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Herausforderungen des § 229 StPO in Post-Pandemie-Zeiten

von Dr. Jennifer Grafe, LL.M. und Dr. Christian Soll 

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Abstract
Mit Wegfall der pandemiebedingten Ausnahmeregelungen bezüglich der Hemmung der Unterbrechungsfristen einer strafrechtlichen Hauptverhandlung nach § 229 StPO in § 10 EGStPO a.F. steht die Frage im Raum, ob der Gesetzgeber für Fälle höherer Gewalt eine allgemeingültige Regelung schaffen sollte. Unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen der Konzentrationsmaxime mit der Funktionsfähigkeit der Justiz ist ein Weg einzuschlagen, der eine Hemmung der Unterbrechungsfristen sowie eine Unterbrechung unter geringeren Voraussetzungen in Fällen höherer Gewalt vorsieht, zeitgleich eine Verkettung mehrerer Hemmungen und Unterbrechungen unterbindet.

With the omission of pandemic-related temporary exceptions (§ 10 EGStPO old version) to the periods of interruption of the main hearing of the criminal trial (§ 229 StPO), question arises whether the legislature should create a generally applicable provision for cases of force majeure. When taking into account the opposing interests of the concentration maxim and the functioning of the judiciary system, a path should be taken that provides for an inhibition of interruption periods as well as an interruption under lower requirements in cases of force majeure, while at the same time preventing a chain of several inhibitions and interruptions.

I. Einleitung

Die Folgen des Auftretens des SarsCov2-Virus veranlassten den Gesetzgeber ab dem Frühjahr 2020 zur Schaffung einer Vielzahl von – überwiegend als Übergangsvorschriften ausgestalteten – Gesetzen und Verordnungen zur (vermeintlichen) Abmilderung der Folgen der Pandemie. Während der überwiegende Anteil dieser Vorschriften bereits längerfristig wieder außer Kraft getreten ist, bestand bis zum 8. April 2023 – und damit noch überraschend lang – mit § 10 EGStPO a.F. eine Vorschrift zur Hemmung der Unterbrechungsfristen im Strafprozess, solange die Hauptverhandlung „auf Grund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann“. Selbstredend sieht sich das Gerichtswesen nicht nur möglichen weiteren pandemiebedingten Herausforderungen ausgesetzt. Neben bereits ganz tatsächlichen Hindernissen für die geordnete Durchführung eines Strafverfahrens, etwa durch Naturkatastrophen wie Erdbeben, Unwetter oder Überschwemmungen wie jene 2021 im Ahrtal haben auch die Entwicklungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine die Diskussion darüber entfacht, ob die in § 229 StPO bestehenden Möglichkeiten zur zwischenzeitlichen Unterbrechung der strafrechtlichen Hauptverhandlung den gegenwärtigen Herausforderungen genügen und inwieweit die Vorschrift reformiert werden könnte. Nicht erst seit dem Auftreten der Pandemie ist die Frage nach der Unterbrechung der Hauptverhandlung im Strafprozess ein Debattenthema.[1] Das Spannungsfeld zwischen strafprozessualen Maximen wie etwa dem Beschleunigungs- und Unmittelbarkeitsgebot und die praktische Notwendigkeit nach Unterbrechungen der Hauptverhandlungen auch angesichts zunehmender Überlastung der Justiz bestimmen die neuere Diskussion um § 229 StPO. So schlug etwa das Land Niedersachsen in einer Bundesrats-Entschließung im vergangenen Jahr vor, die Hemmungstatbestände des § 229 StPO um Fälle der „höheren Gewalt“ zu ergänzen.[2] Diese erneute Gesetzgebungsinitiative sowie das Außerkrafttreten des § 10 EGStPO a.F. sollen zum Anlass genommen werden, die aktuellen Reformbestrebungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und sodann einen eigenen Vorschlag zur Reform der Vorschrift zu entwerfen.

II. Aktuelle gesetzgeberische Konzeption

Das Gesetz unterscheidet nach dem Wortlaut des § 228 StPO zwischen Aussetzung und Unterbrechung der Hauptverhandlung. Unter einer Aussetzung der Hauptverhandlung ist der Abbruch der bereits laufenden Hauptverhandlung mit der Folge des Verlustes des bereits gesammelten Prozessstoffes zu verstehen.[3] Demgegenüber handelt es sich bei einer Unterbrechung um eine zeitlich befristete Pausierung der Hauptverhandlung, in der der bisherige Prozessstoff erhalten bleibt, soweit die Fortsetzung der Hauptverhandlung innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen erfolgt.[4] Über eine (auch innerhalb der Fristen einer Unterbrechung mögliche[5]) Aussetzung und Unterbrechung entscheidet das Gericht.

Die Fristen, innerhalb derer eine Unterbrechung der Hauptverhandlung möglich ist, sind nach Wegfall des § 10 EGStPO a.F. nunmehr wieder abschließend in § 229 StPO geregelt.

Im Ausgangsfall ist nach § 229 Abs. 1 StPO eine Unterbrechung von bis zu drei Wochen möglich; hat die Hauptverhandlung davor an jeweils mindestens zehn Tagen stattgefunden, verlängert sich diese Höchstdauer nach § 229 Abs. 2 StPO auf einen Monat. Mit dieser seit 2004 geltenden Fassung hat der Gesetzgeber im Rahmen des 1. JuMOG vom 24. August 2004[6] die Unterbrechungsfristen erheblich erweitert, bis dato war im Ausgangsfall nur eine Unterbrechung von bis zu zehn Tagen möglich.

Für den Fall, dass die Hauptverhandlung bereits an zehn Tagen stattgefunden hat, besteht im Rahmen des § 229 Abs. 3 StPO die Möglichkeit der Hemmung der Fristen der Absätze 1 und 2. Ein Hemmungsgrund liegt nach § 229 Abs. 3 Nr. 1 StPO vor, wenn ein Angeklagter oder eine zur Urteilsfindung berufene Person[7] wegen Krankheit nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen kann; nach § 229 Abs. 3 Nr. 2 StPO, wenn eine zur Urteilsfindung berufene Person wegen gesetzlichen Mutterschutzes oder der Inanspruchnahme von Elternzeit am Erscheinen zur Hauptverhandlung gehindert ist. Die Hemmung über § 229 Abs. 3 StPO ist ihrerseits auf höchstens zwei Monate begrenzt, wobei die Frist nach § 229 Abs. 3 S. 2 StPO frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung abläuft. Dabei ist auch eine mehrfache Hemmung denkbar, insofern ist nur erforderlich, dass zwischen zwei Unterbrechungen an mindestens einem Tag verhandelt worden ist.[8] Notwendig ist dabei eine Verhandlung „zur Sache“, woran sich die in Rechtsprechung und Schrifttum unveränderte Kontroverse zur Recht- und Zweckmäßigkeit von so genannten „Schiebeterminen“ zur Wahrung und zum Neubeginn der Unterbrechungsfristen anschließt.[9] In der Instanzrechtsprechung wurden entsprechende Termine in einigen Fällen genutzt, um eine Sicherung des Prozessstoffs zu gewährleisten, nicht immer hielt dieses Vorgehen der höchstrichterlichen Überprüfung stand.[10] Stimmen im Schrifttum forderten in diesem Rahmen, die Anforderungen an die Sachverhandlung zu erhöhen und in diesem Rahmen den Anwendungsbereich von „Schiebeterminen“ zu verkleinern.[11] Der BGH hat diesbezüglich mittlerweile entschieden, dass ein solcher Termin, in der keine Prozesshandlungen oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen vorgenommen werden, der also nicht geeignet ist, das Verfahren einer Sachentscheidung erheblich näher zu bringen, zur Wahrung der Unterbrechungsfrist nicht genügt.[12] Gleichwohl geht er davon aus, dass auch durch eine Befassung ausschließlich mit Verfahrensfragen eine Förderung des Verfahrensstandes in der Sache erreicht werden kann,[13] solange es dem unterbrechenden Gericht nicht erkennbar nur darum geht, mit der Verfahrenshandlung die Wahrung der Unterbrechungsfrist zu ermöglichen.[14] Bei der Fristberechnung ist ferner zu berücksichtigen, dass die Fristberechnung nicht nach den §§ 42, 43 StPO erfolgt, sodass weder der Tag, an dem die Unterbrechung beschlossen wurde, noch der Tag der Wideraufnahme der Sachverhandlung in die Fristen einzurechnen sind.[15] Technische Störungen berücksichtigt nunmehr § 229 Abs. 5 StPO.[16]

Können die Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 1 bis Abs. 3 StPO nicht eingehalten werden, so hat die Hauptverhandlung – wie sich aus § 229 Abs. 4 StPO ergibt – von Neuem zu beginnen, der bis zur Unterbrechung gesammelte Verfahrensstoff geht verloren.

III. Die Unterbrechung im Spannungsfeld verfassungsrechtlicher Verfahrensgrundsätze

Dass die praktischen Gegebenheiten einer behördlichen Struktur wie etwa bei den Staatsanwaltschaften und den Strafgerichten, aber auch die persönlichen Belange der übrigen Beteiligten verlangen, dass eine Hauptverhandlung im Strafprozess gelegentlich unterbrochen werden muss und dass angesichts schon jetzt bestehender Überlastung der Justiz nicht jeder Fall einer Unterbrechung zugleich die Aussetzung und den Neubeginn des Hauptverfahrens bedeuten kann, drängt sich auf.[17] Diese praktischen Begebenheiten stehen dabei im Spannungsfeld verfassungsrechtlich garantierter Verfahrensgrundsätze. Die Bedeutung dieser Verfahrensmaximen macht eine kritische Bewertung einer Unterbrechung des Strafprozesses notwendig und verlangt eine detaillierte Betrachtung jeder Fristenverlängerung.

Insofern ist besonders herauszuheben, dass die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach der gesetzlichen Konzeption Ausnahmecharakter haben sollte: Sowohl die Konzentrationsmaxime als auch die Einheit der Hauptverhandlung, die letztlich Ausflüsse des Gebots effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG sind,[18] gebieten eine möglichst kompakte und einheitliche Durchführung des Strafverfahrens.[19] Dabei ist eine zeitnahe Gewinnung dieser Erkenntnisse vor allem deswegen zwingend, weil in einem Strafprozess nur das mündlich Erörterte Grundlage eines Strafurteils sein darf.[20] Ferner droht bei weiterem zeitlichem Voranschreiten der Hauptverhandlung nicht zuletzt auch der Verlust von Beweismitteln, so erscheinen Erinnerungslücken bei Zeugen mit zunehmendem Abstand zum Tatgeschehen naheliegend.[21] Eine solche gebündelte Hauptverhandlung ermöglicht es dem Gericht, seine richterliche Überzeugung (§ 261 StPO) aus einem besonders unmittelbaren und direkten Inbegriff der Hauptverhandlung, also aller eingeführten Beweismittel, der Einlassung und dem Auftreten von Angeklagten zu gewinnen.[22] Diese beiden Prozessmaximen nehmen vor allem die einzelnen Unterbrechungen zwischen den Verhandlungstagen in den Fokus und verlangen, dass die Pausen so kurz gehalten werden, dass das Gericht sein Wissen aus dem Gehörten und nicht aus den Protokollen vergangener Verhandlungstage schöpft.[23] Der Beschleunigungsgrundsatz aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 EMRK soll die psychischen und physischen Belastungen eines Strafprozesses für die Beteiligten, wobei insbesondere Zeugen und Angeklagte in den Blick zu nehmen sind, minimieren.[24] Diese Prozessmaxime verlangt einen umfassenden Blick auf das gesamte Strafverfahren und damit auf die Summe der einzelnen, zwischen den Verhandlungstagen erfolgten Pausen und ihre Gesamtminimierung.

Zugleich begegnet die Durchführung einer derart gebündelten Durchführung der Hauptverhandlung in vielen Fällen praktischen Hürden: Vor allem bei umfangreichen Verfahren wird es, auch angesichts einer Vielzahl von Verfahrensbeteiligten, kaum möglich sein, die Beweisaufnahme ohne zwischenzeitliche Unterbrechungen von wenigstens wenigen Tagen durchzuführen.[25] Die Möglichkeit, die Hauptverhandlung unter den Voraussetzungen des § 229 StPO zu unterbrechen, gestattet den Erhalt des bis zur Unterbrechung gesammelten Prozessstoffes, gewährleistet damit letztlich eine Entlastung der Justiz und dient der Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats.[26] Im Sinne der Verfahrensökonomie sind dabei die hohen Kosten zu berücksichtigen, die ein Neubeginn der Hauptverhandlung verursachen. Zudem ist stets zu berücksichtigen, dass ein menschenwürdiger Strafprozess auch Phasen der Regeneration und Erholung vorsehen muss, sodass eine Unterbrechung auch dem Rechtsschutz der Beteiligten dienlich sein kann.[27] Insofern muss es der Anspruch der Unterbrechungsvorschriften sein, einen möglichst gerechten Ausgleich zwischen dem Unmittelbarkeitsgrundsatz auf der einen und dem Interesse an der sinnvollen Einlegung von Verhandlungspausen, ohne zugleich den bisherigen Prozessstoff zu „verlieren“, zu schaffen.[28]

IV. Modifizierung des Regelungsinhalts von § 229 StPO durch § 10 EGStPO a.F.

Mit Beginn der Corona-Pandemie trat zu diesen Überlegungen der Gesundheitsschutz als abwägungserhebliches Rechtsgut hinzu. Da § 229 Abs. 3 Nr. 1 StPO nach dem eindeutigen Wortlaut nur bei einer tatsächlich vorliegenden Erkrankung, nicht aber bei einem Infektionsrisiko Anwendung finden kann, fehlte es an einem geeigneten Instrument, auf die bestehenden Beschränkungen des sozialen Lebens und das Infektionsrisiko auch im Strafprozess reagieren zu können. Im Zuge des „Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz und Strafverfahrensrecht“[29] wurde mit einer Neufassung des § 10 EGStPO a.F. die Möglichkeit geschaffen, den Lauf der in § 229 StPO genannten Unterbrechungsfristen für längstens zwei Monate zu hemmen, solange die Hauptverhandlung auf Grund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus nicht durchgeführt werden kann.[30] Die Vorschrift trat zum 28. März 2020 in Kraft. Zu dem bestehenden Hemmungstatbestand des § 229 Abs. 3 StPO, den der Gesetzgeber anlässlich der Corona-Pandemie für nicht ausreichend hielt,[31] stellte die Norm in mehrfacher Hinsicht eine Modifikation dar: Anders als § 229 Abs. 3 StPO war eine Hemmung unabhängig von der bisherigen Dauer der Hauptverhandlung möglich, sodass die Vorschrift auch für kürzere Hauptverhandlungen Anwendung fand.[32] Zudem war, anders als nach § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO gerade nicht erforderlich, dass eine der genannten Personengruppen selbst erkrankt[33] war, vielmehr wurde die Norm bewusst weit gefasst, um sämtliche Gründe zu erfassen, die einer ordnungsgemäßen Durchführung einer Hauptverhandlung aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen der Gerichte und Gesundheitsbehörden entgegenstehen konnten.[34] Darunter waren etwa Fälle häuslicher Quarantäne, Einschränkungen des Gerichtsbetriebs oder die Beteiligung vulnerabler Personengruppen.[35] Selbst ärztliche Empfehlungen zur Kontaktvermeidung schon in Bezug auf den Ehegatten eines Verfahrensbeteiligten können nach der Rechtsprechung genügen.[36] Insbesondere die Möglichkeit, die Hemmungsmöglichkeit unabhängig von der bisherigen Dauer der Hauptverhandlung zu implementieren, stieß in Teilen auf Kritik.[37]

In seiner ursprünglichen Fassung trat § 10 EGStPO a.F., nachdem die Geltung zunächst auf ein Jahr befristet[38] und dann noch einmal verlängert wurde[39] mit Wirkung zum 30. Juni 2022 wieder außer Kraft.

Gleichwohl sah der Gesetzgeber nach wie vor die Notwendigkeit, angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Einschränkungen durch die Corona-Pandemie eine Hemmungsmöglichkeit bei pandemiebedingten Unterbrechungssituationen zu erhalten. Im Rahmen des „Gesetz[es] zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19“[40] wurde auf Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses[41] die Hemmungsvorschrift (wieder)eingeführt, um für den Zeitraum ab Herbst 2022 bis zum Frühjahr 2023 ein Instrument für die pandemiebedingte Hemmung der Unterbrechungsfristen nutzen zu können.[42] Angesichts der im Vergleich zur Situation im Frühjahr 2020 nunmehr verkürzten Isolationszeit (zu diesem Zeitpunkt noch fünf Tage) wurde die mögliche Höchstdauer der Hemmung im Vergleich zur vorherigen Fassung jedoch auf nunmehr einen Monat reduziert.[43] Wie bereits ursprünglich vorgesehen, trat § 10 EGStPO a.F. mit Wirkung vom 8. April 2023 außer Kraft und wurde angesichts des Wegfalls auch der übrigen pandemiebedingten Beschränkungen seitdem nicht wieder diskutiert.

Zwar sah § 10 Abs. 1 S. 2 EGStPO a.F. vor, dass Beginn und Ende der Hemmung durch unanfechtbaren Beschluss festgestellt werden. Nach der Rechtsprechung des BGH trat die Hemmung jedoch ipso iure und damit unabhängig vom Vorliegen des insofern nur deklaratorischen Charakters entfaltenden Beschlusses ein.[44] Jedoch ist an den Beschluss die konstitutive Wirkung der Unanfechtbarkeit der Feststellung der Hemmung geknüpft.[45]

V. Reformbemühungen des Gesetzgebers

Bereits unter dem höchst akuten Eindruck des erstes so genannten „Corona-Lockdowns“ im Frühjahr 2020 wurde durch das Land Niedersachsen ein Gesetzesantrag zur Reform des § 229 StPO eingebracht.[46] In diesem Antrag wurde ein praktisches Bedürfnis herausgestellt, auch (weitere) Fälle höherer Gewalt als Grund für die Hemming der Unterbrechungsfristen anzuerkennen.[47] Während die Grundkonzeption der Unterbrechungsfristen also unangetastet bleiben sollte, wurde eine Erweiterung des Hemmungskatalogs des § 229 Abs. 3 StPO um Fälle höherer Gewalt angestrebt. Unter den Begriff der „höheren Gewalt“ sollten hiernach Ereignisse fallen, die „unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falls vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung – zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte“.[48] Wohl vor dem Eindruck, dass in der Sitzung des Bundesrats am 27. März 2020 die oben dargestellte Vorschrift des § 10 EGStPO a.F. beschlossen wurde, wurde der Gesetzesantrag jedoch von der Tagesordnung abgesetzt.[49]

Mit Antrag vom 24. August 2022 wurde durch das Land Niedersachsen erneut eine Reform des § 229 StPO angeschoben. Mit diesem Antrag knüpfte die niedersächsische Landesregierung ausdrücklich an ihren Antrag aus dem März 2020 an, modifizierte diesen jedoch um die Maßgabe, dass in Fällen einer Hemmung aus Gründen höherer Gewalt abweichend von der Grundkonzeption des § 229 Abs. 3 StPO eine Mindestdauer der Hauptverhandlung von 10 Tagen nicht erforderlich sein soll.[50] In der Sitzung des Bundesrates vom 7. Oktober 2022 wurde die Entschließung durch den Bundesrat angenommen und der Bundesregierung zugeleitet. Diese hat kürzlich verlauten lassen, dass vor einer Entscheidung, ob das Anliegen aufgegriffen werden soll, vorausgehende Gespräche mit den Verbänden der Richter- und Anwaltschaft geführt werden sollen.[51] Angesichts der Folgen des Klimawandels und der globalen Entwicklung scheint es angezeigt, eine allgemeine Regelung für Fälle ähnlich der Pandemiesituation zu treffen, die ein schnelles und spontanes Handeln verlangen – im Sinne der Rechtsstaatlichkeit verhilft eine solche Regelung zum einen zum schnelleren Eingreifen, zum anderen schafft es Rechtsklarheit und Reaktion ohne gesetzgeberisches Handeln abzuwarten. Eine solche Regelung jetzt auf den Weg zu bringen wäre sinnvoll und vorausschauend, fehlende Eile und gesellschaftliche Wahrnehmung werden aber voraussichtlich dazu führen, dass das Gesetzesvorhaben nicht allzu schnell Gegenstand der Bundestagsdebatten sein wird.

VI. Vorschläge zur Anpassung des § 229 StPO

Jegliche Reformüberlegung ist vor einer weiteren Beleuchtung der Zweckmäßigkeit im Lichte der betroffenen Prozessmaximen zu diskutieren. Nur eine solche Überarbeitung des § 229 StPO, die dem Ziel des Ausgleichs der Interessen an einer Sicherung des gesammelten Verfahrensstoffes mit dem Unmittelbarkeitsprinzip gerecht werden kann und zeitgleich zu keiner überlangen Verfahrensdauer führt, dürfte sich angesichts soeben dargestellten Verfahrensmaximen eignen. Rein vorsorglich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Verjährungsfristen insofern weder Instrument noch Maximum einer Begrenzung abbilden. Nach § 78c Abs. 1 Nr. 8 StGB löst jede Anberaumung einer Hauptverhandlung den Neubeginn des Fristenlaufs aus (§ 78c Abs. 3 S. 1 StGB). Selbst bei Änderung der Vorschrift dergestalt, dass nur die erstmalige Anberaumung der Hauptverhandlung den Fristenlauf neu beginnen lässt, wird die Höchstfrist der Verjährung (§ 78c Abs. 3 S. 2 StGB) dem Zwecke nicht gerecht, überlange Verfahrensdauern zu verhindern.

1. Zu den vorliegenden Gesetzesentwürfen

Betrachtet man den aktuellen niedersächsischen Gesetzesentwurf[52] näher, fällt auf, dass insbesondere die gesamte Verfahrensdauer unter Anwendung des dortigen § 229 StPO-E in vielen möglichen Fallkonstellation überlang zu werden droht. Dazu sei auf folgendes Anschauungsbeispiel verwiesen: Zur Durchführung einer Hauptverhandlung setzt der Strafrichter zwei Sitzungstage an, wobei auf den zweiten Tag nur noch eine letzte Zeugenvernehmung sowie die Schlussvorträge nebst Urteilsverkündung folgen sollen. Nach dem ersten Verhandlungstag sorgt eine Überschwemmung in der Region („höhere Gewalt“ im Sinne des Entwurfs) dafür, dass ein fortgesetztes Funktionieren der Strafrechtspflege im Gerichtsbezirk vorübergehend nicht mehr möglich ist. Nach dem eingebrachten Gesetzesentwurf wäre die Hauptverhandlung nunmehr gehemmt. Legt man die Maximaldauer der Hemmung von zwei Monaten und die Höchstdauer einer Unterbrechung von (hier) weiteren 21 Tagen zugrunde, wäre de lege ferenda also eine Unterbrechung der Hauptverhandlung von beinahe drei Monaten möglich. Von einer Einheitlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung kann in dieser Konstellation nur noch schwerlich gesprochen werden, zudem ist nicht davon auszugehen, dass in dem ersten Verhandlungstermin solch eine Fülle von Prozessstoff gesammelt werden konnte, dass eine erneute Aufnahme in einem neu begonnenen Prozess mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden wäre. Die Problematik lässt sich sogar noch weiterführen: Geht man im soeben gebildeten Fall davon aus, dass nunmehr nach Ausreizung der Unterbrechungsfrist der zweite Hauptverhandlungstermin stattfindet und wird hiernach, wider Erwarten, noch ein dritter Termin nötig, ist es möglich, dass (etwa bei einer erneuten Verschlechterung der Verhältnisse) die Sache erneut gehemmt und bis zur zeitlichen Begrenzung der Vorschrift unterbrochen wird.[53]

Hiervon ausgehend begegnet der Gesetzesentwurf der Niedersächsischen Landesregierung erheblichen Bedenken, wobei weniger der Vorschlag einer Erweiterung der Hemmungstatbestände des § 229 Abs. 3 StPO, dagegen aber der Wegfall der Mindestdauer von zehn Tagen in einer Abwägung der kollidierenden Interessen nur schwerlich zu einem gerechten Ausgleich kommen dürfte.

2. Überlegungen zu einer interessengerechten Lösung

Unbenommen dürfte den Vorschlägen zuzuerkennen sein, dass die sich ständig ändernde geopolitische Situation, Herausforderungen infolge der Erderwärmung und erneute Pandemien eine angemessene Reaktion der Gerichtsbarkeit erforderlich machen können, wozu auch die Möglichkeit einer Hemmung der strafrechtlichen Hauptverhandlung zählen muss.

a) Einführen eines Hemmungstatbestands der „höheren Gewalt“

Ausgangspunkt einer Überlegung zur Einführung des Hemmungstatbestands der „höheren Gewalt“ ist der Gesetzesentwurf aus Niedersachen aus März 2020. Dieser sah die Schaffung eines neuen Hemmungstatbestandes für „höhere Gewalt“ vor, knüpfte diesen jedoch, wie dies de lega lata auch für die bestehenden Hemmungstatbestände der Fall ist, an eine Mindestdauer der Hauptverhandlung von 10 Tagen, veränderte also die bestehenden Fristen nicht. Die enge Verbindung zwischen Hemmungsmöglichkeit und einer bestimmten Verfahrensdauer erkennt insoweit an, dass bei einer Hauptverhandlung, die bereits an mindestens 10 Tagen stattgefunden hat, ein durchaus erheblicher Verfahrensstoff gesammelt worden sein dürfte, demnach also auch im Sinne der Entlastung der Justiz ein erhebliches Interesse daran besteht, den aufgenommenem Verfahrensstoff beibehalten zu können und die Hauptverhandlung nicht von neuem beginnen zu lassen. Anders als bei Hauptverhandlungen, die vor einer längerfristigen Hemmung nur an einem oder zwei Tagen stattgefunden haben, liegt hier auf der Hand, dass das Interesse an einer Sicherung des Prozessstoffes ungleich größer einzuordnen ist und das Unmittelbarkeitsprinzip hierneben jedenfalls teilweise zurücktreten muss. Dabei darf nicht vollständig außer Acht gelassen werden, dass in den Fällen höherer Gewalt anders als bei den bisherigen Hemmungstatbeständen des § 229 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 StPO je nach Art der höheren Gewalt auch ein Verlust von Beweismitteln droht, mithin der gesammelte Verfahrensstoff der ersten zehn Tagen der Hauptverhandlung nicht zwingend gleichermaßen effizient neu eingeführt werden kann, wie es etwa bei Krankheit eines Verfahrensbeteiligten der Fall ist.

Letztlich berücksichtigt der Gesetzesentwurf aber nicht, dass bei Fällen einer höheren Gewalt die Gefahr einer „Kettenhemmung“, also die Notwendigkeit einer erneuten Hemmung der Unterbrechung nach einer zwischenzeitlich durchgeführten weiteren Verhandlung, aufgrund der hierunter zu begreifenden Sachverhaltskonstellationen ungleich größer einzuschätzen sein dürfte als dies bei den bislang geregelten Konstellationen, also Krankheit, Mutterschutz oder Elternzeit.

So hat der Verlauf der Corona-Pandemie gezeigt, dass insbesondere der wellenartige Verlauf von Krankheitsaufkommen und die hiermit verbundenen notwendigen Schutzmaßnahmen und gesetzlichen Auflagen zu einem unvorhersehbaren Entstehen und Entfallen von Hindernisgründen für die Durchführung einer strafrechtlichen Hauptverhandlung führen können. Keineswegs unrealistisch erscheint daher, dass bereits nach einem weiteren Verhandlungstermin nach Ablauf einer Hemmung nach § 229 Abs. 3 StPO-E eine erneute Hemmung eintreten könnte. Freilich verschiebt jede weitere Hemmung und die damit einhergehende Verzögerung der Sachentscheidung die Interessenabwägung zulasten des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, sodass insbesondere bei mehrfachen Hemmungen in kurzer Zeit ein Korrektiv notwendig erscheint, um den grundgesetzlich verbrieften Rechten des Angeklagten zur Wahrung zu verhelfen.

Eine Gesetzesänderung, die den Hemmungstatbestand der höheren Gewalt in § 229 Abs. 3 StPO einführt, müsste sich eines Instruments der Begrenzung der Hemmung bedienen. Zunächst könnte daran zu denken sein, die Höchstdauer (einer) Hemmung wegen höherer Gewalt, abweichend von § 229 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 StPO, bei denen eine Höchstdauer von zwei Monaten vorgesehen ist, auf einen Monat zu begrenzen. Ebenfalls möglich wäre daneben, eine absolute Höchsthemmungsdauer in die Vorschrift aufzunehmen, die im Falle einer Hemmung wegen höherer Gewalt etwa auf drei Monate festgesetzt werden könnte. Durch Schaffung einer solchen absoluten Höchsthemmung bliebe es dem Gericht möglich, auch innerhalb einer Hauptverhandlung ausgehend von den tatsächlichen Begebenheiten mehrfach von demselben Hemmungstatbestand Gebrauch zu machen. Zugleich würde hierdurch dem Gedanken Rechnung getragen, dass ab einer gewissen Gesamtunterbrechung einer Hauptverhandlung eine aus der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung getroffene Sachentscheidung nicht mehr möglich sein dürfte und damit ein Urteil gegebenenfalls zum Nachteil des Angeklagten ergeht.

b) Anpassung der Hemmungsfristen ohne Schaffung eines neuen Hemmungstatbestands

Ebenfalls diskutierbar könnte eine Anpassung der Unterbrechungsvorschrift sein, die ohne die Schaffung eines weiteren zusätzlichen Hemmungstatbestandes auskommen und zugleich eine an die gegenwärtigen Herausforderungen angepasste Reaktion auf Hindernisse für die weitere Durchführung von Hauptverhandlungsterminen darstellen könnte. Ansatz ist die Flexibilisierung der längeren Unterbrechungsdauer von bis zu einem Monat (§ 229 Abs. 2 StPO). Nach der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung ist eine Unterbrechung von bis zu einem Monat nur zulässig, wenn die Hauptverhandlung vor der Unterbrechung an jeweils 10 Tagen stattgefunden hat. Noch verschärft im Kontrast zu § 229 Abs. 3 StPO, der ebenfalls eine Mindestdauer der Hauptverhandlung von zehn Tagen fordert, besteht die einmonatige Unterbrechungsmöglichkeit nur, wenn die Hauptverhandlung zuvor an jeweils zehn Tagen stattgefunden hat. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist damit die einmonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung nur dann möglich, wenn die Hauptverhandlung bis zur Nutzung der einmonatigen Unterbrechung an zehn aufeinanderfolgenden Hauptverhandlungstagen stattgefunden hat, die lediglich von Unterbrechungen nach § 229 Abs. 1 StPO, also von maximal drei Wochen, getrennt worden sein dürfen. Der Zweck der gegenwärtigen Formulierung dürfte darin begründet liegen, dass auch bei längeren Hauptverhandlungen die Gerichte nicht grundsätzlich von großzügigeren Unterbrechungen Gebrauch machen und trotz der hohen Zahl an stattgefundenen Hauptverhandlungsterminen nur mit den höchstens dreiwöchigen Unterbrechungen nach § 229 Abs. 1 StPO terminieren.

Gleichwohl scheint eine Anpassung des Wortlauts des § 229 Abs. 2 StPO an den dritten Absatz der Vorschrift durch Streichung des Wortes „jeweils“ gewisse Vorteile zu bieten: Zunächst bleibt sichergestellt, dass Hauptverhandlungen, die weniger aufwändig sind und daher in bis zu zehn Hauptverhandlungstagen zum Abschluss gebracht werden können, nur durch die kürzeren Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 1 StPO unterbrochen werden können. Die Beibehaltung dieser Grenze dient dem hier noch deutlich überwiegenden Interesse an einer zeitnahen Sachentscheidung, die sich auch tatsächlich aus dem unmittelbaren Ergebnis der richterlichen Überzeugung ergibt. Zugleich würde der so geänderte § 229 Abs. 2 StPO in stärkerem Maße ankernennen, dass in Hauptverhandlungen, die an insgesamt zehn oder mehr Hauptverhandlungstagen stattgefunden haben, bereits erheblicher Prozessstoff gesammelt wurde und ein Neubeginn des Prozesses dem Interesse der Verfahrensbeteiligten und auch dem Ziel einer möglichen Entlastung der Rechtspflege widersprechen würde. Dieses gesteigerte Interesse, dem der Gesetzgeber durch die Möglichkeit von Hemmungen nach § 229 Abs. 3 StPO ja gerade Rechnung getragen hat, besteht nach hiesiger Ansicht jedoch völlig unabhängig davon, ob zuvor eine „Verhandlungskette“ von „jeweils“ zehn Verhandlungstagen stattgefunden hat oder ob die Gesamtzahl von zehn Verhandlungstagen nur insgesamt überschritten wurde. Durch die Verlängerung der Unterbrechungsfrist auf einen Monat wird dem Gericht die Möglichkeit gegeben, mit größerer Flexibilität auf besondere Ereignisse höherer Gewalt im Einzelfall reagieren und damit im Einzelfall auch längere Unterbrechungen stattfinden lassen zu können, ohne die Rechtsfolge des § 229 Abs. 4 S. 1 StPO eintreten zu lassen. Selbstverständlich ist in diesem Rahmen auch zu berücksichtigen, dass es sich bei den Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 1 und Abs. 2 StPO um Höchstfristen handelt, die durch das Gericht nicht ausgenutzt werden müssen und ohne Vorliegen zwingender Gründe auch nicht sollten, schließlich gebieten die Verfahrensgrundrechte die möglichst einheitliche und konzentrierte Durchführung der Hauptverhandlung und eine zeitige Sachentscheidung. Dass eine hier vorgeschlagene Erweiterung schwerpunkt-artig der Reaktion auf außergewöhnliche Hindernisse bei der weiteren Durchführung einer langwierigen Hauptverhandlung dient und nicht wider den Interessen einer angeklagten Person dazu genutzt wird, die nun längeren Unterbrechungsfristen ohne Not einzusetzen, wird dabei ganz maßgeblich von der Disziplin der Gerichte abhängen. Hier liegt insbesondere das Problem einer solchen Regelung begründet, da angesichts der schon mehrfach angesprochenen Überlastung der Justiz und sich verändernder Umstände nicht gewährleistet werden kann, dass sich keine neue, unter verfassungsrechtlichen Garantien zweifelhafte Entwicklung etabliert, die eine längere Verfahrensdauer unter Ausnutzung der Streichung des Wortes „jeweils“ zur Gewohnheit werden lässt. Ein Korrektiv hierfür ist kaum denkbar.

c) Kombination

Um den Nachteilen beider Vorschläge entgegenzuwirken, dem Strafprozess aber zeitgleich krisensichere Instrumente für die Gewährleistung von Hauptverhandlungen und einer funktionierenden Strafverfolgung an die Hand zu geben, bietet sich eine Kombination aus beiden Optionen an. Wir schlagen daher vor, in § 229 StPO einen Absatz 3a einzufügen, der sich Fällen höherer Gewalt zuwendet. Dieser soll lauten:

„Der Lauf der in Absatz 1 und 2 genannten Fristen ist einmalig gehemmt, solange ein Fall höherer Gewalt vorliegt, längstens aber für einen Monat. Absatz 3 Satz 3 findet entsprechend Anwendung. In Fällen höherer Gewalt darf die Hauptverhandlung auch bis zu einem Monat unterbrochen werden, wenn sie davor an mindestens zehn Tagen stattgefunden hat.“

Dieser Vorschlag kombiniert einen (zur Vermeidung einer Kettenhemmung einmaligen) Hemmungstatbestand mit einer flexiblen Möglichkeit der Unterbrechung bei Vorliegen von bereits zehn Verhandlungstagen, die aber, abweichend zur Regelung des § 229 Abs. 2 StPO nicht an die Voraussetzung geknüpft ist, dass jeweils zehn Verhandlungstage stattgefunden haben.

Zur Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“ kann in Anlehnung an die bestehenden Gesetzesinitiativen auf eine gefestigte Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Hierunter zu fassen wären damit Hinderungsgründe, die „unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falls vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung – zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden“ können.[54]

VII. Ausblick

Eine Überarbeitung des § 229 StPO wird angesichts globaler Krisen, Naturereignissen und unvorhersehbarer Veränderungen zunehmend dringend. Fälle höherer Gewalt sollte der Gesetzgeber vor Eintritt des Ereignisses regeln, um das staatliche Sanktionssystems arbeitsfähig zu halten und betroffene Verfassungsprinzipien in eine verhältnismäßige Abwägung mit praktischen Gegebenheiten zu bringen. Der aktuell vorliegenden Gesetzesentwurf aus Niedersachsen wird dem Beschleunigungsgrundsatz nicht gerecht, weil die Gefahr einer Kettenhemmung besteht und damit eine überlange Verfahrensdauer droht. Dieser Gefahr begegnet der hiesige Vorschlag dadurch, dass die Hemmung wegen höherer Gewalt nur einmalig möglich sein soll. Zusätzlich sollte die Unterbrechungsmöglichkeit des § 229 Abs. 2 StPO über einen Monat bei Fällen höherer Gewalt auch dann Anwendung finden, wenn nicht jeweils, sondern insgesamt zehn Hauptverhandlungstage stattgefunden haben. Das wird der besonderen Situation Fällen höherer Gewalt gerecht, in denen einzelne Verhandlungstage aufgrund der erwarteten Unterbrechungsdauer derartiger Katastrophen im Angesicht des Unmittelbarkeitsprinzips sowie eine Wiederholung erfordern, aber gleichzeitig bei großen Prozessen mit vielen Verhandlungstagungen die Notwendigkeit bestehen kann, häufiger als nach jeweils zehn Verhandlungstagungen die Hauptverhandlung zu unterbrechen. Die damit gestattete Flexibilität sichert staatliche Strafverfolgung, ohne die Rechte der Prozessbeteiligten zu untergraben.

 

[1]      Vgl. etwa bei Gehb/Drange, ZRP 2003, 231; Bertram, NJW 1994, 2186; Herrmann ZStW 85, 255; zusammenfassend: Mandla, NStZ 2011, 1.
[2]      BR-Drs. 402/22
[3]      Gmel/Peterson, in: KK-StPO, 9. Aufl. (2023), § 228 Rn. 1; Gorf, in: BeckOK-StPO, 47. Ed (2023), § 228 Rn. 1.
[4]      Gmel/Peterson, in: KK-StPO, § 228 Rn. 1; Gorf, in: BeckOK-StPO, § 228 Rn. 2.
[5]      BGH, NStZ 2008, 113 (114).
[6]      BGBl. 2004 I, S. 2198.
[7]      Gemeint sind lediglich Berufsrichter und Schöffen, nicht dagegen etwa Verteidiger, Urkundsbeamte oder Staatsanwälte, vgl. Gorf, in: BeckOK-StPO,  229 Rn. 6.
[8]      Vgl. etwa BGH, NJW 2021, 959 (960) m.w.N.
[9]      Vgl. hierzu etwa BGH, NJW 2018, 297 (298) m. krit. Anm. Gubitz; Mosbacher, JuS 2013, 699 (702 f.); Wölfl, JuS 2000, 277.
[10]    Etwa BGH, NStZ 2008, 115; BGH, NStZ 2011, 532.
[11]    Vgl. dazu etwa Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932 (2934); Knauer, StV 2007, 340 (341).
[12]    BGH, NJW 2018, 297 (298) m. krit. Anm. Gubitz.
[13]    BGH, NJW 2018, 297 (298) m. krit. Anm. Gubitz.
[14]    BGH, NStZ 2023, 365; BGH, NStZ 2012, 343.
[15]    BGH, NStZ 2020, 622; StraFo 2016, 209; NStZ 2014, 469; Gmel/Peterson, in: KK-StPO, § 229 Rn. 9.
[16]    Eingefügt durch das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 (BGBl. 2017 I, S. 2208).
[17]    So auch BGH, NJW 1996, 3019; OLG Düsseldorf, StV 1994, 362.
[18]    Schmidt-Assmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 99. EL (2022), Art. 19 Abs. 4 Rn. 263.
[19]    Vgl. etwa Gmel/Peterson, in: KK-StPO, § 228 Rn. 3; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1996, 142.
[20]    Statt vieler Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 250 Rn. 1 ff., § 261, Rn. 7; Lesch, JA 1995, 691.
[21]    Vgl. BGHSt 23, 224 (226); OLG Karlsruhe, Justiz 1988, 72.
[22]    Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 261 Rn. 5 ff; Tiemann, in: KK-StPO, § 261 Rn. 56.
[23]    Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 229 Rn. 1.
[24]    Lohse/Jakobs, in: KK-StPO, MRK § 6 Rn. 26.
[25]    Gmel/Peterson, in: KK-StPO, § 229 Rn. 1.
[26]    Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 229 Rn. 1.
[27]    Vgl. BGH, NStZ-RR 2013, 86; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 229 Rn. 1.
[28]    Vgl. auch BGH, NJW 1996, 3019; OLG Düsseldorf, StV 1994, 362.
[29]    BGBl. 2020 I, S. 569.
[30]    Zu der Frage, ob die Durchführung nicht mit entsprechenden Schutzmaßnahmen möglich ist, vgl. Gorf, in: BeckOK-StPO, § 229 Rn. 13 f; Gmel/Peterson, in: KK-StPO, § 229 Rn. 13-17.
[31]    Vgl. BT-Drs. 19/18810, S. 3.
[32]    BT-Drs. 19/18810, S. 32.
[33]    Vgl. zum Begriff Erkrankung Gorf, in: BeckOK-StPO, § 229 Rn. 7; Gmel/Peterson, in: KK-StPO, § 229 Rn. 13.
[34]    BT-Drs. 19/18810, S. 32.
[35]    BT-Drs. 19/18810, S. 32 f. Vgl. allgemein zu den Rechten und Pflichten der Verfahrensbeteiligten in der Corona-Pandemie Rau, COVuR 2020, 406.
[36]    BGH, BeckRS 2020, 35778.
[37]    Stellungnahme DAV Nr. 21/2020, S. 4 f.
[38]    BGBl. 2020 I, S. 569.
[39]    Art. 4a des Gesetzes zur Verlängerung von Sonderregelungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie beim Kurzarbeitergeld und anderer Leistungen v. 23.3.2022 (BGBl. 2022 I, S. 482).
[40]    Gesetz v. 17.9.2022, BGBl. I, S. 1454.
[41]    BT-Drs. 20/3328, S. 37.
[42]    BGBl. 2022 I, S. 1454.
[43]    BT-Drs. 20/3328, S. 38.
[44]    BGH, NStZ 2021, 186 (187) m. Anm. Matthias Lang = COVuR 2021, 117.
[45]    Vgl. diesbezüglich zu § 229 Abs. 3 StPO etwa BGH, NStZ-RR 2016, 178.
[46]    BR-Drs. 155/20.
[47]    BR-Drs. 155/20, S. 2.
[48]    BR-Drs. 155/20, S. 2.
[49]    Stenografischer Bericht 988. Sitzung des Bundesrats (27.3.2020), S. 98.
[50]    BR-Drs. 402/22, S. 3.
[51]    Unterrichtung durch die Bundesregierung zu der BR-Drs. 402/22 v. 16.3.2023.
[52]    BR-Drs. 402/22.
[53]    BGH, BeckRS 2020, 36552.
[54]    Vgl. zu BR-Drs. 155/20, S. 4 etwa BGHZ 109, 224 (229); 81, 353 (355) sowie BVerwGE 105, 288 (300).

 

 

 

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