Seit fast drei Jahren forschen wir an der Universität Leipzig im Rahmen eines vom Bundesjustizministerium geförderten Projekts zu den Herausforderungen von digitalem Hass. Im ersten Projektjahr wurden verschiedene Studien durchgeführt, um Realitäten und Folgen von Hass im Netz beschreiben zu können.[1] Auf Basis der empirischen Erkenntnisse haben die Mitglieder[2] der ExpertInnengruppe „Digitaler Hass“ ein Jahr lang über die strafrechtliche Erfassung verschiedener Phänomene von digitalem Hass diskutiert.
Gemeinsamer Ausgangspunkt der Überlegungen war zunächst die Feststellung, dass Hass im Netz in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Während im Jahr 2020 noch 18 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von digitalem Hass betroffen waren, stieg ihr Anteil im Jahr 2022 auf 24 Prozent.[3] Beobachtet wurde ferner, dass Herabwürdigungen und Bedrohungen im digitalen Raum erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Adressaten haben; Befragte berichteten von psychischen Folgen wie Depressionen oder Verfolgungsangst.[4] Zugleich löst digitaler Hass „Silencing“-Effekte aus; 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger geben an, dass sie aus Sorge vor Hassreden einen Beitrag schon einmal bewusst vorsichtig formuliert oder ganz auf eine Veröffentlichung verzichtet haben.[5] Die Verdrängung bestimmter Perspektiven und Erfahrungen aus dem Diskurs stellt eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für den freien gesellschaftlichen Meinungsaustausch dar.[6]
Während bis Anfang der 2000er-Jahre noch über eine teilweise Entkriminalisierung der §§ 185 ff. StGB nachgedacht wurde,[7] muss das besondere Unrecht von Herabwürdigungen im digitalen Raum heute die Frage aufwerfen, ob das Beleidigungsrecht grundsätzlich neu gedacht werden muss. Die ExpertInnengruppe hat diskutiert, wie das Rechtsgut der §§ 185 ff. StGB zu definieren ist, und ob insbesondere auch die Meinungsfreiheit als Schutzgut der §§ 185 ff. StGB gelten soll.[8] Einigkeit bestand darin, dass die beobachteten Silencing-Effekte jedenfalls kriminalpolitisch von Bedeutung sind und bei der Formulierung von Strafrahmen, Qualifikationstatbeständen oder zumindest auf Strafzumessungsebene (Valerius) mitgedacht werden müssen.
In einem zweiten Schritt befasste sich die ExpertInnengruppe mit verschiedenen Erscheinungsformen des digitalen Hasses. Festgestellt wurde, dass „Hate Storms“, also das massenhafte Auftreten von Herabwürdigungen, Bedrohungen oder anderen Einschüchterungsversuchen, bislang nur unzureichend durch das materielle Strafrecht abgebildet werden. Hate Storms werden von den Betroffenen als besonders invasiv erlebt; berichtet wird von Gefühlen der Überwältigung und Handlungsunfähigkeit angesichts der Vielzahl hasserfüllter Kommentare.[9] Für den öffentlichen Diskurs sind Hate Storms nicht allein wegen ihrer einschüchternden Wirkung problematisch; sie werden teilweise bewusst initiiert und koordiniert, um den Eindruck einer ablehnenden Mehrheit zu schaffen und dadurch die angegriffene Position zu delegitimieren. Angesichts der Folgen von Hate Storms sollte über einen entsprechenden Qualifikationstatbestand und über eine bessere Erfassung von Triggern – häufig bewusst verbreiteter Fake News – nachgedacht werden.
Ein weiterer Fokus der Arbeit der Expertnnengruppe lag auf der strafrechtlichen Erfassung von gruppenbezogenen Beleidigungen. Studien zeigen, dass Herabwürdigungen mit Bezug zu einer (vermeintlichen) Gruppenzugehörigkeit weit verbreitet sind;[10] gehört eine Person einer marginalisierten Gruppe an, so knüpfen Beleidigungen selbst dann regelmäßig an das Merkmal an, wenn es im sachlichen Kontext keinen Belang hat (etwa die Behinderung einer Person im Zusammenhang mit einer Debatte zur Zuwanderung). Teils wurde zwar eine Qualifikation für Menschenwürdeverletzungen bevorzugt (Kubiciel/Großmann, Beck/Nussbaum, Kusche), überwiegend bestand jedoch die Auffassung, dass gruppenbezogene Beleidigungen als Qualifikationstatbestand ausgestaltet werden sollten. Kontrovers diskutiert wurde in der ExpertInnengruppe allerdings, welche Gruppen vom Strafrecht in besonderer Weise zu schützen sind. Während teilweise an die Entindividualisierung der Person durch die Gruppenzuschreibung angeknüpft wird (siehe Rostalski/Weiss), stellen andere das Recht auf Nichtdiskriminierung in den Vordergrund und fokussieren den besonderen strafrechtlichen Schutz daher auf marginalisierte Gruppen (siehe Schmidt/Witting).
Im Kontext gruppenbezogener Herabwürdigungen wurde auch der Straftatbestand der Verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB) einer kritischen Würdigung unterzogen.[11] Überwiegend gingen die Mitglieder davon aus, dass die Vorschrift entgegen der Gesetzesbegründung keine Strafbarkeitslücke zwischen den Beleidigungsdelikten und der Volksverhetzung schließt und daher zu streichen ist (Rostalski/Weiss, Schmidt/Witting). Da eine Aufhebung der Norm kriminalpolitisch nicht erfolgversprechend erscheint, wurde ein umfangreicher Reformvorschlag erarbeitet, der nicht nur ein schlüssiges Gruppenschutzkonzept vorsieht, sondern auch die bestehenden dogmatischen Mängel beseitigt (Beck/Nussbaum).
Den letzten Schwerpunkt der Diskussionen bildeten sexualbezogene Beleidigungen. Untersuchungen machen deutlich, dass Frauen zwar nicht häufiger Opfer von digitalem Hass werden als Männer, dass sich jedoch die erlebten Inhalte unterscheiden. Sind Frauen Adressatinnen von digitalem Hass, wird regelmäßig an das Geschlecht der Betroffenen angeknüpft, Kommentare sind häufig sexistisch, frauenfeindlich oder sexualbezogen.[12] Die Fälle von Luisa Neubauer[13] oder Sawsan Chebli[14] sind prominente Beispiele für die verbreiteten Formen des sexualbezogenen digitalen Hasses gegen Frauen.
Beleidigungen mit Sexualbezug berühren neben der Ehre der Betroffenen zugleich ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Sie beinhalten in der Regel zudem ein diskriminierendes Element; sie treffen die Adressatin nicht nur als Individuum, sondern auch in ihrer Eigenschaft als Frau.[15] Ob eine Qualifikation für sexualbezogene Beleidigungen eingeführt werden sollte, oder ob das besondere Unrecht in einem Qualifikationstatbestand zum Gruppenschutz aufgeht, wurde unterschiedlich beantwortet.
Eine weitere Herausforderung stellt die Einordnung von Äußerungen dar, in denen eine Person mit sexuellen Ansinnen konfrontiert wird, oder die ein „Lob“ über die körperlichen Attribute der Betroffenen enthalten. Nach überwiegender Ansicht der ExpertInnengruppe sind solche Äußerungen strafwürdig. Die Rechtsprechung ist jedoch bislang zurückhaltend: Sexuelle Ansinnen sollen nur „im Ausnahmefall“ eine beleidigende Herabsetzung der Person enthalten, wenn „der Täter selbst das der betroffenen Person angesonnene Verhalten als verwerflich oder ehrenrührig ansieht und durch die Äußerung zum Ausdruck bringen will, dass er dem Tatopfer eine entsprechende verachtenswerte Haltung zu Unrecht unterstellt“.[16] Überzeugender erscheint demgegenüber die jüngere Rechtsprechung des LG Frankfurt a.M. im Fall Neubauer. Das Gericht hatte eine strafbare Beleidigung darin gesehen, dass „die Klägerin zum bloßen Sexualobjekt reduziert und besonders schwer in ihrer Intimsphäre und ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht verletzt“, „zum Objekt frauenverachtender und entwürdigender Anwürfe gemacht“ wurde.[17] Angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechungspraxis wurden Vorschläge entwickelt, um verbale sexuelle Belästigungen strafrechtlich zu sanktionieren (Eisele und Schmidt).
Ziel der ExpertInnengruppe war es, offen über die gesellschaftlichen und kriminalpolitischen Herausforderungen des digitalen Hasses zu diskutieren. Aus den Gesprächen sind verschiedene Positionen und Regelungsvorschläge hervorgegangen, die in den Beiträgen dieses Sonderheftes vorgestellt werden. Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen Mitgliedern der ExpertInnengruppe für den überaus inspirierenden Austausch. Die Sitzungen haben gezeigt, wie fruchtbar ein in der Sache kontroverser, aber in der Zusammenarbeit konstruktiver und kollegialer Austausch für die wissenschaftliche Debatte sein kann.
[1] Hoven, Das Phänomen „Digitaler Hass“, 2023.
[2] Prof. Dr. Susanne Beck, LL.M. (LSE) (Leibniz Universität Hannover), Prof. Dr. Martin Eifert, LL.M. (Berkeley) (Humboldt-Universität zu Berlin), Prof. Dr. Jörg Eisele(Eberhard Karls Universität Tübingen), Dr. Sven Großmann (Universität Augsburg), Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf (Julius-Maximilians-Universität Würzburg), Prof. Dr. Mathias Hong (Hochschule Kehl), Prof. Dr. Elisa Hoven (Universität Leipzig), Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel (Universität Augsburg), Prof. Dr. Carsten Kusche(Universität Mannheim), Prof. Dr. Wolfgang Mitsch (Universität Potsdam), Maximilian Nussbaum (Leibniz Universität Hannover), Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Prittwitz(Goethe-Universität Frankfurt am Main), Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski (Universität zu Köln), PD Dr. Anja Schmidt (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Brian Valerius(Universität Passau), Prof. Dr. Thomas Weigend (Universität zu Köln), Dr. Erik Weiss (Universität zu Köln), Nora Wienfort (Humboldt-Universität zu Berlin), Alexandra Witting (Universität Leipzig).
[3] Hass im Netz – Ergebnisse einer Studie von Prof. Elisa Hoven, Universität Leipzig und der Forschungsgruppe g/d/p, 2022, online abrufbar unter: https://www.jura.uni-leipzig.de/fileadmin/prins_import/dokumente/dok_20220829123452_ae0b27c451.pdf (zuletzt abgerufen am 9.3.2023).
[4] Heuser/Witting, in: Hoven, Das Phänomen „Digitaler Hass“, S. 37 (56 ff.).
[5] Hass im Netz – Ergebnisse einer Studie von Prof. Elisa Hoven, Universität Leipzig und der Forschungsgruppe g/d/p.
[6] Hoven/Witting, NJW 2021, 2397 (2398 ff.).
[7] Vgl. etwa Kubiciel/Winter, ZStW 113 (2001), 305 (314, 328 ff.); Frommel, KJ 1995, 402 (411); Bemmann, in: FS Wolff, 1998, S. 33 (38 ff.); BT-Drs. 11/1040, S. 7.
[8] Hierzu ausführlich Hoven/Witting, NJW 2021, 2397 (2398 ff.).
[9] Heuser/Witting, in: Hoven, Das Phänomen „Digitaler Hass“, S. 53.
[10] Vgl. nur Heuser/Witting, in: Hoven, Das Phänomen „Digitaler Hass“, S. 44 ff.; Geschke/Klaßen/Quent/Richter, Hass im Netz: Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie, 2019, S. 19 f., abrufbar unter: https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/_Hass_im_Netz_-_Der_schleichende_Angriff.pdf (zuletzt abgerufen am 9.3.2023).
[11] Zu § 192a StGB s. auch schon Hoven/Witting, NStZ 2022, 589
[12] Vgl. hierzu ausführlich und m.w.N. bereits Hestermann/Hoven/Autenrieth, KriPoZ 2021, 204 (208, 212). Allerdings waren die Ergebnisse bzgl. der sexualbezogenen Kommentare aufgrund der Stichprobengröße nicht signifikant.
[13] LG Frankfurt a.M., GRUR-RS 2021, 37293.
[14] „Was spricht für Sawsan? Befreundete Journalistinnen haben bislang nur den G-Punkt als Pluspunkt feststellen können in der Spezialdemokratischen Partei der alten Männer.“; LG Berlin, GRUR-RS 2021, 42791.
[15] Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175.
[16] BGH, NStZ-RR 2006, 338; OLG Hamm, NStZ-RR 2008, 108 (109); übereinstimmend Fischer, StGB, 70. Aufl. (2023), § 185 Rn. 11b.
[17] LG Frankfurt a.M., GRUR-RS 2021, 37293.