Christian Kopetzki/Ulrich H.J. Körtner (Hrsg.): Leichenöffnung für wissenschaftliche Zwecke (Schriftenreihe Ethik und Recht in der Medizin, Bd. 14)

von Prof. Dr. Gunnar Duttge 

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2021, Verlag Österreich, ISBN: 978-3-7046-8654-1, S. 196, Euro 56,42.

Bekanntlich ist der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Toten ein „wichtiger Gradmesser“ nicht nur für die Einstellung dieser Gesellschaft zum Tod, sondern zugleich für „den Umgang der Lebenden miteinander“: „Der Tod ist abstrakt, die Toten sind jedoch konkret“. Mit dieser Eingangssentenz in der Präambel des vorliegenden Bandes, der aus einer Tagung des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin (IERM) an der Universität Wien hervorgegangen ist, treffen die Herausgeber einen zentralen Punkt: Selbstbestimmungs- und postmortales Persönlichkeitsrecht (Verfügungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz des Verstorbenen sowie seiner nahen Angehörigen) streiten, u.U. noch verstärkt durch die Glaubensfreiheit, für das grundsätzliche Tabu gegenüber Leichenöffnungen oder gar die Entnahme von Gewebeteilen oder Organen (was die Straftatbestände gegen eine „Störung der Totenruhe“ sicherstellen sollen, vgl. § 168 dStGB bzw. § 190 öStGB); für die Vornahme von Obduktionen bzw. Sektionen sprechen hingegen gewichtige gesamtgesellschaftliche Interessen, sei es etwa die Aufklärung von Straftaten (§ 87 dStPO bzw. § 128 öStPO), die frühzeitige Entdeckung von Infektionsquellen (§ 25 Abs. 4 dIfSG bzw. § 5 öEpidemieG, dazu näher M. Grimm, S. 145 ff., 168 ff.), die Qualitätssicherung ärztlichen Handelns (Behandlungsfehler?) oder generell die medizinische Forschung und akademische Lehre (Anatomie).

In diesem brisanten rechtsethischen Spannungsverhältnis nimmt Österreich traditionell – in der Worten Kopetzkis – eine „pointierte Position“ ein (S. 88): Für jene Patienten, die in öffentlichen Krankenanstalten versterben, sieht § 25 Abs. 1 KAKuG (bzw. sehen die weithin identischen Krankenanstaltengesetze der Länder) sogar eine Pflicht zur Obduktion (!) vor, wenn eine solche „sanitätspolizeilich oder strafprozessual angeordnet worden oder zur Wahrung anderer öffentlicher oder wissenschaftlicher Interessen, insbesondere wegen diagnostischer Unklarheit des Falles oder wegen eines vorgenommenen operativen Eingriffes, erforderlich ist“. Bemerkens­werterweise gilt das ganz unabhängig von dem Votum des Verstorbenen (zu Lebzeiten) oder der nächsten Angehörigen (die nach § 25 Abs. 2 KAKuG mit ihrer Zustimmung eine eigenständige Rechtfertigung schaffen können). Für den Bereich der privaten Krankenhäuser hat der österreichische Gesetzgeber mit der KAKuG-Novelle 2019 eigentlich eine Gleichstellung bewirken wollen (zuvor bestand eine strenge Zustimmungspflicht, dazu bspw. Bernat, in: Tag/Groß [Hrsg.], Der Umgang mit der Leiche, 2010, S. 133, 141 f.); im neuen § 40 Abs. 1 lit. b) finden sich jedoch allein die unmittelbar klinisch relevanten Fälle übernommen, nicht jedoch der generalklauselartige Tatbestand der sonstigen „öffentlichen oder wissenschaftlichen Interessen“ (krit. deshalb Kopetzki, S. 105: halbherzig). Zu diesen werden sämtliche hoheitlichen wie klinischen Erkenntnisinteressen gezählt, jenseits der relevanten klinischen Fakten in Bezug auf den konkreten Todesfall z.B. auch „bestimmte anatomische, histologische oder sonstige Strukturen [scil.: des menschlichen Leichnams] oder die Entdeckung von Arzneimittelwirkungen“ (Memmer, S. 80, „didaktische Interessen“ einbeziehend). Die Gesetzesmaterialien aus dem Jahr 1956 sprechen, um der erwünschten Flexibilität willen bewusst offen formulierend (Memmer, S. 77), von „zahllosen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht nur auf pathologisch-anatomischem Gebiet, sondern […] auf allen Gebieten medizinischer Wissenschaft“, durch die etwa „aus den anatomischen Gegebenheiten vielfach die für die Therapie in gleichartig gelagerten Krankheitsfällen ergebenden Maßnahmen erschlossen werden“ können (AB 164 Blg.NR 8. GP 10). Nach umstrittener, aber wohl mehrheitlicher Auffassung umfasst die Obduktion schließlich auch die – zweckgebundene – Befugnis zur Entnahme von Organ- und Gewebeteilen (Bernat, ebd.; s. auch Kopetzki, in: Burgstaller-FS, 2004, S. 601, 605 f.; am Beispiel der Prionenforschung ausf. M. Grimm, S. 135 ff.).

Diese aus deutscher Warte „paternalistisch-kollektivistische“ Haltung hat im österreichischen Recht eine sehr lange, mehrere Jahrhunderte überdauernde Tradition (ausführliches rechtshistorisches Referat von Memmer, S.  43 ff.) und wird offenbar bis heute mit Überzeugung einer (engen oder weiten) „Zustimmungslösung“ vorgezogen. Dafür lässt sich natürlich die unbestreitbare gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Obduktionen anführen, wie sie von der Wiener Pathologin Kain u.a. mit Blick auf das Verstehen und Bekämpfen des neuen Viruserregers im Kontext der fortbestehenden COVID-19-Pandemie ausbuchstabiert wird (S. 1 ff.). Aufschlussreich sind etwa die berichteten Ergebnisse einer eigenen Studie, wonach sich die klinischen Einschätzungen nach Todesfällen nur in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle durch entsprechende pathologisch-anatomische Befunde bestätigen ließen (S. 4). Gleichwohl ist die Obduktionsquote auch in Österreich in den letzten 20 Jahren deutlich gesunken, auch wenn sie mit ca. 10 % aller Verstorbenen (Erwachsenen) noch immer um ein Fünf- bis Zehnfaches höher liegt als die mutmaßliche Quote in Deutschland (S. 7, mit schädlicher Folgewirkung u.a. auch für die Todesursachenstatistik und das Erkennen/Aufklären von Kapitaldelikten).

Ein wirkmächtiger Grund hierfür ist wohl nicht zuletzt auch die Begrenztheit der Personalressourcen (S. 8); für die deutsche Situation sehen Groß/Wilhelmy zudem generelle strukturell-organisatorische Hemmnisse, u.a. „die oft unzureichende Verankerung der Obduktionsfrage in den klinischen Abläufen, eine unzureichende Einübung der Angehörigengespräche“, ein „mangelndes Interesse der Kliniker an einer Obduktion (Angst vor Kontrolle)“ und allgemein „das Fehlen einer bundeseinheitlichen Gesetzgebung (S. 11, 21). Weiterhin sei die Sektion (in Deutschland) mit einem historischen „Imageproblem“ belastet (vor allem infolge einer selektiven Rekrutierungspraxis, durch religiöse Vorbehalte, S. 13 ff.) und zeigten sich in der normativen Debatte eine Vielzahl individualethisch motivierter Vorbehalte zu Lasten der sozialethischen Argumente (S. 15 ff.). Etwas überraschend wird dabei neben der Qualitätssicherung auch das Wirtschaftlichkeitsgebot als Grund für die Unverzichtbarkeit von Sektionen angeführt, weil durch diese „der Gefahr einer im Wesentlichen ökonomisch ausgerichteten Minimalmedizin mit möglichst eingeschränkter Diagnostik und einfacher Therapie entgegengewirkt, eine angemessene Vergütung durch neu aufgedeckte Nebendiagnosen ermöglicht und Rechtssicherheit vor dem Vorwurf einer Falschkodierung erlangt werden“ könne (S. 22). Ob dies freilich zu rechtfertigen vermag, sich über berechtigte Persönlichkeitsschutz-, Integritäts- und Glaubensinteressen der Betroffenen hinzuwegzusetzen, bleibt dann doch ein wenig fraglich.

Der Züricher Theologe und Sozialethiker Michael Coors betont demgegenüber – im Rahmen einer weit ausgreifenden, die Perspektive einer kultursensiblen Ethik sowie leibphänomenologische Aspekte einbeziehenden Studie – den besonderen Eigenwert des Respekts gegenüber kulturell diversifizierter Deutungen des menschlichen Leichnams (S. 25 ff., 27): „Das Prinzip der Selbstbestimmung hat eben diese Funktion, den Individuen den Freiraum zu garantieren, sich im Rahmen ihrer jeweiligen kulturellen Prägung zu orientieren“. Infolgedessen plädiert er für ein kategorisches individuelles Verfügungsrecht des später Verstorbenen und – soweit dieses nicht in Anspruch genommen wurde – für ein Widerspruchsrecht der Angehörigen (um eine schwerwiegende „Störung des friedlichen Zusammenlebens in einer kulturell diversen Gesellschaft“ abzuwehren), das sich gegenüber wissenschaftlichen Interessen durchsetzen soll, nicht aber gegen eine „kriminologisch indizierte Öffnung des Leichnams“ (S. 38 ff.). Bemerkenswert ist daran nicht bloß die (kategorial) unterschiedliche Gewichtung der Gemeinschaftsinteressen, sondern der entschiedene Kontrapunkt, wonach es „keinen Rechtsanspruch der Forschung auf den Gebrauch toter Körper gibt“ (S. 40). Anderes soll dagegen für menschliche Leichname gelten, die ohne Existenz naher Angehöriger gleichsam „verwaist“ sind: Auch hier sei es – unabhängig von überlebenden Beziehungspersonen – „der Menschheit in der verstorbenen Person“ geschuldet, diese auch noch im Zustand des Todes „mit Respekt zu behandeln“; diese „Nachwirkung der Menschenwürde“ stehe aber einer Öffnung der Leiche für wissenschaftliche Zwecke nicht entgegen (ebd.).

Die prominente Gegenposition zu einem individualistisch-selbstbestimmungsfreundlichen Standpunkt wird – ganz im Sinne der österreichischen Rechtstradition – von Kopetzki stark gemacht (S. 85 ff.): In seiner profunden verfassungsrechtlichen, auch die Fragen des Rechtsschutzes einbeziehenden Analyse sieht er im fundamentalen Widerstreit der werthaften Belan­ge weiterhin die bessere Gründe für die bestehende „Unterordnung der postmortalen Schutzinteressen unter die öffentlichen Interessen der Forschung und der Gesundheitspflege“ – ganz im Sinne des tradierten Leitspruchs „mors auxilium vitae“ (S. 88). Denn es stünden sich keine gleichrangigen Rechtspositionen gegenüber, wenn es auf einer der beiden Abwägungsseiten „keinen originär berechtigten Grundrechtsträger“ mehr gibt: „Der Verstorbene hat keine subjektiven Rechte, sondern allenfalls Fortwirkungen antizipierter Entscheidungen zu Lebzeiten […], und die Angehörigen verfügen schon deshalb über eine schwächere Rechtsstellung, weil sie die Integrität des Verstorbenen nur subsidiär vertreten bzw. auch der Schutz ihrer eigenen Pietätsgefühle letztlich vom Verstorbenen abgeleitet ist“ (S. 119). Letzteres dürfte im Lichte des eigenständigen Schutzanspruchs der Familie und dessen Verknüpfung mit der Privatsphäre des Menschen (Art. 5 EU-Grundrechte-Charta, Art. 8 EMRK) eine Verkürzung der verfassungsrechtlichen Position darstellen; dass antizipierende Verfügungen zu Lebzeiten ihre hohe Wertigkeit nicht mit Einbuße der (juristischen oder lebensweltlichen) Handlungsfähigkeit verlieren, ist aus dem Recht zur Patientenverfügung bekannt und heute allgemein anerkannt. Im Übrigen lässt sich im Rahmen der Abwägungsentscheidung nicht ignorieren, dass die Grundrechtsbeeinträchtigung durch Vornahme der Obduktion eine unmittelbar/sichere, die Beförderung von Qualitätssicherung zugunsten der Lebenden dagegen nicht mehr als eine mittelbare/unsichere Erwartung ist. Ungeachtet seines gegenteiligen Standpunktes sieht aber auch Kopetzki durchaus „verfassungsrechtliche Problemzonen“ (S. 120 ff.), vor allem mit Blick auf die in § 25 Abs. 1 KAKuG postulierte Inpflichtnahme der Ärzte, aber auch generell mit Rücksicht auf die aktuelle Entwicklung von alternativen Methoden der klinischen Diagnostik von Leichnamen (insbesondere durch den Einsatz bildgebender Verfahren, dazu auch Kain, S. 7 f.). Eine Öffnung hin zu einer bloßen Obduktionserlaubnis soll aber das Absehen von Obduktionen nur für „Ausnahmefälle“ ermöglichen (S. 133), d.h. das generelle Rangverhältnis – selbst bei Einbeziehung der Religionsfreiheit (Art. 10 EU-Grundrechte-Charta, Art. 9 EMRK, Art. 14 öStGG) – nicht in Frage stellen (S. 122 f.).

Während Kopetzki zum Zeitpunkt der Drucklegung noch davon ausgehen durfte, dass der österreichische „Rechtsfriede zugunsten der Lebenden“ bis auf Weiteres gesichert sei (S. 85 f.), hat sich die Lage seit dem Urteil des EGMR im Fall Polat/Austria (Urteil v. 20.7.2021 – 12886/16 –, NLMR 2021, 339 ff.) deutlich verändert: Zwar ist hierin die Gesetzesbestimmung des § 25 Abs. 1 KAKuG nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden; doch verlangt der EGMR im Lichte der Art. 8, 9 EMRK eine konventionskonforme Auslegung und in der Konsequenz eine Ausein-andersetzung mit den gegenläufigen Grundrechten des Verstorbenen (und seiner Angehörigen: Informationsanspruch bzgl. Ausmaß der Obduktion und eine evtl. Organentnahme). Infolgedessen wird der österreichische Gesetzgeber wohl nicht daran vorbeikommen, die Gesetzeslage den Vorgaben aus Straßburg anzupassen (Bernat, GesR 2022, 218, 220: gesetzliche Verankerung der erweiterten Zustimmungslösung „zumindest ein Gebot der praktischen Vernunft“). Dabei besteht allerdings in weit größerem Maße ein Wertungsspielraum für Differenzierungen jenseits der häufig empfohlenen Anlehnung an das (deutsche) Transplantationsrecht, wie der interessante Rechtsvergleich von Spickhoff anhand ausgewählter Rechtsordnungen belegt (S. 177, 180 ff.; gegen eine Parallelisierung auch schon Duttge, in: Groß/Es­ser/Knoblauch/Tag [Hrsg.], Tod und toter Körper, 2007, S. 117, 122 f.). Zugleich verdeutlicht Spickhoff eindrücklich die „wenig ruhmreiche“, weil zersplitterte und im Verhältnis der Landesregelungen zueinander z.T. widersprüchliche Rechtslage (S. 185 ff., 190, 194 f.), was Anlass gäbe, über die Schaffung einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes nachzudenken. Denn es lassen sich keine landes- oder regionalspezifischen Besonderheiten vorstellen, welche die Unterschiede in den Sektions- und Bestattungsgesetzen der Länder erklären könnten. Soweit jedoch – zumindest teilweise – eine Zustimmung aus Gründen der grundrechtlichen Legitimation für unverzichtbar gehalten wird (insbesondere bei ausdrücklichem Widerspruch des hernach Verstorbenen), sollte sie mehr als eine bloß „formale“ in Gestalt von Allgemeinen Geschäftsbedingungen sein (die Spickhoff freilich aus Gründen der Praktikabilität für „tolerabel“ hält: S. 196).

Im Ganzen erweist sich der vorliegende Band als wahre Fundgrube für ein vertieftes Nachdenken über  die  rechts-grundsätzlichen Dimensionen der Leichenschau und über jene Gründe, die in Österreich eine deutlich andere Rechtskultur zutage gefördert hat als in Deutschland. Auch wenn sich beide Rechtskreise aufgrund der jüngsten EGMR-Rechtsprechung annähern, ist das Spektrum legislativen Ermessens und Differenzierens bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. So lässt es sich durchaus plausibel machen, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die anatomische Leichenschau strenger zu fassen als in solchen Fällen, in denen unmittelbar klinische Erkenntnisse für den konkreten Behandlungsfall (oder weitergehend für die klinische Praxis) gewonnen werden sollen (so z.B. das Nds. Bestattungsrecht, vgl. einerseits § 5 Abs. 3, andererseits § 7a Abs. 1). Dass die vorliegenden Beiträge in diesem Sinne nicht zwischen (im engen Sinne) klinischer sowie anatomischer Sektion differenzieren, ist aus deutscher Perspektive zunächst befremdlich; ursächlich hierfür dürfte jedoch die Generalklausel des § 25 Abs. 1 KAKuG sein, was belegt, dass der Rechtsvergleich in beiderlei Richtungen wertvolle Einsichten verspricht. Wer aus deutscher Perspektive über mögliche Regelungsoptionen zum Sektions- bzw. Obduktionsrecht nachdenkt, wird im hier besprochenen Band vielfältige Anregungen und Denkanstöße entdecken.

 

 

 

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