Mit Urteil vom 31. Oktober 2023 hat der 2. Senat des BVerfG die im Dezember 2021 durch „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ eingeführte Vorschrift § 362 Nr. 5 StPO für mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig erklärt. Erwartungsgemäß waren die Reaktionen auf diese Entscheidung nicht nur zustimmende. Die vorliegende Anmerkung wendet sich nicht gegen das Ergebnis, setzt sich aber − auch kritisch − mit einigen Teilen der Entscheidungsbegründung sowie den Erwiderungen der beiden abweichend votierenden Senatsmitglieder auseinander.
I. Erste Reaktionen in Medien
Von Demonstrationszügen durch die Karlsruher Innenstadt, von wütenden Protesten aufgebrachter Bürger vor dem Bundesverfassungsgericht, von gar schlimmeren Ereignissen, die Zorn und Empörung der Menschen zum Ausdruck bringen, haben die Medien nach dem 31. Oktober 2023 nicht berichtet. Das ist gut. Die ablehnenden Reaktionen auf die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde, mit der die Grundgesetzwidrigkeit des § 362 Nr. 5 StPO geltend gemacht wurde, beschränken sich auf friedliche und anständige Kundgaben einer durchaus verständlichen Enttäuschung und Verärgerung. Dass man ob der Entscheidung auch wütend und erzürnt sein dürfe, suggeriert ein nicht unwidersprochen bleibender Kommentar, den der von mir ansonsten sehr geschätzte Reinhard Müller auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 1. November 2023 zu dem Urteil abgegeben hat. Sein Text beginnt mit den Sätzen: „Wenn zwei Hamas-Terroristen in Deutschland wegen bestialischer Völkermord-Verbrechen angeklagt, aus Mangel an Beweisen aber freigesprochen werden – und dann später einer die Tat gesteht, dann kann er noch einmal vor Gericht gestellt werden, der andere nicht, auch wenn gewichtige Beweise auftauchen.“ So kurz nach dem 7. Oktober mit noch frischen Gedanken an die schrecklichen Ereignisse in unseren Köpfen sind solche Bemerkungen natürlich bestens geeignet, heftige Emotionen von Lesern, die – das unterstelle ich einmal − überwiegend nicht über profundes juristisches Fachwissen zu diesem Thema verfügen, zu wecken. Ohnehin war bereits vor dem Karlsruher Richterspruch klar, dass eine Entscheidung, wie sie jetzt ergangen ist, in der Bevölkerung und auch in der Fachwelt auf massive Ablehnung stoßen würde. Die dissenting votes der beiden Senatsmitglieder haben dieser Einstellung neue Nahrung gegeben, wie der Text in der FAZ, der Argumente aus dem Sondervotum aufgreift, bestätigt. Bevor dieses und die Begründung der Senatsmehrheit hier einer näheren Analyse unterzogen wird, sind jedoch einige berichtigende und ergänzende Erläuterungen zu den Ausführungen Reinhard Müllers notwendig.
Es stimmt nicht, dass mutmaßliche Hamas-Terroristen nach dem Freispruch eines deutschen Strafgerichts nicht mehr wegen ihrer erst später beweisbar gewordenen Verbrechen vor Gericht gestellt werden können. Das gilt nur für Verfahren vor deutschen Strafgerichten und solchen in EU-Mitgliedsstaaten. Art. 103 Abs. 3 GG steht einem erneuten Strafverfahren in Deutschland entgegen. Art. 54 SDÜ und Art. 50 GrCh erweitern diesen Strafklageverbrauch auf das Gebiet der EU. Eine Verfolgung und Verurteilung beispielsweise in Österreich oder Frankreich wäre also ebenso ausgeschlossen. Aber eine Anklage vor einem Strafgericht in Israel (oder in den Vereinigten Staaten) dürfte faktisch möglich und rechtlich zulässig sein. So weit geht die Reichweite deutscher und europäischer ne-is-in-idem-Normen nicht. Was läge in einem solchen Fall also näher, als die von deutscher Seite vollmundig bekundete Solidarität durch reale Maßnahmen zu manifestieren und ein Auslieferungsverfahren anzustoßen? Da dieses jedoch nach einem Urteil in Deutschland gemäß § 9 Nr. 1 IRG nicht mehr zulässig wäre, sollte die Auslieferung erfolgen, bevor in Deutschland eine zuständige Staatsanwaltschaft beschließt, gegen den Verdächtigen ein Strafverfahren einzuleiten. Nach einem Urteil wäre nur noch eine rechtlich fragwürdige Aktion wie im Fall Adolf Eichmann[1] oder auch im Fall Krombach/Bamberski[2] zielführend. Wieso sollte überhaupt ein Strafverfahren in Deutschland eingeleitet werden, wenn die Beweislage unsicher ist und die Menschen, die als Zeugen etwas zur Wahrheitsfindung beitragen könnten, überwiegend in Israel lebende Staatsbürger jüdischen Glaubens sind ? Muss man ihnen die vielleicht nicht ungefährliche Reise nach Deutschland zumuten, um sie vor dem Gericht ihre Aussage machen zu lassen? Soll umgekehrt das Gericht samt Staatsanwaltschaft, Verteidigung usw. sich nach Israel begeben, um dort erforderliche Tatortbesichtigen und Zeugenbefragungen vorzunehmen? Das Beispiel ist also wenig durchdacht, basiert mutmaßlich auf der Ausblendung möglicherweise (nicht) vorhandener Rechtskenntnisse und soll die Adressaten ebenfalls vom Nachdenken abhalten. Derartige Appelle an das Gerechtigkeitsempfinden sind der Aufruf zu gefühlsgeleitetem Gemurre unkundiger Zeitgenossen, für das Politiker – wie die jüngere Gesetzgebungsgeschichte zeigt – durchaus empfänglich sind. Viele bezeichnen so etwas als Populismus. Ich bevorzuge das Wort Irrationalismus. Reinhard Müllers Beispiel hält einer nüchtern vernünftigen Würdigung nicht stand. Der Text will nicht aufklären, sondern manipulieren. Die Behauptung von „Wertungswidersprüchen“, die durch die Rechtslage nach dem BVerfG-Urteil angeblich entstehen, beruht auf mangelnder Reflexion über die Unterschiede der in § 362 StPO normierten Wiederaufnahmegründe. Ein Urteil, das auf Grundlage einer vom Gericht verwerteten gefälschten Urkunde erging (§ 362 Nr. 1 StPO), ist falsch und leidet an dem Makel einer zumindest objektiv unrichtigen Würdigung der Beweislage durch das Gericht. Ein Freispruch, dessen Unrichtigkeit erst durch neue Erkenntnisse sichtbar wird, die dem Gericht seinerzeit nicht zur Verfügung standen (§ 362 Nr. 5 StPO), ist – soweit das Verfahren im Übrigen rechtskonform durchgeführt wurde − in jeder Hinsicht einwandfrei. Sähe die Strafprozessordnung eine dritte Rechtsmittelinstanz nach der Revision (§§ 331 ff StPO) − eine „Superrevision“ − vor, hätte ein Beschwerdeführer mit diesem Rechtsmittel keinen Erfolg. Von einem Wertungswiderspruch kann also keine Rede sein. Dieser könnte allenfalls im Verhältnis zu § 362 Nr. 4 StPO bestehen, siehe das Eingangsbeispiel. Um einen Wertungswiderspruch zwischen x und y zu beseitigen, gibt es aber immer drei Lösungsvarianten: Man ändert bzw. beseitigt x oder man ändert bzw. beseitigt y oder man ändert bzw. beseitigt sowohl x als auch y. Das BVerfG hat eine Beseitigung des § 362 Nr. 5 StPO bewirkt. Der angebliche Wertungswiderspruch zu § 362 Nr. 4 StPO wäre auch durch Beseitigung des § 362 Nr. 4 StPO oder durch Beseitigung von § 362 Nr. 4 StPO und § 362 Nr. 5 StPO behoben worden. Diskutabel wäre sogar eine völlige Aufhebung des gesamten § 362 StPO. Verteidiger der Entscheidung des BVerfG werden durch Attacken wie den Text in der FAZ vor keine unlösbaren Herausforderungen gestellt. Das ist bei den Sondervoten, die Richter Peter Müller und Richterin Christine Langenfeld der Senatsentscheidung hinzugefügt haben, anders.
II. Sondervoten Langenfeld/Müller
Die beiden abweichenden Richter schließen sich der Senats-Entscheidung im Ergebnis an, weil und soweit sie wie ihre Kollegen einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Verbot echter Rückwirkung sehen. Im Übrigen und vor allem in einem zentralen Punkt vermögen sie der von der Senatsmehrheit getragenen Begründung nicht zu folgen. Die von dieser behauptete Abwägungsfestigkeit des Art. 103 Abs. 3 GG stehe im Widerspruch zu der als unbedenklich akzeptierten Durchbrechung des Strafklageverbrauchs in § 362 Nr. 1 bis 4 StPO. Das klingt bestechend überzeugend. Wie sollte die Geltung dieser Normen im Schatten des Art. 103 Abs. 3 GG erklärt werden, wenn nicht als Resultat einer Abwägung gewichtiger Gegeninteressen mit den Interessen, denen der Schutz, den der Strafklageverbrauch dem Angeklagten gewährleistet, seine Anerkennung verdankt? Wäre Gesetzgebung auf Grundlage einer solchen Abwägung bei Art. 103 Abs. 3 GG unzulässig, dürfte es § 362 StPO insgesamt nicht geben. Dass die Gründe, die hinter § 362 Nr. 1 bis 4 StPO stehen, erheblich schwerer wiegen, als die, mit denen die lex Friederike von Möhlmann auf den Weg gebracht wurde, müsste untersucht werden. Evident ist es meiner Ansicht nach nicht. Langenfeld und Müller wollen § 362 Nr. 1 bis 4 StPO unangetastet lassen, weil das natürlich eine Voraussetzung des von ihnen unterstützten Strebens nach einer Wiederbelebung des § 362 Nr. 5 StPO ist, die nach der Karlsruher Entscheidung wohl nur noch im Wege einer Grundgesetzänderung möglich ist (s.u. IV.). Bräche § 362 Nr. 1 bis 4 StPO weg, gäbe es auch für § 362 Nr. 5 StPO kein Fundament mehr. Dass über eine Abschaffung der Wiederaufnahmegründe § 362 Nr. 1 bis 4 StPO diskutiert werden sollte, wird gerade durch die Ausführungen im abweichenden Votum nahegelegt. § 362 Nr. 1 bis 3 StPO betreffe Fälle eines auf „schweren Verfahrensmängeln“ beruhenden Urteils. Ob man von einem „Verfahrensmangel“ überhaupt sprechen kann, wenn im Beweisverfahren nicht ein staatliches Strafverfolgungsorgan einen Fehler gemacht hat, sondern – so in den Fällen § 362 Nr. 1, 2 StPO − die Wahrheitsfindung durch Fehlverhalten eines Bürgers beeinträchtigt wurde, ist zweifelhaft. Zweifellos justiziell zu verantwortende fehlerhafte Verfahrensdurchführung liegt allein im Fall des § 362 Nr. 3 StPO vor. Zweifelhaft ist die unkonkret geltend gemacht „Schwere“ des Verfahrensmangels, wenn man sich einmal vor Augen führt, welche gravierenden Fehler bei der Urteilsfindung nach der geltenden Regelung kein Wiederaufnahmegrund sind. Die Missachtung eines − z.B. auf Verstoß gegen § 136 Abs. 1 S. 2 StPO[3] oder § 136a StPO beruhenden − Verwertungsverbotes, die dazu geführt hat, dass von zwei Mitangeklagten einer verurteilt und der andere freigesprochen wurde, ist nur ein Beispiel, dem gewiss weitere hinzugefügt werden können. Mit Blick auf § 362 Nr. 3 StPO drängt sich die Frage auf, wieso eine nachgewiesene Strafvereitelung im Amt eines am Verfahren beteiligten Staatsanwalts für eine Wiederaufnahme nicht reichen soll. Wenn schon das Kriterium „schwerer Verfahrensmangel“ die Ausgestaltung der Wiederaufnahmegründe leiten soll, dann müssten nicht nur die vier Varianten des § 362 StPO, sondern auch zahlreiche nicht berücksichtigte Arten von Verfahrensfehlern auf den Prüfstand gestellt und § 362 StPO gegebenenfalls völlig neu gefasst werden.
Viele betonen die Wichtigkeit des Rechtsfriedens, der durch Art. 103 Abs. 3 GG gesichert werden soll, der aber – so die Verfassungsrichter Langenfeld und Müller – auch umgekehrt erschüttert werden könne, wenn ein vom Vorwurf einer äußerst schweren Straftat Freigesprochener trotz erdrückender Beweise straflos bleibe. Der Rechtsfrieden hat also einen janusköpfigen Charakter: in beide Richtungen scheint er Beachtlichkeit auszustrahlen, was seiner Tauglichkeit als Quelle durchschlagender Argumentation für keine der beiden entgegengesetzten Auffassungen zuträglich ist. Rechtsfriedenstörend kann je nach Ergebnis die Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens selbst sein. Stellt man sich vor, im Fall Friederike von Möhlmann wäre die Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO zugelassen, der Angeklagte jedoch in der Hauptverhandlung erneut freigesprochen worden, wären Enttäuschung und Frustration auf Seiten der Wiederaufnahme-Befürworter wahrscheinlich noch stärker, als wenn die Wiederaufnahme abgelehnt worden wäre. Zu der Störung des Rechtsfriedens derer, die mit dem rechtskräftigen Freispruch die Sache ein für allemal ruhen lassen wollen, käme noch der Ärger über einen „ungerechten“ Freispruch hinzu. Auch die Anwendung des § 359 StPO kann einen friedensstörenden Effekt haben, wenn sie einem Angeklagten zugute kommt, dessen Verurteilung evident richtig war, für dessen erneute Verurteilung im wiederaufgenommenen Verfahren aber keine tragfähige Beweislage mehr bestand. Das Argumentieren mit dem „Rechtsfrieden“ steht also ein wenig im Verdacht, nach Belieben für das jeweils gewünschte Ergebnis eingesetzt werden zu können.
III. Senatsmehrheit
Die Senatsmitglieder Langenfeld und Müller haben schon deutlich gemacht, dass die von ihren Kollegen getragene Entscheidungsbegründung an manchen Stellen berechtigte Kritik hervorruft. Einige Gedanken seien dem hier hinzugefügt.
1. Rechtssicherheit
Der Senat schreibt dem „Prinzip der Rechtssicherheit“ eine rein individualschützende Wirkrichtung zu, die einseitig den Freigesprochenen begünstigt und vor einer Verschlechterung seiner durch das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren hergestellten Rechtsposition bewahrt. Rechtssicherheit kann man aber auch als Gegenstand eines überindividuellen Interesses in dem Sinne verstehen, dass der rechtskräftige Abschluss eines Verfahrens allgemein und jedem die endgültige Beendigung der justiziellen Befassung mit dem Verfahrensgegenstand zusichert und dass sich jeder darauf verlassen kann. Deshalb könnten auch die in § 359 StPO aufgeführten Gründe für eine Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten danach hinterfragt werden, ob ihre Berücksichtigung nicht der Rechtssicherheit zuwiderläuft und es daher diese Wiederaufnahmemöglichkeit nicht geben dürfte. Wäre im Fall Friederike von Möhlmann der Angeklagte bereits in dem ersten Verfahren rechtskräftig verurteilt worden, würde eine auf § 359 Nr. 5 StPO gestützte Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten jedenfalls die Angehörigen der Getöteten in ihrem Vertrauen auf Rechtssicherheit erschüttern. „Rechtssicherheit“ ist deshalb meines Erachtens zu schwach, um die vom Senatbehauptete „Abwägungsfestigkeit“ bzw. – sofern man eine Abwägung doch zulässt – das wesentliche Überwiegen der hinter Art. 103 Abs. 3 GG stehenden Interessen allein gegenüber einer Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten zu begründen. Warum Rechtssicherheit bei § 362 Nr. 5 StPO der Wiederaufnahme entgegenstehen soll, bei § 359 Nr. 5 StPO hingegen nicht, leuchtet nicht unmittelbar ein. Es muss also einen Unterschied geben, der bewirkt, dass der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes in beiden Fällen unterschiedliches Gewicht hat. Der Senat hat im Ergebnis zu Recht auf diesen Unterschied abgestellt. Anders als in den Fällen des § 362 Nr. 5 StPO betrifft die Wiederaufnahme gemäß § 359 Nr. 5 StPO einen Beschuldigten, der auf den Schutz[4] der Rechtssicherheit verzichtet sowie auch dann, wenn nicht er, sondern die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Wiederaufnahme stellt (§ 365, 296 StPO) an diesem Schutz kein Interesse hat. Deshalb ist es hier leichter, die Hürde des entgegenstehenden Rechtssicherheitsprinzips zu überwinden.
2. Schwerwiegende Mängel des aufzuhebenden Urteils
Der Senat bemüht sich ersichtlich, einen Keil zwischen § 362 Nr. 5 StPO und § 362 Nr. 1 bis 4 StPO zu treiben und letztere gegen die selbst postulierte Abwägungsfestigkeit des Art. 103 Abs. 3 GG abzuschirmen. Der „begrenzte Schutzgehalt“ des Art. 103 Abs. 3 GG schließe es nicht aus, ein „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil“ aufzuheben. Abgesehen davon, dass über die rechtsstaatliche Inakzeptabilität der auf den in § 362 Nr. 1 bis 3 StPO benannten Mängeln beruhenden Urteile gestritten werden kann, fragt man sich, wo eigentlich der Unterschied z.B. zwischen § 362 Nr. 1 StPO und § 362 Nr. 5 StPO besteht. Dass das Urteil auf der richterlichen Würdigung einer gefälschten Urkunde beruht, ist ebenfalls eine Erkenntnis, die wie die Kenntnis von „Tatsachen und Beweismitteln“ erst nach Eintritt der Rechtskraft gewonnen wurde. Ist es weniger unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, wenn ein von den Kollegen eines angeklagten Polizeibeamten mit Methoden des § 136a Abs. 1 StPO eingeschüchterter Belastungszeuge sich dem Verfahren durch Untertauchen entzogen hat und der Angeklagte daraufhin freigesprochen wurde? Bricht dieser Zeuge Jahre später sein Schweigen, wäre das nach § 362 Nr. 5 StPO berücksichtigungsfähig. Ob das Urteil „justizförmig zustande gekommen“ ist? Wenn nein, müsste trotz jetziger Aufhebung des § 362 Nr. 5 StPO das Tor offen sein für einen neuen Anlauf zur Schaffung einer Norm, die so restriktiv gestaltet ist, dass sie nur Fälle erfasst, in denen dieselben Gründe abgebildet sind, die das Durchbrechen des Art. 103 Abs. 3 GG durch § 362 Nr. 1 bis 3 StPO nach Ansicht des BVerfG erlauben. Die Senatsmehrheit behauptet, neue Tatsachen oder Beweismittel zögen die Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit des vorausgegangenen Strafverfahrens nicht in Zweifel und begründeten daher auch keinen schwerwiegenden Mangel der ergangenen Entscheidung. Das hängt aber davon ab, wie man den Begriff „Tatsachen“ definiert. Was spricht dagegen, schwere Verstöße gegen Verfahrensrecht – Unterdrückung belastenden Beweismaterials durch die Staatsanwaltschaft – diesem Begriff zuzuordnen, wenn nicht nur das Beweismaterial, sondern auch die Ursache seiner Nichtverwendung im Verfahren erst nach dessen rechtskräftigem Abschluss bekannt werden? Sofern eine Wiederaufnahme nicht möglich ist – was nach Aufhebung des § 362 Nr. 5 StPO der Fall ist – müssen alle damit leben, dass das Urteil nicht mit „rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbaren“, nicht „justizförmig“, sondern auf Grund eines mit schwerwiegenden Mängeln behafteten Verfahrens zustande gekommen ist.
3. Erschütterung der Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens
Auch das Geständnis des Freigesprochenen ist eine Tatsache, die „neu“ ist, weil es sie während des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens noch nicht gab. Existierte § 362 Nr. 4 StPO nicht, würde das Geständnis allein im Rahmen des § 362 Nr. 5 StPO der Wiederaufnahme des Verfahrens Vorschub leisten. Da nach der Systematik der Varianten des § 362 StPO das Geständnis aber kein Fall des § 362 Nr. 5 StPO sein soll, ist die Frage nach dem Grund dafür berechtigt, dass § 362 Nr. 4 StPO mit dem Grundgesetz im Einklang steht und § 362 Nr. 5 StPO nicht. Das BVerfG erklärt die Grundgesetzkonformität des § 362 Nr. 4 StPO mit dem Zweck „ein Verhalten zu verhindern, das die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens infrage stellen würde.“ Diese Aussage ist offenbar inspiriert von dem häufig zu lesenden Satz, der Freigesprochene solle sich nicht ohne Gefahr für die eigene Freiheit seiner Tat „brüsten“ und die Geschichte seiner eigenen Straftat nicht auch noch lukrativ vermarkten können. Das ist richtig, denn es täte dem Ansehen von Recht und Staat wirklich nicht gut, wenn ein freigesprochener Mörder folgenlos mit seinem Verbrechen prahlen und damit vielleicht sogar noch Staatsanwaltschaft und Gericht verhöhnen könnte. Von der Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen wäre an dieser Stelle auch zu sprechen. Aber ein Geständnis kann auch aus echter Reue zur Befreiung von Gewissensdruck abgelegt werden. Welche „Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens“ wird dadurch infrage gestellt? Außerdem: Wenn Verfolgungsverjährung eingetreten ist, muss die Gesellschaft mit dem Geständnis des Freigesprochenen auch leben. Was der Senat zu § 362 Nr. 4 StPO ausführt, überzeugt also nur zum Teil.
4. Rückwirkung
Die Vorschrift § 362 Nr. 5 StPO würde möglicherweise nicht häufig zur Anwendung kommen. Die starke Erregung in der Debatte um die Ermöglichung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen resultiert daraus, dass es mit der Ermordung Friederike von Möhlmanns einen realen Fall gibt, der das Fehlen einer Wiederaufnahme zulassenden Vorschrift für viele als schmerzhafte Regelungslücke erscheinen lässt. Angenommen, die Senatsmehrheit hätte die Sache so gesehen, wie die beiden dissentierenden Kollegen: dann würde die Norm allein wegen der ihr immanenten Missachtung des auf Art. 20 Abs. 3 GG beruhenden Rückwirkungsverbots scheitern und könnte vom Gesetzgeber zusammen mit einer die Rückwirkung ausschließenden Übergangsregelung erneut in Kraft gesetzt werden. Auf den Fall Friederike von Möhlmann wäre die Vorschrift aber nicht anwendbar. Außerdem würde die ex nunc geltende Norm nichts daran ändern, dass dem Freigesprochenen über Jahre hinweg schweres Unrecht zugefügt wurde, für das die Staatsanwaltschaft mit ihrer rechtswidrigen Suche nach „neuen Tatsachen und Beweismitteln“ die Verantwortung trägt. Die Fortsetzung von Ermittlungen nach Eintritt der Rechtskraft betraf eine nicht „verfolgbare“ Tat (§ 152 Abs. 2 StPO), war deswegen verfahrensrechtlich unzulässig[5] und erfüllte sogar den objektiven Tatbestand des Verbrechens „Verfolgung Unschuldiger“ (§ 344 StGB)[6]. Wenn also jemand den „Rechtsfrieden“ gestört hat, sind dies die Strafverfolgungsbehörden, die jahrelang ohne gesetzliche Grundlage darauf hingearbeitet haben, dass die Gesetzgebung eine gegen das Grundgesetz verstoßende Vorschrift geschaffen hat, die vor und nach ihrer Aufhebung durch das BVerfG die Gesellschaft − jedenfalls was ihre Einstellung zu dem Thema angeht − gespalten hat.
IV. Schluss
Die Entscheidung des BVerfG ist richtig. Sie ist auch deswegen zu begrüßen, weil sie ein nicht unbeträchtliches Hindernis auf dem Weg zu der längst überfälligen Reform der §§ 211 ff. StGB beiseite räumt. Mit einem Vorschlag, wie ihn dazu 2014 der Deutsche Anwaltverein unterbreitete, wäre eine Regelung wie § 362 Nr. 5 StPO keineswegs zu vereinbaren. Des Weiteren hätte § 362 Nr. 5 StPO die wünschenswerte Abschaffung des § 78 Abs. 2 StGB blockiert. Auch wenn an dieser Unverjährbarkeitsklausel auf absehbare Zeit niemand rütteln wird, ist durch den Wegfall des § 362 Nr. 5 StPO eine Verengung des Regelungsspielraums rückgängig gemacht worden. Den Befürwortern der erweiterten Wiederaufnahmemöglichkeit sind nicht alle rechtlichen Türen verschlossen. Die Begründung der Entscheidung des BVerfG weist auf „Schlupflöcher“ hin, die zu einer Neufassung des § 362 Nr. 5 StPO genutzt werden könnten, der gegenüber ein verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelf schlechtere Erfolgsaussichten hätte. Der andere gangbare Weg zum Ziel der Wiedereinführung des § 362 Nr. 5 StPO führt über eine Grundgesetzänderung. Art. 103 Abs. 3 GG müsste ergänzt werden. Es ist nicht zu sehen, dass dem Art. 79 Abs. 3 GG entgegen stünde. Die gemäß Art. 79 Abs. 2 GG erforderliche Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag ist jedoch bei den gegenwärtigen Mandatsanteilen der Parteien möglicherweise nur zusammen mit der AfD, die einer weiten Wiederaufnahmemöglichkeit gewiss Sympathien entgegenbringt, zu erreichen. Man kann sich vorstellen, dass weder in der SPD noch in der CDU/CSU Abgeordnete zu finden sind, die sich auf dieses politische Minenfeld begeben möchten.
[1] Dazu Baumann, JZ 1963, 110 (117).
[2] Dazu Mitsch, in: FS Rogall, 2018, S. 575 ff.
[3] BGHSt 38, 214.
[4] Natürlich kann man darüber streiten, ob die Unabänderbarkeit einer Verurteilung dem Verurteilten gegenüber als „Schutz“ bezeichnet werden kann. Da schon das Strafverfahren selbst ungeachtet seines prognostizierbaren Ausgangs für den Beschuldigten eine Belastung ist und die Rechtskraft dem Verurteilten „Ruhe“ verspricht, wird man das wohl tun können.
[5] Dazu schon Mitsch, KriPoZ 2023, 371 (375).
[6] Voßen, in: MüKo-StGB, Bd. 5, 3. Aufl. (2019), § 344 Rn. 21.