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Perspektiven einer Kompetenzerweiterung der Europäischen Staatsanwaltschaft 

von Dr. Sarah Pohlmann

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Abstract
„Ja, wir können es tun, wir sind dazu bereit.“ So lautete die Antwort der Europäischen Generalstaatsanwältin Laura Codruta Kövesi im Gespräch mit einer Nachrichtenagentur zur Frage, ob die Europäische Staatsanwaltschaft zukünftig auch Verstöße gegen die Russland-Sanktionen ahnden will.[1] Welche Vorteile und Risiken eine solche Kompetenzerweiterung haben kann, soll dieser Beitrag klären. Dabei wird zunächst der Auftrag der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) dargelegt. Nachdem der Aufbau und die wesentlichen Organisationsmerkmale der seit Juni 2021 operierenden EUStA erläutert wurden, wird das Augenmerk auf den Schutz der finanziellen Interessen gelegt. Dabei wird deutlich das die EUStA als spezielle Behörde zum Schutz von Finanzdelikten konzipiert wurde. Finanzielle Unionsinteressen sind supranationale Rechtsgüter, dessen Schultz folglich auch durch eine supranationale Behörde wie der EUStA gewährleistet werden kann. Kern der Abhandlung sind die Perspektiven einer Erweiterung auf Sanktionsverstöße, die bisher durch nationale Behörden umgesetzt werden. Zunächst wird das Verfahren für eine Kompetenzerweiterung dargelegt, welches insbesondere eine Einstimmigkeit im Rat erfordert. Sodann werden die Umrisse des Erweiterungsvorhabens, welches auf eine deutsch-französische Initiative zurückgeht, vorgestellt. Dabei werden politische Erwägungen mit praktischen Vorteilen einer Kompetenzerweiterung auf Sanktionsverstöße abgewogen. Der Beitrag schließt mit einem kritischen Blick auf eine solche Kompetenzerweiterung.

“Yes, we can do it. We are ready to do it.” This was the answer of the European Chief Prosecutor Laura Codruta Kövesi in an interview with a news agency on the question of whether the European Public Prosecutor’s Office (EPPO) will also prosecute violations of the Russia sanctions in the future.[2] This article aims to clarify what advantages and risks such an expansion of competence may have. In doing so, the mission of the European Public Prosecutor’s Office (EPPO) will first be outlined. After explaining the structure and main organizational features of the EPPO, which has been operating since June 2021, the focus will be on the protection of financial interests. It becomes clear that the EPPO was designed as a special authority for the protection of financial crimes. Financial interests of the Union are supranational legal interests, whose protection can be guaranteed by a supranational authority like EPPO. The core of the paper is the perspectives of an extension to sanctions violations that have been implemented by national authorities so far. First, the procedure for an extension of competence is outlined, which in particular requires unanimity in the European Council. Then, the outlines of the extension project, which goes back to a Franco-German initiative, are presented. Political considerations are weighed against the practical advantages of extending jurisdiction to sanctions violations. The article concludes with a critical view of such an extension of competence.

I. Der Auftrag der Europäischen Staatsanwaltschaft

Nach zahlreichen Vorarbeiten u.a. im Corpus Juris 2000 und im Grünbuch der Kommission[3]  (dort Art. 280a EGV) wurde im Oktober 2017 auf der primärrechtlichen Grundlage des Art. 86 AEUV im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit von 20 EU-Mitgliedstaaten die EUStA-Verordnung[4] verabschiedet und der Startschuss zur Europäischen Staatsanwaltschaft gegeben.

Das Ziel der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA, engl. EPPO) ist die Gewährleistung einer besseren und effektiveren Strafverfolgung insbesondere bei grenzüberschreitenden Sachverhalten sowie eine bessere Einziehung illegaler Vermögenswerte. Dies ist auch dringend notwendig, wenn man einen Blick auf die immensen Schadenssummen wirft, die durch grenzüberschreitende Vermögensdelikte verursacht werden: Schätzungen zufolge gingen allein im Jahr 2018 140 Mrd. Euro an Mehrwertsteuereinnahmen durch grenzüberschreitenden Betrug verloren, Tendenz – nicht zuletzt wegen der COVID-19-Pandemie – steigend; daneben wurden in 2015 etwa 638 Mio. Euro an Strukturfondsmitteln der EU missbräuchlich verwendet.[5] An der Erforderlichkeit der Bekämpfung grenzüberschreitender Finanzkriminalität wird kaum noch gezweifelt.[6] Wohl aber die Ausgestaltung der Kompetenzen sorgt immer wieder für Diskussionen. 

Nach ihrem Selbstverständnis soll die EUStA gemeinsam mit dem Europäischem Gerichtshof die Säule der Justiz in Europa bilden sowie für die Vertretung europäischer öffentlicher Interessen sorgen.[7] Das Geld der europäischen Steuerzahler:innen soll besser geschützt werden, sodass die EuStA Fälle von Betrug, Veruntreuung, Korruption und weitere Fälle von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union mit grenzüberschreitender Dimension verfolgt.[8]

Nach Aufnahme der operativen Arbeit im Juni 2021 hat die Europäische Staatsanwaltschaft, die in bislang 22 Mitgliedstaaten tätig ist, bereits einige Erfolge vorzuweisen: Im Rahmen von Ermittlungen zu einem Umsatzsteuerkarussell wurde ein Angeklagter im November 2022 vom LG München Izu 3 Jahren und 3 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.[9] Es wurden Gelder im Wert von 23 Mio. Euro beschlagnahmt und an den Ermittlungen waren Behörden in Tschechien, Rumänien und der Slowakei beteiligt.[10] Ebenfalls für viel Aufsehen gesorgt, hat der Fall von gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhinterziehung in mehr als 130 Einzelfällen bei der Einfuhr hochwertiger Kraftfahrzeuge aus Drittländern in die Europäische Union.[11]

II. Aufbau und Organisation

Gem. Art. 3 EUStA-VO wurde die EUStA als Einrichtung der Union mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet. In ihrer Struktur besteht sie aus einer zentralen und einer dezentralen Ebene.[12]

Die zentrale Ebene besteht gem. Art. 8 Abs. 3 EUStA-VO aus dem Kollegium, den Ständigen Kammern, der Europäischen Generalstaatsanwältin, ihren Stellvertretern sowie den Europäischen Staatsanwält:innen und dem Verwaltungsdirektor. Die Europäische Generalstaatsanwältin ist Leiterin der Einrichtung, Art. 11 Abs. 1 EUStA-VO. Ihre Aufgabe ist es, die Arbeit der EUStA zu organisieren und Entscheidungen gemäß der Verordnung und der Geschäftsordnung zu treffen.

Entsprechend der Anzahl an teilnehmenden Mitgliedstaaten – aktuell 22[13] – gibt es je eine Europäische Staatsanwältin bzw. Staatsanwalt. Diese fungiert als Bindeglied zwischen der zentralen Ebene und der dezentralen mitgliedstaatlichen Ebene, wo die Delegierten Europäischen Staatsanwält:innen die konkreten Ermittlungs- und Strafverfolgungsaufgaben durchführen.

Auf der dezentralen Ebene handeln gem. Art. 8 Abs. 4 EUStA-VO die Delegierten Europäischen Staatsanwälte. Diese sind in die nationalen Strafverfolgungsbehörden eingebettet. Den Delegierten Europäischen Staatsanwält:innen obliegt die Ermittlungsarbeit in den Mitgliedstaaten. Sie sind für die Anklageerhebung zuständig. Gem. Art. 13 der EUStA-VO handeln die Delegierten Europäischen Staatsanwälte im Namen der EUStA in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat und haben neben und vorbehaltlich der ihnen übertragenen besonderen Befugnisse und des ihnen zuerkannten besonderen Status in Bezug auf Ermittlungen, Strafverfolgungsmaßnahmen und Anklageerhebung die gleichen Befugnisse wie nationale Staatsanwälte.[14] Vorgesehen sind mind. zwei Delegierte Europäische Staatsanwälte je Mitgliedstaat, Art. 13 Abs. 2 EUStA-VO. In Deutschland wurden insgesamt fünf Zentren benannt, aus denen die Fälle bearbeitet werden, eine weitere Stelle ist beim Generalbundesanwalt angesiedelt.[15]  Räumlich betrachtet halten sich die Delegierten Europäischen Staatsanwälte in den Mitgliedstaaten auf.[16]

Im Hinblick auf die Arbeitsweise hat die EUStA die Befugnis zur strafrechtlichen Untersuchung und Verfolgung sowie Anklagerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer von Straftaten zulasten des EU-Haushalts bzw. damit zulasten der Steuerzahler in der EU in Betracht kommen.[17] Die sachliche Zuständigkeit der EUStA richtet sich nach Art. 22 EUStA-Verordnung und zielt auf die Verfolgung der sog. PIF-Delikte.[18]

III. Schutz der finanziellen Interessen der Union

Nachdem das Ziel der EUStA insbesondere der Schutz der finanziellen Interessen der Union ist, gilt es ein besonderes Augenmerk auf diese finanziellen Interessen der Union zu werfen. Finanzielle Interessen sind „sämtliche Einnahmen, Ausgaben und Vermögenswerte, die durch [die Haushaltspläne der Union bzw. ihrer Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen] erfasst, erworben oder geschuldet werden“[19].  Dabei handelt es sich um ein sog. supranationales Rechtsgut.[20]

Um die Aufgaben der EUStA und die Rechtfertigung der Übertragung von Kompetenzen auf die EUStA näher zu untersuchen, gilt es auf die Konzeption des Rechtgüterschutzes ein kurzes Schlaglicht zu werfen: Supranationale Rechtsgüter sind keine inländischen Rechtsgüter und stellen damit eine Unterart der ausländischen Rechtsgüter dar. Der Begriff der Supranationalität wird als wesentliches Kennzeichen des Rechts der Europäischen Union bezeichnet. Einigkeit besteht darin, dass mit „Supranationalität“ eine spezifische Form der Wirkung in den mitgliedstaatlichen Systemen gemeint ist.[21] Supranationalität drückt „Überstaatlichkeit“ aus, die die Auswirkungen des europäischen Rechts auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen betrifft.[22]

Supranationale Rechtsgüter haben daher die Aufgabe, solche Interessen zu schützen, die die Union in besonderem Maße betreffen. Dazu zählen im Wesentlichen die finanziellen Interessen der EU und der Schutz des EU-Haushalts und der Verwaltung. Geht man zurück zu den Anfängen der EU als Wirtschaftsunion, so lässt sich schnell begründen, dass die EU ein ureigenes Interesse an der Verwendung ihrer aus Steuern und Agrarabschöpfungen generierten Einnahmen und der zweckentsprechenden Verwendung von Subventionen hat.[23] Daneben können beispielsweise folgende Schutzgüter als „supranational“ eingeordnet werden: Die Unbestechlichkeit der EU-Beamten, die Wahrung des Dienstgeheimnisses, die europäische Rechtspflege und die Realisierung der Grundfreiheiten.[24]

IV. Perspektiven einer Erweiterung

In Anbetracht der schwierigen Umstände, die die Schaffung der EUStA begleiteten,[25] erscheint es fast schon anachronistisch nun über die Perspektiven einer Erweiterung nachzudenken. Dabei ist stets im Hinterkopf zu behalten, dass die EUStA grundsätzlich nicht als Universal-Strafverfolgungsbehörde konzipiert wurde, sondern laut AEUV und EUStA-VO als Spezialbehörde für Finanzdelikte.[26]

1. Verfahren zur Ausdehnung der Befugnisse

Die Rechtsgrundlage für eine Erweiterung findet sich in Artikel 86 Abs. 4 AEUV. Eine Ausweitung auf schwere grenzüberschreitende Kriminalität ist dabei ausdrücklich vorgesehen, wobei insbesondere die in Art. 83 Abs. 1 AEUV genannten Deliktsfelder gemeint sind. Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.

Die Zuständigkeit der EUStA kann über Art. 86 Abs. 1 und 2 AUEV hinaus im Wege einer vereinfachten Vertragsänderung erweitert werden. Erforderlich ist das einstimmige Fassen eines Beschlusses des Europäischen Rates nach Art. 86 Abs. 4 und AEUV und sodann das Zustandekommen einer entsprechenden Verordnung gem. Art. 86 Abs. 1 S. 2 AEUV, die von der Ausweitung der Befugnisse Gebrauch macht.

Bereits in der Vergangenheit intensiv diskutiert wurde, das Mandat der Europäischen Staatsanwaltschaft auf Grundlage von Art. 86 AEUV auf die Untersuchung und Verfolgung grenzüberschreitender terroristischer Straftaten auszuweiten.[27] Dies wird allerdings ganz überwiegend kritisch gesehen: Bedenken bestehen vor allem mit Blick auf die von Terrorismusdelikten geschützten, nationalen Rechtsgüter und dem Umstand, dass beide Deliktstypen nicht zwingend eine grenzüberschreitende Natur aufweisen.[28]

Aktuell dreht sich die Diskussion um die Erweiterung der Zuständigkeit der EUStA auf Verstöße gegen EU-Sanktionen: Zurückgehend auf eine deutsch-französische Initiative haben der französische Justizminister Éric Dupond-Moretti und der deutsche Justizminister Marco Buschmann dafür zuletzt sehr wortreich und politisch wirkungsvoll in einem Presseartikel geworben.[29]

2. Umrisse des Erweiterungsvorhabens auf Sanktionsverstöße

Die deutsch-französische Idee fußt auf dem Gedanken, dass Sanktionsverstöße nicht nur gemeinsam bestraft werden sollten, sondern auch gemeinsam verfolgt werden. Auch die Europäische Kommission hat sich bereits verhalten positiv zu dieser Initiative geäußert.[30]

Freilich kann nicht außer Betracht gelassen werden, dass der Vorschlag zur Erweiterung der Kompetenzen in engem politischen Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu sehen ist.

Unter dem Stichwort „Sanktionsverstöße“ sind strafrechtlich relevante Verstöße gegen restriktive Maßnahmen zu verstehen, die die EU auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1, 23, 28 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Artikel 215 AEUV verhängen kann, um auf internationaler Ebene Grundwerten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Grundfreiheiten Geltung zu verschaffen. Im politischen Mittelpunkt stehen dabei die im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der bislang kontinuierlich angepassten Ratsverordnung (EU) Nr. 269/2014 gegen natürliche und juristische Personen sowie Gruppierungen und nichtstaatliche Einheiten verhängten restriktiven Maßnahmen.[31] Verordnungen wie diese gelten gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV in den Mitgliedstaaten unmittelbar. In Deutschland erfolgt die Umsetzung bisher im Wesentlichen nach den Bestimmungen des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung und wird durch die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften verfolgt.[32] Nun könnte diese Befugnis also auf die EUStA übergehen.

Durch Beschluss des Rates vom 28.11.2022 wurde der Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union als Kriminalitätsbereich im Sinne des Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV qualifiziert.[33] Damit ist ein erster wegweisender Schritt getan. Eine Erweiterung der Zuständigkeiten ist nach Art. 86 Abs. 4 AEUV erst nach entsprechender Harmonisierung des Kriminalitätsbereichs möglich.[34] Dazu wird auf europäischer Ebene der Richtlinienentwurf zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union diskutiert.[35] Sofern eine solche Harmonisierung erfolgt ist, könnte – als letzter von drei Schritten – auch eine Kompetenzübertragung an die EUStA erfolgen.

3. Politische Erwägungen oder logische Fortentwicklung der Arbeit der Europäischen Staatsanwaltschaft?

Nachdem ein Blick auf die bisherigen Aufgaben der EUStA geworfen wurde, gilt es zu hinterfragen, ob eine Ausweitung der Kompetenzen mit dem bisherigen Schutz der finanziellen Interessen der Union vereinbar wäre und welche Vorteile und Risiken neue Befugnisse mit sich bringen würden.

Politisch wäre die Botschaft natürlich lautstark und eindeutig: „Ab jetzt ermittelt die EUStA, die Durchsetzung von Sanktionen ist nun noch europäischer, effektiver und koordinierter.“ Neben diesen Erwägungen gilt es aber, das Augenmerk auf die Vorteile und etwaigen Risiken einer Kompetenzerweiterung zu richten.

Abgesehen von den durchaus zweifelhaften Erfolgsaussichten einer solchen Kompetenzerweiterung, sollte sich diese an der Frage messen lassen, ob eine Strafverfolgung von Sanktionsverstößen durch die EUStA sinnvoll wäre. Ein erheblicher Vorteil, den die Ermittlungstätigkeit der EUStA bietet, ist die sich langsam einspielende grenzüberschreitende Zusammenarbeit.[36] Leitend ist dabei das sog. „single office concept“ wonach einheitliche Entscheidungs- und Verfolgungsstrukturen gegeben sind, die einer national ermittelnden Staatsanwaltschaft überlegen sein können. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn sich strafrechtliche Sanktionen und insbesondere vermögensabschöpfende Maßnahmen nicht nur gegen natürliche oder juristische Personen aus einem europäischen Mitgliedsstaat richten, sondern sich eine juristische Person beispielsweise aus Gesellschaften zusammensetzt, die in mehreren europäischen Mitgliedsstaaten (die auch an der EUStA teilnehmen) tätig sind. Die EUStA könnte somit ihr Fachwissen im Bereich der Finanzkriminalität nutzen, um durch Untersuchung komplexer finanzieller Systeme die Umgehung von Sanktionen zu verhindern. Dabei sind insbesondere die Strukturen der EUStA gegenüber der herkömmlichen und oft langwierigen Rechtshilfe mit Territorialitätsschranken entscheidend im Vorteil.[37]

Betrachtet man hingegen den Rechtsgüterschutz, so würde die strafrechtliche Verfolgung von Sanktionsverstößen nicht unmittelbar dem Schutz der finanziellen Interessen der Union zugutekommen. Damit würde sich die grundsätzliche Ausgestaltung der EUStA als Strafverfolgungsbehörde von EU-Finanzschutzdelikten ändern. Im Vergleich zu der Verfolgung der PIF-Delikte, wird durch eine Strafverfolgung durch die EUStA in Bezug auf Sanktionsverstöße eben kein Steuergeld der Europäischen Steurzahler:innen zurückgeholt. Der Schritt zu einer solchen Kompetenzerweiterung betrifft daher die grundlegende Frage, ob ein Rollenwandel der EUStA von einer Spezial- zur Universalbehörde gewünscht ist.[38] Diese Frage ist daher nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in der Landschaft des Europäischen Strafrechts, da sie im Kern die Abgabe nationaler Kompetenzen betrifft und der EUStA als europäische Strafverfolgungsbehörde erheblich mehr Gewicht geben würde.

Wenn auch nicht der Schutz der finanziellen Interessen bedient wird, könnte die Kompetenzerweiterung auf Sanktionsverstöße gleichwohl dem Schutz supranationaler Rechtgüter dienen: Die Verhängung restriktiver Maßnahmen soll gemeinsamen EU-Grundwerten, die in Artikel 2 des Vertrags von Lissabon und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgeschrieben sind, zur Geltung verhelfen. Dazu zählen auch Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Verordnung selbst nimmt in ihren Erwägungsgründen zwar keinen direkten Bezug auf den Schutz dieser Rechtgüter.[39] Es ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass diese Erwägungen und gemeinsame europäischen Werte für die die Schaffung der Verordnung leitend waren.

Weitere praktische Erwägungen sind zu berücksichtigen: Die EUStA hat ihre operative Arbeit erst im Juni 2021 aufgenommen. Obwohl einige Ermittlungserfolge bereits vorzuweisen sind, handelt es sich noch um eine junge Behörde, bei der sich insbesondere die Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden noch einspielen muss.[40] Eine zu frühe Kompetenzerweiterung könnte die noch nicht final abgestimmten Prozesse gefährden und insgesamt die Ermittlungserfolge der EUStA gefährden.

V. Fazit

Die erforderliche Einstimmigkeit im Rat, bei er im Übrigen auch die Mitgliedstaaten stimmberechtigt sind, die nicht bei der EUStA teilnehmen, ist eine hohe Hürde. Abgesehen von den verfahrensrechtlichen Herausforderungen wurde jedoch gezeigt, dass die bei der EUStA gebündelten Kenntnisse und effektivere grenzüberschreitende Strafverfolgungsmöglichkeiten gerade bei der Verfolgung von Sanktionsverstößen in Zukunft einen Mehrwert bieten könnten. Davon abgesehen ist eine Kompetenzerweiterung der EUStA auf Sanktionsverstöße allerdings kritisch zu beurteilen: 

Der Schutz der finanziellen Interessen der Union ist das bisherige Hauptaufgabengebiet der EUStA. Eine Ausweitung der Kompetenzen muss sich an der Frage messen lassen, ob diese Aufgabe den Charakter der Behörde gänzlich ändern würde. Dies ist im Ergebnis zu bejahen. Zwar kann dem Anliegen der Verfolgung von Sanktionsverstößen ein übergeordnet europäisches Interesse nicht abgesprochen werden, eine Subsumtion unter das Rechtsgut der finanziellen Interessen der Union bzw. präzise andere EU-Rechtsgüter gelingt nicht ohne Friktionen. Eine Kompetenzerweiterung auf Sanktionsverstöße würde den Anstoß für eine Ausgestaltung als Universal-Strafverfolgungsbehörde geben. Ob dieser Schritt – unter möglicher Abgabe weiterer originärer mitgliedstaatlicher Kompetenzen im Strafrecht – gegangen werden sollte, muss in Politik, Wissenschaft und Praxis weiterhin aufmerksam diskutiert werden.

 

[1]      Äußerung am 2.3.2023 gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, abrufbar unter: https://www.euractiv.de/section/innenpolitik/news/eu-staatsanwaltschaft-geht-gegen-untergrabung-von-russlandsanktionen-vor/ (zuletzt abgerufen am 10.7.2023).
[2]      Statement on 2.3.2023 to the news agency AFP, available at: https://www.euractiv.com/section/justice-home-affairs/news/europes-top-prosecutor-sets-sights-on-russia-sanctions-busters/ (last accessed 10.7.2023).
[3]      Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, KOM (2001) 715 endg., Art. 280a EGV.
[4]      Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl. L 283 S. 1.
[5]      Zahlen abrufbar auf der Seite des Europäischen Rats unter: https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eppo/ (zuletzt abgerufen am 14.9.2022).
[6]   Zusammenfassend auch Thomas, KriPoZ 2021, 106 ff. 
[7]      Vgl. Jahresbericht der EUStA 2021, S. 8 (abrufbar unter: https://bit.ly/3EHV7Fz (zuletzt abgerufen am 14.9.2023).
[8]      Vgl. dazu auch Strauch, ZEuS 2021, 685.
[9]      Entscheidung des LG München I v. 5.4.2022 – 6 Kls 501 Js 17/21. 
[10]    Vgl. die Pressemeldungen unter: https://www.eppo.europa.eu/de
/node/280 und https://www.eppo.europa.eu/en/news/six-arrests-and-seizures-worth-eu23-million-czechia-romania-slovakia (zuletzt abgerufen am 14.9.2023).
[11]    Vgl. die Pressemeldungen unter: https://bit.ly/46fhKgp (zuletzt abgerufen am 18.9.2023).
[12]    Vgl. Verordnung (EU) 2017/1939, ABl. Nr. L 283 v. 12.10.2017, S. 1 ff.; näher zu Aufbau und Kompetenz Satzger/von Maltitz, Jura 2018, 153 ff.; Brodowski, StV 2017, 684 ff.
[13]    Neben den 20 Unterzeichnerstaaten Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Österreich, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, und Zypern hat die Europäische Kommission am 1.8.2018 die Teilnahme der Niederlande (Beschluss [EU] 2018/1094 der Kommission zur Bestätigung der Beteiligung der Niederlande an der Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der EUStA, ABl. Nr. L 196 v. 2.8.2018, S. 1 f.) und am 7.8.2018 die Teilnahme von Malta (Beschluss [EU] 2018/1103 der Kommission zur Bestätigung der Beteiligung Maltas an der Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der EUStA, ABl. Nr. L 201 v. 8.8.2018, S. 2 f.) bestätigt. Nicht dabei sind: Ungarn, Irland, Polen, Schweden und Dänemark.
[14]    Näher zur Betrachtung der (Delegierten) Europäischen Staatsanwält:innen als Europäische Amtstäger:innen vgl. Pohlmann, Strafrechtliche Gleichstellungsklauseln für ausländische und Europäische Amtsträger, 2021, S. 139 ff.
[15]        Zum 1.7.2023 waren in Deutschland 16 Delegierte Europäische Staatsanwält:innen tätig; vgl. auch Brodowski, StV 2017, 684 (685).
[16]     Die fünf Zentren befinden sich in Berlin, Frankfurt a.M., Hamburg, Köln und München.
[17]   Vgl. Art. 86 Abs. 2 EuStA-VO.
[18]     Ausführlich zu der Konzeption der sachlichen Zuständigkeit vgl. Strauch, ZEuS 2021, 703 f.
[19]    Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a der RL (EU) 2017/1371.
[20]    Näher dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. (2021), Kap. 7 Rn. 30; vgl. auch Weigend, ZStW 1993, 774 (800 f.).
[21]    Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I,  79. EL (2023), Art. 1 AEUV Rn. 65.
[22]    Vgl. Handlexikon der EU, Stichwort „Supranationalität“.
[23]    Vgl. Weigend, ZStW 1993, 774 (800 f.).
[24]    Vgl. die Aufzählung bei Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 7 Rn. 31.
[25]    Zur Genese der EUStA vgl. Dannecker, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. (2018), Art. 86 Rn. 18. 
[26] So treffend Meyer, in: Herrnfeld/Esser, Europäische Staatsanwaltschaft, 2022, § 3 Rn. 13.
[27]    COM (2018) 641 final, S. 1 ff
[28]    Näher dazu: Meyer, in: Herrnfeld/Esser, Europäische Staatsanwaltschaft, § 3 Rn. 22.
[29]    Le Monde v. 29.11.2022: „L’appel des ministres français et allemand de la justice: „Nous souhaitons l’extension de la compétence du parquet européen aux violations des sanctions prises par l’UE“, abrufbar unter: https://bit.ly/3Lr7vh0 (zuletzt abgerufen am 18.9.2023); Artikel bei LTO v. 29.11.2022 „Europäische Staatsanwaltschaft muss Strafverfolgung übernehmen“, abrufbar unter: https://bit.ly/3PIiNju (zuletzt abgerufen am 18.9.2023).
[30]    EU-Justizkommissar Reynders antwortete auf eine parlamentarische Anfrage, dass effektive Strafverfolgung durch die EuStA für die Kommission eine hohe Priorität habe: „The effective functioning of the European Public Prosecutor’s Office (EPPO) is a high priority for the Commission. In the short-term, it is of utmost importance to provide the EPPO with the necessary means to deliver effectively on its current competence. At the same time, the Commission has started assessing what role the EPPO could play in the investigation and prosecution of violations of EU restrictive measures (sanctions).” Vgl. Parliamentary question – E-003966/2022(ASW).
[31]    ABl. L 78 v. 17.3.2014, S. 6 ff.
[32]     Zur Komplexität der EU-Sanktionen gegen Russland, vgl. Schwendinger/Göcke, EuZW 2022, 499 ff.
[33]    Beschl. (EU) 2022/2332 Des Rates v. 28. November 2022 über die Feststellung des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union als einen die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllenden Kriminalitätsbereich, ABl. L 308 v. 29.11.2022, S. 18 ff.
[34]    Ausführlich zu der Konzeption der sachlichen Zuständigkeit vgl. Strauch, ZEuS 2021, 703 f.
[35]    Vgl. COM(2022) 684 final, S. 1 ff. Im Juni 2023 hat der Rat hat seine Verhandlungsposition (allgemeine Ausrichtung) für einen EU-Rechtsakt festgelegt, mit dem Straftatbestände und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der EU eingeführt werden.
[36]    Vgl. dazu Art. 31 der EUStA-VO, zu den grenzüberschreitenden Maßnahmen ausführlich Niedernhuber, in: Herrnfeld/Esser, Europäische Staatsanwaltschaft, § 7 Rn. 124 ff.
[37]    Vgl. näher zur Rechtshilfe Ambos/Gronke, in: Ambos/König/Rakow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl. (2020), Kap. 1, Rn. 25 ff.
[38]    Ebenfalls kritisch dazu Meyer, in: Herrnfeld/Esser, Europäische Staatsanwaltschaft, § 3 Rn. 22.
[39]    Vgl. Ratsverordnung (EU) Nr. 269/2014; ABl. L 78 v. 17.3.2014, S. 6 ff.
[40]    Vgl. Ritter, in: Niedernhuber, Die neue Europäische Staatsanwaltschaft, 2023, S. 15 ff.

 

 

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