgesetzbuches von 1907 regelt den Betrug wie folgt:

„Wer durch Täuschung einen anderen veranlasst, ein Vermögensstück zu übergeben, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. Das gleiche gilt auch für denjenigen, der auf die im obigen Absatz erwähnte Weise sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft.“[2]

Außerdem regelt § 246 bis Jap. StGB den sog. Computerbetrug, in dem die Datenverarbeitung manipuliert wird.

Nach der japanischen Kriminalstatistik stellen Betrugstaten etwa 3% aller erfassten Straftaten dar (ausgenommen sind Straßenverkehrsdelikte). Die folgende Grafik zeigt den Wandel aller erfassten Straftaten (ausgenommen Straßenverkehrsdelikte) und des Betruges seit dem Jahr 1989.

 

 

 

 

 

 

Grafik 1: Erfasste Fälle der gesamten Straftaten und des Betrugs (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Wenn man jedoch den Wandel des Betruges selbst genau betrachtet, fällt auf, dass die erfassten Fälle der Betrugstaten ab 2004 deutlich vermehrt auftreten und die aufgeklärten Fälle eindeutig gesunken sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Grafik 2: Erfasste und aufgeklärte Fälle des Betrugs und die Anzahl der Verdächtigen (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Insbesondere zwischen 2004 bis 2008 war die Aufklärungsquote sehr schlecht (Grafik 3). Gerade in dieser Zeit ist der „Betrug von besonderer Art“ ein großes Problem geworden und wurde vielfach in der Berichterstattung der Massenmedien aufgegriffen. Die japanische Kriminalstatistik führt dieses Kriminalphänomen seit dem Jahr 2004 gesondert auf. Somit ist ein zahlenmäßiger Vergleich zwischen dem klassischen Betrug und dem „modernen“ Betrug möglich.

 

 

 

 

 

 

 

Grafik 3: Aufklärungsquote (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Grafik 4 zeigt beide Betrugstypen im quantitativen Vergleich. Hieraus lässt sich ersehen, dass der Betrug von besonderer Art relativ zur Gesamtzahl des klassischen Betruges immer bedeutsamer geworden ist, d.h. der Anteil des betrugsstrafrechtlichen Sondertypus hat sich im Rahmen der gesamten Betrugsfälle seit etwa 10 Jahren erheblich vergrößert.

 

 

 

 

 

 

 

Grafik 4: Erfasste Fälle des Betrugs und des Betrugs von besonderer Art (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Inzwischen ist die Polizei bereit, auf diese Art von Kriminalität zu reagieren. Zu Beginn war die Anzahl der erfassten Fälle sehr hoch, aber durch die Kampagne der Massenmedien ging die Verbreitung der Kriminalität zurück und es wurden viele Fälle aufgrund erhöhter Anstrengungen der Ermittlungsbehörde aufgeklärt (Grafik 5). Trotzdem ist aufgrund der steigenden Raffinesse der Betrugsmaschen die Kluft zwischen den Zahlen der erfassten und aufgeklärten Fälle noch groß. Die Aufklärungsquote der Betrugstaten dieser Art ist im Vergleich mit dem klassischen Betrug generell deutlich niedriger. Eine Ausnahme stellen hier einzig die Jahre 2009 und 2010 dar (Grafik 6).

 

 

 

 

 

 

 

Grafik 5: Erfasste und aufgeklärte Fälle und die Anzahl der Verdächtigen (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

 

 

 

 

 

 

 

 

Grafik 6: Aufklärungsquote (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Blicken wir nun auf die Schadenssumme: Diese ist zwar in den Jahren 2009 und 2010 relativ zum vorherigen Stand gesunken, doch ist das Niveau noch immer hoch (Grafik 7). Das Opfer gibt typischerweise bei dem vor der Pforte stehenden Boten Bargeld in Höhe von 50.000 Euro ab.

 

 

 

 

 

 

 

Grafik 7: Schadenssumme in Millionen Euro (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

2. Neuere Situation um den Betrug von besonderer Art

Bis jetzt ist hier in diesem Aufsatz nur die Bezeichnung „Betrug von besonderer Art“ verwendet worden. Hinter dieser Kollektivbezeichnung verbirgt sich eine Vielzahl unterschiedlichster Betrugsmaschen. Die Japan Police Agency (nationale Polizei) definiert diesen Sonderbereich des Betruges dahingehend, dass der Täter das Opfer durch ein Telefongespräch o.Ä. täuscht und es dann etwa zu einer Überweisung auf ein bestimmtes Konto verleitet und der Täter schließlich das Geld annimmt.[3] Hierbei ist zu beachten, dass in diese Kategorie der Diebstahl mit eingerechnet wird: Der Täter tauscht die Bankkarte des Opfers mithilfe eines Tricks gegen eine schon vorbereitete falsche Karte aus. Dieser Typus des Betruges ist seit etwa drei Jahren sehr verbreitet.[4]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tabelle 1: Statistik in Bezug auf den Betrug von besonderer Art im Jahr 2018 (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Wie die Tabelle 1 zeigt, ist der sog. Enkeltrick in quantitativer Betrachtung eine bedeutsame Begehungsform. Der Rechnungsbetrug wird heutzutage hauptsächlich via Internet begangen.

3. Senioren als Opfer

Bekanntlich ist Japan, wie die westeuropäischen Staaten, ein Land mit einer überalterten Bevölkerung. Die Alterspyramide von Japan bildet eine Zwiebelform bzw. Urnenform. Die Alterung der Bevölkerung setzt sich immer weiter fort. Nach der Angabe der Bank of Japan, also der jap. Zentralbank, beläuft sich die Gesamtsumme der individuellen Vermögen auf 1500 Billionen Euro. 80 Billionen Euro davon sind Bargeld in Privathaushalten[5], 450 Billionen Euro sind Spargelder und 390 Billionen Euro sind Festgelder bei der Bank.[6] Der größte Teil dieser Finanzaktiva gehört Senioren. Nach der Angabe des Symposiums über FinTech im Sept. 2019 besitzt die Altersgruppe über 65 Jahre 50 % davon, und die Altersgruppe über 55 Jahre sogar 72 %.[7]

Entsprechend bilden die Senioren ein attraktives Ziel für Straftäter. Tabelle 2 zeigt die Statistik in Bezug auf den Betrug von besonderer Art. Als Senioren gelten hierbei alle Personen der Altersgruppe von über 65 Jahren. Bei einer näheren Betrachtung wird deutlich, wie häufig die Senioren Opfer eines solchen Betruges werden.

 

 

 

 

 

 

Tabelle 2: Opferstatistik in Bezug auf den Betrug von besonderer Art (Quelle: Japanische Kriminalstatistik 2019)

Im polizeilichen „White Paper 2020“ wird unter dem Stichwort „Alterung und polizeiliche Aktivität“ geschildert, dass die erfassten Fälle und die entstandene Schadenssumme des Betrugs von besonderer Art im hohen Bereich liegt, etwa 80 % der Opfer Senioren sind und die Bekämpfung eine dringende Aufgabe ist, während die Alterung der Bevölkerung sich weiter fortsetzt.[8] Die Polizei führt eine Aufklärungskampagne mit Betonung auf eine Verstärkung der Familienbindung durch.[9]

III. Dogmatische Analyse

Der Betrug von besonderer Art beinhaltet mehrere dogmatische Problematiken im Rahmen des Strafrechts wie z.B. Versuchsbeginn, untauglicher Versuch, Vorsatz, Teilnahme usw. Im folgenden Teil werden einige Judikate aus der neueren Rechtsprechung vorgestellt und kurz kommentiert.

1. Versuchsbeginn[10]

In der Entscheidung des Jap. Obersten Gerichtshofs vom 22.3.2018[11] wird die Frage aufgeworfen, ob mit der Tatausführung des Betrugs bereits begonnen wurde, obwohl von dem Opfer noch kein Geld gefordert wurde. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Am 8.6.2016 übergab das Opfer dem sich als Arbeitskollegen des Neffen vorstellenden Unbekannten Bargeld in Höhe von 1 Millionen Yen, also etwa 80.000 Euro, nachdem der sich als Neffe des Opfers ausgebende Unbekannte das Opfer telefonisch davon überzeugt hatte, das Bargeld für sein Geschäft dringend zu benötigen. Am nächsten Tag rief der sich als Polizist ausgebende Unbekannte das Opfer an und erzählte, dass er einen Verdächtigen am Bahnhof festgenommen habe und dieser ihm den Namen des Opfers mitgeteilt habe. Dieser falsche Polizist fragte nun das Opfer, ob es gestern betrogen worden sei. Weiter sagte er dem Opfer, dass es besser wäre, alle Gelder vom Bankkonto abzuheben, und er bat das Opfer, mit ihm zusammenzuarbeiten, um den Täter festzunehmen und die bereits bezahlte 1 Millionen Yen zurückzuholen. Am Abend wies der Unbekannte den Angeklagten an, das Bargeld vom Opfer anzunehmen und dabei die Rolle des Kommissars zu spielen. Er wurde jedoch von einem Polizisten festgenommen, noch bevor er an der Wohnung des Opfers ankam.

Das LG Nagano hat den Angeklagten wegen des versuchten Betruges mit der festgestellten Tatsache verurteilt, dass zusätzlich zur oben genannten Tatsache das Opfer geglaubt hat, in seinem Telefonat als Gesprächspartner einen echten Polizisten vor sich zu haben und seiner Anweisung Folge leisten zu müssen. In dem vorliegenden Sachverhalt hat das Opfer das Geld von dem Konto abgehoben. Demgegenüber hat das OLG Tokio das Urteil der 1. Instanz aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen, weil die Täuschungshandlung sich auf die Verfügung richten muss, hier aber die Anweisung zur Abhebung des Geldes von dem Konto nur als eine Forderung zur Vorbereitung der Verfügung zu klassifizieren sei, jedoch keine Forderung der Verfügung als solche darstelle. Folglich liege hier keine Täuschung vor und mithin auch keine gegenwärtige konkrete Gefahr eines Schadens. Der Oberste Gerichtshof hat jedoch den Freispruch der 2. Instanz aufgehoben und die Folgerungen der 1. Instanz beibehalten mit der folgenden Begründung:

„Das Erzählen von mehreren Lügen ist im Rahmen des Tatplans mit der Absicht ausgeführt worden, das Opfer zu täuschen, das Bargeld abzuheben und dies dem sich als Polizisten ausgegebenen übergeben zu lassen. Der Inhalt der Lügen ist eine elementare Voraussetzung im Hinblick auf die Übergabe des Geldes. (…) Schon in der Phase, in der diese Serienlügen dem Opfer unterbreitet worden sind, wurde mit der Ausführung des Betrugs begonnen, obwohl hier keine konkrete Forderung bzgl. der Verfügung des Geldes vorlag.“

Hier hat der Oberste Gerichtshof klargestellt, dass nicht erst in der konkreten unmittelbaren Täuschung zur Verfügung, sondern schon in der Reihe von vorbereitenden Täuschungen der Versuchsbeginn anzunehmen ist. Schon die im Telefongespräch liegende Täuschung ist danach der maßgebliche Moment des Ansetzens.

2. Strafbarkeit des Teilnehmers im Rahmen der Lockstrategie

Der Beschluss des Japanischen Obersten Gerichtshofs vom 11. Dezember 2017[12] hat die Strafbarkeit des versuchten Betruges des Teilnehmers zum Gegenstand, nachdem die Ermittlungsbehörde die sog. „Lockstrategie“ ausgeführt hat:

Der Unbekannte C versuchte den O zu täuschen, indem er diesem vorspielte, dass O aufgrund einer vertragswidrigen Handlung gegenüber A Schulden in Höhe von 1,5 Millionen Yen, also etwa 12.000 Euro, habe und diese nun zu begleichen seien. Jedoch entlarvte O diese Lüge und beriet sich mit der Polizei, die nunmehr eine Lockstrategie entwarf. In deren Umsetzung schickte O, in Absprache mit der Polizei, das leere Paket, also ohne Geld, an die angewiesene Adresse ab. Der Angeklagte X wusste nicht, dass dies Teil einer polizeilichen Lockstrategie war. Er wurde erst nach der Absendung des Pakets von C entgeltlich beauftragt, das Paket anzunehmen, in dem Bewusstsein, dass es möglicherweise eine Beute des Betrugs ist. Tatsächlich erhielt der Angeklagte X das Paket.

Das LG Fukuoka sprach den Angeklagten mit der Begründung frei, dass die Kausalität zwischen Täuschung und Verfügung (Abgabe des Pakets) nicht bestehe und ein Betrug daher nicht bejaht werden könne. Demgegenüber hat das OLG Fukuoka den Angeklagten mit der Begründung schuldig gesprochen, dass ein durchschnittlicher Mensch die hier ausgeführte Lockstrategie nicht erkennen konnte, somit dieser Umstand für die Gefährlichkeit nicht mitberücksichtigt werden dürfe und deswegen die Gefährlichkeit des Betrugs doch anzunehmen sei.

Der Oberste Gerichtshof hat die Revision des Verteidigers abgelehnt und folgendes beschlossen: „Nach der Täuschung eines Teilnehmers hat der Angeklagte aufgrund der Verschwörung mit anderen durch die Annahme des Pakets im Rahmen des gesamten Tatplans teilgenommen, ohne sich der polizeilichen Lockstrategie dabei bewusst zu sein. Unabhängig von der Ausführung der Lockstrategie ist der Angeklagte wegen der Teilnahme des versuchten Betrugs inklusive der unbeteiligten Vortat schuldig.“

Hier handelt es sich um die Strafbarkeit des versuchten Betrugs im Rahmen der sog. Lockstrategie. Noch genauer betrachtet gibt es hierbei zwei Probleme, um eine Strafbarkeit zu bejahen: die sukzessive Teilnahme und die Strafbarkeit im Rahmen der Lockstrategie. Die h.M. nimmt an, dass der Angeklagte den irrtumsbefangenen Zustand des A ausgenutzt und das Paket im Bewusstsein des möglichen Betrugs angenommen hat, so dass hier die sukzessive Teilnahme anzunehmen ist.[13] Der OGH hat dagegen das zweite Problem zwar nicht erörtert, jedoch anscheinend die Strafbarkeit als Selbstverständlichkeit angesehen.

3. Feststellung des Vorsatzes durch die Umstände

a) Entscheidung des Japanischen Obersten Gerichtshof vom12.2019[14]

Die Schwerpunkte sind hier der Vorsatz und die Verschwörung, wenn der Angeklagte das gelieferte Paket des Opfers angenommen hat und weiter an den Auftraggeber verschickt.

Der Angeklagte hat die Aufgabe, als Empfänger das Paket anzunehmen. Er wurde jedoch von G beauftragt, zum angewiesenen unbewohnten Zimmer des Wohnhauses zu gehen, dort als Bewohner das Paket anzunehmen und es zu einem anderen Ort zu transportieren. Nach Angaben des Angeklagten gibt es noch weitere Personen, welche die Pakete abholen oder vor dem Zugriff der Polizei beschützen sollen, dass das versprochene Honorar jeweils 100.000 bis 150.000 Yen (etwa 800 bis 1.200 Euro) betrage und die Gefahr bestehe, von der Polizei festgenommen zu werden. Der Angeklagte ist nach der jeweiligen Anweisung zu verschiedenen unbewohnten Zimmern der Wohnhäuser gegangen, hat jeweils unter verschiedenen Namen Pakete angenommen und diese an dem angewiesenen Ort abgelegt oder es einer weiteren Person übergeben. Das tatsächliche Honorar war jeweils nur 10.000 Yen, also etwa 80 Euro und etwa 2.000 Yen, also etwa 16 Euro, als Kostenerstattung für die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Das LG Kagoshima hat den Vorsatz des Angeklagten und eine Verschwörung angenommen, und ihn somit wegen des Betruges verurteilt. Das OLG Fukuoka verneinte dagegen die beiden Punkte und sprach den Angeklagten frei. Der Oberste Gerichtshof hat jedoch die Berufung als unbegründet verworfen und damit die Schlussfolgerung der 1. Instanz bestätigt:

„Der Angeklagte ist nach der Anweisung des G zum unbewohnten Zimmer gegangen, hat als Empfänger das zu liefernde Paket angenommen und einer weiteren Person übergeben. Zudem hat der Angeklagte an jeweils verschiedenen Orten und als jeweils verschiedene Empfänger mehrmals Pakete angenommen, jedes Mal das Honorar von 10.000 Yen erhalten und war sich folglich dessen bewusst, an einer Straftat teilzunehmen. Dies genügt um davon ausgehen zu können, dass der Angeklagte sich darüber im Klaren war, dass die Pakete im Rahmen von Straftaten geliefert wurden und er davon ausgehen konnte, dass er an einer solchen Straftat teilnimmt, unabhängig davon, ob eine solche Masche durch Massenmedien in der Gesellschaft bekannt geworden ist oder nicht. (…) Es gibt ferner keine plausiblen Argumente, die gegen eine Kenntnis über die Umstände sprechen. (…) Es ist folglich anzunehmen, dass der Angeklagte sich mit der Teilnahme an einem Betrug abgefunden hat. Es fehlt ihm entsprechend nicht am Vorsatz, und eine Verschwörung mit den Mittätern ist anzunehmen.“

b) Entscheidung des Japanischen Obersten Gerichtshof vom 14.12.2019[15]

Auch hier ist das Hauptthema der Vorsatz und die Verschwörung für eine Fallkonstellation, in welcher der Angeklagte das gelieferte Paket vom Opfer annahm und weiter an den Auftraggeber verschickte.

Der Angeklagte wurde von C gebeten, die gelieferten Pakete anzunehmen und es dem Mofa-Kurier zu übergeben. C versprach dem Angeklagten als Honorar 5.000 bis 10.000 Yen (etwa 40 bis 80 Euro) für jedes Paket. Der Angeklagte hatte aber Bedenken, ob dieses Angebot des C in Verbindung mit einer Straftat steht und befragte ihn deshalb über den Inhalt der Pakete. C erwiderte, dass es nur Zeitschriften, Unterlagen und ähnliches enthalte und die Arbeit absolut legal sei. Der Angeklagte nahm diesen Auftrag dann an, nachdem er wegen seiner angespannten finanziellen Situation Geld verdienen wollte. Er erhielt von C die Daten für das Postfach, einige Kopien von Führerscheinen als Identitätsnachweise und das Prepaid-Handy, verbunden mit der Anweisung, dieses Handy für den jeglichen Kontakt zu gebrauchen. Kurz vor der Lieferung sollte er den Anruf von der anweisenden Person bekommen, das Paket aber nicht öffnen. Der Angeklagte erhielt schließlich nach Anweisung von C und einer anderen Person zu verschiedenen Tagen jeweils ein Paket, das er der anweisenden Person meldete und 5 Min. später einem vorbeikommenden Mofa-Kurier übergab. Dafür erhielt er, wie vereinbart, einige Tage später von C das Honorar.

Das LG Chiba hat den Vorsatz des Angeklagten und eine Verschwörung angenommen und ihn somit wegen des Betrugs schuldig gesprochen. Das OLG Tokio verneinte dagegen den Vorsatz und sprach den Angeklagten frei. Der Oberste Gerichtshof verwarf schließlich die Berufung als unbegründet und bestätigte damit die Schlussfolgerung der 1. Instanz mit folgender Begründung:

„Mehrmals hat der Angeklagte im Auftrag des C das gelieferte Paket als Empfänger angenommen, dieses danach sofort an eine weitere Person übergeben und dafür ein hohes Honorar erhalten. Allein diese Tatsache rechtfertigt die Annahme, dass die Ausführung des Auftrages des C für eine Mittäterschaft ausreicht und der Angeklagte auch erkannt hat, dass die Möglichkeit besteht, an einem solchen Betrug teilzunehmen. (…) Es gibt ferner keine plausiblen Argumente, die gegen eine Kenntnis über die Teilnahme an der Straftat sprechen. (…) Dem Sachverhalt entsprechend ist festzustellen, dass der Angeklagte im Bewusstsein der möglichen Teilnahme an einer Straftat das Paket angenommen hat. Ihm fehlte es folglich nicht an einem Vorsatz, und es war eine Verschwörung mit dem Mittäter anzunehmen.“

In beiden Fällen geht es um die Feststellung des Vorsatzes. Dafür muss zumindest dolus eventualis vorliegen. Es ist jedoch schwierig, dem Mittäter einen solchen Vorsatz nachzuweisen, der nur das Paket annimmt und dessen Inhalt nicht kennt. Der OGH hat hierbei die Besonderheiten der Tatumstände betont und den Angeklagten für schuldig befunden. Dabei hat der OGH geprüft, ob es weitere Umstände gibt, die das Indiz ausschließen könnten.

4. Unterscheidung zwischen Diebstahl und Betrug

Seit etwa drei Jahren ist ein neuer Typus des Betruges von besonderer Art sehr verbreitet. Die generelle Methode läuft wie folgt ab: Der Täter gibt sich telefonisch fälschlicherweise als Polizist bzw. Bankangestellter aus und teilt dem Opfer mit, dass seine Bankkarte missbraucht wurde und er nun bei dem Opfer zu Hause vorbeikommen würde. Der falsche Polizist bzw. der falsche Bankangestellte bittet das Opfer, die Bankkarte und einen Zettel mit der notierten Geheimzahl in einen Umschlag zu stecken und zu Hause sicher aufzubewahren. Zusätzlich bittet er das Opfer, dessen persönliches Siegel mitzubringen, um den Umschlag aus Sicherheitsgründen zu versiegeln. Im Moment der kurzen Abwesenheit des Opfers tauscht der Täter diesen Umschlag mit einem äußerlich gleichen, aber inhaltlich abweichenden Umschlag aus. Das Opfer wird die Tat erst später bemerken, wenn es die neue gesicherte Karte tatsächlich gebrauchen möchte.

Bei der Entscheidung des Landgerichts Osaka vom 10.10.2019[16] geht es um die Unterscheidung zwischen Diebstahl und Betrug. Dabei hat sich der Angeklagte telefonisch als Polizist bzw. als Beamter des Finanzamts ausgegeben, bei seinen Opfern die Sorge vor einem möglichen Verlust ihrer Spargelder hervorgerufen und ihr Vertrauen gewonnen. Der von dem Angeklagten angewiesene Mittäter hat daraufhin die Wohnung der Opfer besucht und unter diesem Vorwand versucht, die Bankkarte und die vom Täter mitgebrachte Falschkarte auszutauschen. In diesem Fall war der Mittäter schon vor dem Eintritt in die Wohnung von einem Polizisten festgenommen worden.

Der Staatsanwalt hat den Angeklagten wegen des versuchten Betrugs angeklagt. Das LG Osaka hat dagegen nur den versuchten Diebstahl bejaht. Zum versuchten Betrug hat sich das LG Osaka wie folgt geäußert:

„Der Angeklagte hat das Opfer zwar getäuscht, aber diese Lüge hatte nur den Zweck, die Aufmerksamkeit des Opfers für kurze Zeit abzulenken, um die Bankkarte im Umschlag austauschen zu können. Diese Täuschung bezog sich eben nicht auf eine tatsächliche Verfügung über die Karte. (…) Die Täuschung der Opfer durch die telefonischen Gesprächspartner ist unentbehrlich für die Durchführung diverser Hausbesuche, um dort den Austausch der Karten sicherer und leichter durchführen zu können. Wenn das Opfer durch den Inhalt des Gesprächs bereits vollständig in die Irre geführt wird, existiert normalerweise kein großes Hindernis mehr zur Verwirklichung des Plans, so dass dieser wichtige Teil des Gesamtplans beendet ist. (…) Daraus lässt sich schließen, dass die Täuschung der Telefongesprächspartner bzw. das einsatzbereite Warten des Angeklagten eng verbunden mit dem vom Angeklagten geplanten Umtausch ist. Im Zeitpunkt der Täuschung der Opfer durch die Telefongesprächspartner wurde die objektive Gefährlichkeit sprunghaft erhöht, so dass bereits ab diesem Zeitpunkt der Beginn der Tatausführung zu Recht zu bejahen ist.“

Problematisch ist, ob man schon im Zeitpunkt der Täuschung durch die telefonischen Gesprächspartner die objektive Gefährlichkeit und somit den Beginn der Tatausführung bejahen kann. Die Annahme des Staatsanwalts, die Bewertung als versuchter Betrug erleichterte den Tatnachweis und damit die Annahme einer Strafbarkeit des Angeklagten (weil der Täter mit dem Telefongespräch das Opfer nachweislich getäuscht hat), ist für das Gericht inakzeptabel, wenn sich die Tat in Wahrheit als Diebstahl darstellt. Auf jeden Fall wird sich die Diskussion über den Beginn der Tatausführung des Diebstahls noch weiter fortsetzen.

IV. Kriminalpraktische Probleme 

Ein großes Problem ist, den Hintermann zu fassen und solche kriminellen Organisationen aufzulösen. In der Regel wird nur derjenige Mittäter festgenommen, der das Paket annimmt bzw. transportiert. Auch die Nutzung des Handys verstärkt die Anonymität. Der am Tatort handelnde Mittäter kennt nur die Stimme der anweisenden Person und hat keinerlei weitere Kenntnis über die dahinterstehende Organisation. Außerdem sind diese Mittäter des Öfteren Kinder oder Jugendliche.[17] In der Strafanstalt werden sie im Rahmen der Erziehung dazu bestimmt, nach der Entlassung den verursachten Schaden mit dem erhaltenen Honorar auszugleichen. Dies ist in der Realität allerdings kaum möglich, da sie selbst häufig nur wenige hundert Euro für ihre Dienste von dem Hintermann erhalten haben. Vor diesem Hintergrund sind auch sie in gewisser Weise von dem Hintermann getäuscht worden und bleiben schlussendlich auch als Opfer einer solchen kriminellen Organisation zurück.

V. Schlusswort

In diesem Beitrag habe ich versucht, den Betrug von besonderer Art als soziales Problem von erheblicher praktischer Relevanz zu beleuchten. Im Hintergrund sind hierfür mehrere Faktoren ursächlich: die Diskrepanz zwischen Reichen und Armen, der Verlust an familiärer Bindung und die zunehmende Isolierung des Einzelnen, die Anonymität der organisierten Mittäter im Rahmen des Tatablaufs mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel wie Handy usw. Und wegen dieser Anonymität der Mittäterschaft ist die Option der strafprozessualen Absprache nicht effektiv. Der Lauschangriff und die GPS-Fahndung sind theoretisch nützlich, jedoch in der Praxis fraglich und schwierig. Effektiv sind diese Maßnahmen nur, wenn die Bankangestellte die Täterperson anspricht, die sich vor dem Geldautomat befindet und per Handy telefoniert, um eine Anweisung  zur  Überweisung  zu  erhalten. Weil  dies inzwischen wirklich effektiv geworden ist, um die betrügerische Überweisung zu verhindern, ist die Paketsendung häufiger geworden. Um diese zu verhüten, ist es nun der Postangestellte, der die Kunden davor warnt, Bargeld in Päckchen zu verschicken. Außerdem wird im Fernsehen häufiger ein Werbespot gesendet, der aufzeigt, dass der Betrug von besonderer Art verbreitet ist. Die beste Präventionsmaßnahme ist jedoch eine Stärkung der familiären Bindungen.

 

[1]      Onagi, Auslegung als eine Bekämpfungsmethode Antisozialer Organisationen im Rahmen des Betrugstatbestandes in Japan, in: FS Streng, 2017, S. 717.
[2]      Nach der Übersetzung in: Saito/Nishihara, Das abgeänderte japanische Strafgesetzbuch vom 10. August 1953, Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung Nr. 65, 1954, S. 35.
[3]      https://www.npa.go.jp/safetylife/seianki31/ruikei.html (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).
[4]      Zum konkreten Fall siehe unten III. 4.
[5]      Dies wird in Japan als „Schrankspargeld“ bezeichnet.
[6]      https://www.boj.or.jp/statistics/sj/sj.htm (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).
[7]      https://lovetech-media.com/eventreport/20190920finsum08/ (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).
[8]      Auch in der Schweiz sind Telefonbetrüger als falsche Polizisten aktiv. Siehe dazu: https://www.blick.ch/news/schweiz/telefonbetrueger-wollte-an-ihr-geld-zuercher-rentnerin-serviert-falschen-polizisten-ab-id16039640.html?fbclid=IwAR0ybe9spUVSb5JN_sfzOFzcSv5Sn62fMfbjazd0OLnJap-BVp0FuR1LSsM (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).
[9]      Jap. Polizeiliches White Paper 2020, S. 1.
[10]    Zum gesamten Problem des Tatbeginns in der japanischen Judikatur in deutscher Sprache siehe: Yamanaka, Einführung in das japanische Strafrecht, 2018, S. 250.
[11]    OGH Keishu, Bd. 72, Nr. 1, S. 82. Zum englischen Text siehe: https://www.courts.go.jp/app/hanrei_en/detail?id=1574 (zuletzt abgerufen am 12.10.2020); siehe auch Yamanaka (Fn. 10), S. 351 Fn. 38.
[12]    OGH Keishu, Bd. 71, Nr. 10, S. 535. Zum englischen Text siehe: https://www.courts.go.jp/app/hanrei_en/detail?id=1556 (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).
[13]    So Tadaki, Besprechung zu wichtigen Rechtsprechungen, Jurist, Jg. 2019, Nr. 1531, S. 153.
[14]    OGH Keishu, Bd. 72, Nr. 6, S. 672.
[15]    OGH Keishu, Bd. 72, Nr. 6, S. 737.
[16]    LG Osaka, Urt. v. 10.10.2019, LEX-DB 25566238 (=Datenbank für Jap. Rechtsprechung).
[17]    Es gab ein TV-Drama „Kinderbetrüger“, das in Japan schockierend ausgestrahlt wurde.

 

 

 

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