KriPoZ-RR, Beitrag 80/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 23.09.2020 – 2 BvR 1810/19: Zur Ermessensausübung bei körperlichen Durchsuchungen im Strafvollzug

Leitsatz der Redaktion:

Bei einer körperlichen Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung im Strafvollzug genügt ein Formblatt mit Ankreuzmöglichkeiten nicht, um eine genügende Ermessenausübung durch die Strafvollzugsbeamten zu dokumentieren.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Entscheidungen des LG Regensburg – Strafvollstreckungskammer und des Bayerischen Obersten Landesgerichts zum BVerfG gewendet.

Er war nach einem Familienbesuch in der Anstaltscafeteria unter vollständiger Entkleidung körperlich durchsucht worden. Die Durchsuchung war auf einem Formblatt mit Ankreuzmöglichkeiten von zwei männlichen Strafvollzugsbeamten protokolliert worden. Die Anstaltsleitung hatte zuvor die Durchsuchung jedes sechsten Gefangenen nach Besuchskontakten genehmigt, wobei die Maßnahme bei einer sehr fernliegenden Gefahr des Missbrauchs des Besuchsrechts unterbleiben solle.

Der Beschwerdeführer hatte daraufhin die gerichtliche Entscheidung über die Durchsuchungsanordnung beantragt, da sie ohne konkreten Anlass erfolgt und damit rechtswidrig gewesen sei.

Sowohl Land– als auch Oberstes Landesgericht hatten die Entscheidung der JVA bestätigt.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt.

Der angegriffene Beschluss des Landgerichts verletze den Beschwerdeführer in dem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Die Durchsuchung unter vollständiger Entkleidung stelle einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Gefangenen dar.

Deshalb habe der Bayerische Landesgesetzgeber in Art. 91 BayStVollzG ein ausdifferenziertes Regelungskonzept für Durchsuchungen geschaffen.

Nach der Konzeption der Regelungen in Art. 91 Absatz 2 und Absatz 3 BayStVollzG sei es zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn auf der Grundlage von Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG mit Entkleidung verbundene Durchsuchungen – etwa im Wege der Stichprobe – auch für persönlich an sich unverdächtige Gefangene angeordnet werden, sofern Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, gefährliche Häftlinge könnten sonst die für sie angeordneten Kontrollen auf dem Umweg über von ihnen unter Druck gesetzte Mithäftlinge umgehen. Dabei dürfe aber nicht die in Art. 91 BayStVollzG vorgesehene Abstufung der Anordnungsbefugnisse unterlaufen werden. Eine Anordnung auf der Grundlage des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG dürfe daher jedenfalls nicht zur Durchsuchung aller oder fast aller Gefangenen vor jedem Besuchskontakt und damit zu einer Durchsuchungspraxis führen, die das Strafvollzugsgesetz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nur in den Konstellationen des Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG erlaube.

Mit seiner Annahme, die Durchsuchungsanordnung sei sowohl auf Art. 91 Absatz 3 als auch auf Absatz 2 BayStVollzG zu stützen, habe das LG die abgestufte und ausdifferenzierte Regelung der Ermächtigungsgrundlagen im BayStVollzG verkannt.

Dies sei aber im Ergebnis nicht durchschlagend, da die Durchsuchung auch allein auf Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG hätte gestützt werden können.

Allerdings habe das LG Bedeutung und Tragweite des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dadurch verkannt, dass es angenommen habe, eine ausreichende Ermessensausübung durch die Justizbeamten ergebe sich ohne darüber hinausgehende Prüfung bereits aus dem bei der Durchsuchung ausgefüllten Formblatt.

Auf dem Formblatt habe sich lediglich ankreuzen lassen, ob die Gefahr des Missbrauchs des Besuchs nach den genannten Kriterien besonders fern gelegen habe oder nicht. Ein Feld zur Dokumentation konkreter Erwägungen oder eine sonstige Möglichkeit zur Begründung der Gefahr eines Missbrauchs des Besuchs durch den Gefangenen sei in dem verwandten Formblatt nicht vorgesehen gewesen. Daher habe das bloße Ankreuzen des vorgesehenen Feldes in dem konkret eingesetzten Formblatt nicht genügt, um bereits daraus auf eine sorgfältige Ermessensabwägung im Einzelfall zu schließen.

Zudem habe sich das LG nicht mit der Frage auseinander gesetzt, ob möglicherweise mildere Mittel zur Gefahrbeseitigung hätten eingesetzt werden können.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits im Jahr 2016 hatte das BVerfG entschieden, dass körperliche Durchsuchungen unter vollständiger Entkleidung auch stichprobenartig zulässig seien, solange in der Anordnung die Abweichungskompetenz des jeweiligen Beamten im Einzelfall vorgesehen sei. Die Entscheidung finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 79/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 19.08.2020 – 5 StR 558/19: Zum ärztlichen Abrechnungsbetrug

Amtlicher Leitsatz:

Zum Abrechnungsbetrug im Fall eines medizinischen Versorgungszentrums bei unzulässiger Beteiligung eines Apothekers.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat die Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in 13 Fällen, die Angeklagten Z. und D. zusätzlich wegen Betruges in elf weiteren Fällen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte F. als Alleingesellschafter ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) betrieben. Um das unternehmerische Risiko nicht allein schultern zu müssen, hatte er dem Apotheker Z. eine Beteiligung angeboten. Diese war dem Z. jedoch aufgrund des § 95 Abs. 1a SGB V nicht möglich gewesen, da er als Apotheker kein MVZ betreiben bzw. Anteile daran erwerben hatte dürfen.

Daraufhin hatte Z. den Plan gefasst, mithilfe eines sog. Strohmanns am MVZ beteiligt zu werden. Er hatte dem F. mehrere Darlehen gewährt und als Sicherheit die Übertragung der Gesellschafteranteile auf eine durch ihn zu bestimmende dritte Person vereinbart.

Nach Kündigung des Darlehns hatte Z. die Sicherheit in Anspruch genommen und den D. als neuen Mehrheitsgesellschafter eingesetzt. Dieser hatte als Arzt die Möglichkeit, ein MVZ zu betreiben und handelte von Z. gesteuert als dessen Strohmann.

Dem F. war dieser Plan bekannt gewesen.

Trotz Kenntnis davon, dass das MVZ aufgrund der faktischen Beherrschung durch den Z. nicht zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt gewesen war und somit dessen Leistungen auch gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) nicht abrechnungsfähig gewesen waren, stellten die Angeklagten mehrere Quartalsabrechnungen und hatten sich die Beträge durch die KV auszahlen lassen.

Der Z. hatte zudem als Apotheker bei der Techniker Krankenkasse über eine Verrechnungsstelle mehrere in seiner Apotheke eingelöste Verordnungen abgerechnet, obwohl auch diese von den Ärzten des MVZ ausgestellten Rezepte nicht anrechenbar gewesen waren.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte weitestgehend die Verurteilung der Angeklagten durch das LG.

Das LG habe zu Recht eine konkludente Täuschung der Mitarbeiter der KV darin gesehen, dass die Angeklagten die Abrechnungen eingereicht hatten. Bei der Abrechnung von ärztlichen Leistungen sei es in der Rechtsprechung anerkannt, dass der Arzt aufgrund seiner Vertrauensstellung durch die vertragsärztliche Zulassung mit der Abrechnung konkludent zum Ausdruck bringe, die rechtlichen Voraussetzungen der Abrechenbarkeit seien eingehalten. Diese erhöhte Erwartungshaltung an ärztliche Abrechnungserklärungen lasse sich schon mit der Bestätigungspflicht aus § 45 Abs. 1 BMV-Ä rechtfertigen, die letztlich eine Garantiepflicht des Vertragsarztes begründe.

Auch die Einmalige Zulassung durch die Kassenärztliche Vereinigung lasse die Pflicht zur Prüfung der Voraussetzungen der Kassenzulassung bei jedem Abrechnungsvorgang nicht entfallen, da eine rechtswidrige Statusentscheidung der KV jederzeit zurücknehmbar sei, so der BGH.

Ebenfalls sei der Vermögensschaden zutreffend vom LG bejaht worden.

Die kassenärztlichen Vereinigungen seien als Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Lage, Vermögen zu bilden. Die von den Krankenkassen überwiesenen Vergütungen seien ihnen als eigene zugewiesen was dazu führe, dass ihnen ein eigenes Guthaben entstanden sei. Die Gesamtvergütungen stellten keinen bloßen Durchlaufposten vor der Honorarverteilung an die Ärzte dar.

Da die Angestellten der KV auf eine tatsächlich nicht bestehende Verbindlichkeit an die Ärzte die Vergütungen geleistet hätten, sei der KV auch kein gleichwertiges Äquivalent zugeflossen, sodass ein Vermögensschaden nach der Gesamtsaldierung anzunehmen sei.

Auch der Gegenwert der ärztlichen Leistung könne nicht schadensmindernd in Abzug gebracht werden, da dieser bereits vor der betrugsrelevanten Abrechnung entstanden sei. Strafrechtlich bemakelt sei nicht die Art und Weise der ärztlichen Leistungserbringung, sondern lediglich deren Abrechnung unter Täuschung darüber, dass die sozialrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorlägen.

Auch etwaige ersparte Aufwendungen der KV durch die gleiche Behandlung bei einem anderen Arzt seien als hypothetische Annahmen bei der Schadensberechnung nicht relevant.

Auch die Wertungen des LG zum Betrug zu Lasten der Techniker Krankenkasse hielten der revisionsrechtlichen Prüfung stand.

Der BGH korrigierte im Wesentlichen lediglich die konkurrenzrechtliche Bewertung der Taten durch das LG sowie die Einziehungsentscheidung.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der BGH 2017 entschieden, dass sog. Kick-Back-Zahlungen und Übermengenbestellungen durch ein MVZ den Betrugstatbestand erfüllen.  Die Entscheidung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 78/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 275/20: Einordnung einer Schrift als kinderpornographisch ausschließlich nach objektiven Kriterien

Amtlicher Leitsatz:

Eine sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes gemäß § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB liegt vor, wenn die genannten Körperteile aus Sicht eines durchschnittlichen Betrachters in sexuell motivierter Weise im Blickfeld stehen. Hierfür sind die aus der Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB) zu entnehmenden Umstände heranzuziehen; auf die daraus nicht ersichtlichen Beweggründe der die Wiedergabe erstellenden oder damit umgehenden Person kommt es nicht an.

Sachverhalt:

Das LG Duisburg hat den Angeklagten wegen Besitzverschaffung an einer kinderpornographischen Schrift verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte Bilder vom unbekleideten Gesäß eines fünf- bis neunjährigen Mädchens aus dem Internet auf sein Mobiltelefon geladen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH konnte in der Einordnung der Bilder als kinderpornographische Schriften durch das LG keine Rechtsfehler erkennen.

Sexuell aufreizend sei eine Wiedergabe, die eine sexuell konnotierte Fokussierung auf die näher bezeichneten unbekleideten Körperregionen eines Kindes enthalte. Demnach müsse die Abbildung des Körperteils über eine neutrale Darstellung, wie beispielsweise bei unverfänglichen Urlaubsfotos sowie medizinischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Abbildungen, hinausgehen.

Für diese Abgrenzung seien jedoch ausschließlich die sich aus der Schrift ergebenden Umstände relevant. Auf die Intention der die Wiedergabe erstellenden oder damit umgehenden Person komme es gerade nicht an.

Dafür spreche zum einen der Wortlaut, der als Bezugsobjekt auf die „sexuell aufreizende Wiedergabe“ abstelle und gerade nicht auf davon losgelöste Umstände.

Auch systematische Erwägungen stützten dieses Ergebnis, so der BGH, da ansonsten ein und dieselbe Schrift je nach Intention des Erstellers bzw. Besitzers mal als kinderpornographisch einzuordnen sei und mal nicht. Eine solche subjektivierte Betrachtungsweise eines objektiven Tatbestandsmerkmals sei im Gesetz nicht angelegt.

Gleiches fordere auch die Historie und der Zweck des Gesetzes.

Anmerkung der Redaktion:

Der Wortlaut des § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB war im Januar 2015 durch das Neunundvierzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches eingefügt worden, um europäische Vorgaben zum Sexualstrafrecht umzusetzen.

Näheres zum Gesetz und der Richtlinie finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 77/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 1 StR 58/19: Beginn der Verjährungsfrist des Vorenthaltens oder Veruntreuens von Arbeitsentgelt

Amtlicher Leitsatz:

Die Verjährung jeder Tat des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 StGB beginnt mit dem Verstreichen des Fälligkeitszeitpunktes für jeden Beitragsmonat nach § 23 Abs. 1 SGB IV.

Sachverhalt:

Das LG Kiel hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und wegen Steuerhinterziehung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als Bauunternehmer Arbeiter beschäftigt ohne sie der zuständigen Einzugsstelle der Sozialversicherung anzumelden.

Daneben hatte er auch Beiträge zur berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung nicht abgeführt und gegenüber dem Finanzamt Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag verkürzt.

In einigen Fällen der Urteilsgründe hatte der Fälligkeitszeitpunkt für die Zahlungen der Sozialversicherungsbeiträge zwischen dem 29. Januar 2007 und dem 29. Mai 2008 gelegen. Die unvollständige Meldung an die Berufsgenossenschaft war am 6. Februar 2008 erfolgt und die unrichtigen Steuererklärungen hatte der Angeklagte zwischen dem 5. April 2007 und dem 9. April 2008 gegenüber dem Finanzamt abgegeben. 

Die Strafverfolgungsverjährung war durch einen Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Kiel vom 25. Januar 2012 im Hinblick auf sämtliche Taten unterbrochen worden. Die Anklage war am 28. Oktober 2016 beim Landgericht eingegangen und das Hauptverfahren mit Beschluss vom 30. Mai 2018 eröffnet worden.

Entscheidung des BGH:

In allen oben aufgeführten Fällen stellte der BGH das Verfahren gem. § 206a Abs. 1 StPO ein, da Verfolgungsverjährung eingetreten sei.

In den Fällen der Steuerhinterziehung sei es der Zeitpunkt der Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung, der gleichzeitig zur sofortigen Tatvoll- und -beendigung führe.

Daher seien die Taten zwischen dem 5. April 2007 und dem 9. April 2008 beendet gewesen und die Verjährungsfrist habe 5 Jahre betragen. Der Ablauf dieser Frist sei durch den Durchsuchungsbeschluss am 25. Januar 2012 und die Anklageerhebung am 28. Oktober 2016 unterbrochen worden. Die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung war allerdings erst am 30. Mai 2018 erfolgt. Aus diesem Grund sei bei allen Taten bereits die absolute Verjährung eingetreten, § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB. Damit sei ein Ruhen der Verjährung durch den Eröffnungsbeschluss gem. § 78b Abs. 4 StGB nicht mehr möglich gewesen. Gleiches gelte für das Urteil vom 29. August 2018 nach § 78b ABs. 3 StGB.

Auch in den übrigen Fällen des Vorenthaltens und Verkürzens von Arbeitsentgelt und Beiträgen zur berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung sei Verfolgungsverjährung eingetreten.

Unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung ging der Senat davon aus, dass die Verjährungsfrist bei Taten nach § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB schon mit dem Verstreichenlassen des Fälligkeitszeitpunktes nach § 23 Abs. 1 SGB IV für jeden Beitragsmonat zu laufen beginne.

Bei echten Unterlassungsdelikten wie den hier in Rede stehenden §§ 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB liege der für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebliche Zeitpunkt der Tatbeendigung dann vor, wenn die Pflicht zum Handeln entfalle, also die Strafbarkeit des Täterverhaltens ende.

Dies beurteile sich nach der Auslegung des jeweiligen Tatbestandes. 

Mit dem Verstreichenlassen der Zahlungsfrist für die Beiträge zur Sozialversicherung seien Taten nach § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB daher vollendet und nach seiner jetzigen Rechtsprechung auch beendet, so der BGH.

Auf das Entfallen der Beitragspflicht soll demnach in Zukunft nicht mehr abgestellt werden.

Dieses Ergebnis begründet der Senat damit, dass im Zeitpunkt der nicht pünktlichen Zahlung die Rechtsgutsverletzung bereits irreversibel eingetreten sei und durch weitere Passivität auch nicht vertieft werden könne.

Daher gebe es keine Strafbewehrung des weiteren Unterlassens nach Vollendung des Tatbestands, auch nicht mit der Begründung einer Erhöhung des Verspätungsschadens. Da somit in diesem Zeitpunkt auch die strafbewehrte Pflicht zur Beitragsentrichtung entfalle, sei die Tat gleichzeitig beendet.

Die sozialversicherungsrechtlich weiterhin bestehende Pflicht zur Beitragszahlung sei davon unabhängig und stehe somit einer früheren Tatbeendigung auch nicht entgegen.

Diese Auslegung ermögliche zudem einen weitestgehenden Gleichlauf der Verjährungsfristen der §§ 266a Abs. 2 StGB und 370 Abs. 1 AO.

Gegen die vorherige Rechtsprechung spreche nach Ansicht des BGH zudem, dass der Anspruch auf Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge erst nach 30 Jahren verjähre, was dann zu einer möglichen Gesamtverjährungsfrist von über 35 Jahren führen könnte. Dies sei im Hinblick auf den Unrechtsgehalt des Delikts nicht angemessen.

Daneben führe die vorherige Rechtsprechung zu einer Benachteiligung von Einzelunternehmen, da § 266a StGB als Sonderdelikt nur vom Arbeitgeber erfüllt werden könne. Für dessen Kenntnis werde bei juristischen Personen als Arbeitgeber auf die vertretungsberechtigten Organe bzw. deren Mitglieder oder Gesellschafter abgestellt. Mit dem Ausscheiden dieser aus dem Unternehmen könne somit ein Beginn der Verjährungsfrist herbeigeführt werden, was dem Einzelunternehmer nicht möglich sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der erste Strafsenat hatte bei den anderen Senaten angefragt, ob an etwaiger entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten werde.

Diese hatten sich unter Aufgabe etwa entgegenstehender Rechtsprechung angeschlossen (Beschluss vom 15. Juli 2020 – 2 ARs 9/20; Beschluss vom 2. Juli 2020 – 4 ARs 1/20; Beschluss vom 6. Februar 2020 – 5 ARs 1/20). 

Den KriPoZ-RR Beitrag zum Anfragebeschluss finden Sie hier.

 

 

Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften

Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juni 2021: BGBl I 2021 Nr. 37, S. 2099 ff.

Gesetzentwürfe: 

 

Das BMJV hat am 15. Oktober 2020 einen Referentenentwurf zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften veröffentlicht. 

Unter Fortentwicklung soll das Anliegen verstanden werden, „das Strafverfahren an die sich ständig wandelnden gesellschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen anzupassen und so dafür Sorge zu tragen, dass die Strafrechtspflege ihre wesentlichen verfassungsrechtlichen Aufgaben – die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch den Freispruch des Unschuldigen – zum Schutz der Bürger in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren zu erfüllen vermag.“ 

An erster Stelle soll daher das Recht des Ermittlungsverfahrens an den entsprechenden Stellen modernisiert und Regelungslücken auf dem Sektor der Ermittlungsbefugnisse geschlossen werden. 

Der Entwurf sieht daher einen umfangreichen Katalog an Änderungen, bzw. Erweiterungen in verschiedenen Bereichen vor: 

Ermittlungsverfahren:

  • Einsatz sog. automatisierter Kennzeichenlesesysteme (AKLS) zu Fahndungszwecken:

§ 163g StPO-E – Automatische Kennzeichenerfassung zu Fahndungszwecken

„(1) An bestimmten Stellen im öffentlichen Verkehrsraum dürfen ohne das Wissen der betroffenen Personen amtliche Kennzeichen von Kraftfahrzeugen sowie Ort, Datum, Uhrzeit und Fahrtrichtung durch den Einsatz technischer Mittel automatisch erhoben werden, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen worden ist und die Annahme gerechtfertigt ist, dass diese Maßnahme zur Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten führen kann. Die automatische Datenerhebung darf nur vorübergehend und nicht flächendeckend erfolgen. 

(2) Die nach Maßgabe von Absatz 1 erhobenen amtlichen Kennzeichen von Kraftfahrzeugen dürfen automatisch abgeglichen werden mit Halterdaten von Kraftfahrzeugen, 

1. die auf den Beschuldigten zugelassen sind oder von ihm genutzt werden, oder 

2. die auf andere Personen als den Beschuldigten zugelassen sind oder von ihnen genutzt werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie mit dem Beschuldigten in Verbindung stehen oder eine solche Verbindung hergestellt wird, und die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise erheblich weniger erfolgsversprechend oder wesentlich erschwert wäre. 

Der automatische Abgleich hat unverzüglich nach der Erhebung nach Absatz 1 zu erfolgen. Im Trefferfall ist unverzüglich die Übereinstimmung zwischen den erhobenen amtlichen Kennzeichen und den in Satz 1 bezeichneten Halterdaten manuell zu überprüfen. Wenn kein Treffer vorliegt oder die manuelle Überprüfung den Treffer nicht be-stätigt, sind die erhobenen Daten sofort und spurenlos zu löschen. 

(3) Die Anordnung der Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ergeht schriftlich. Sie muss das Vorliegen der Voraussetzungen der Maßnahmen darlegen und diejenigen Halterdaten, mit denen die automatisch zu erhebenden Daten nach Absatz 2 Satz 1 abgeglichen werden sollen, genau bezeichnen. Die bestimmten Stellen im öffentlichen Verkehrsraum (Absatz 1 Satz 1) sind zu benennen und die Anordnung ist zu befristen. 

(4) Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor oder ist der Zweck der Maßnahmen erreicht, sind diese unverzüglich zu beenden.“ 

  • Erweiterung der Befugnis im Rahmen der Postbeschlagnahme in § 99 Abs. 2 StPO-E (einen ähnlichen Vorstoß gab es bereits aus dem Freistaat Bayern, BR Drs. 401/20): 

„(2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 ist es auch zulässig, von Personen oder Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskunft über Postsendungen zu verlangen, die an den Beschuldigten gerichtet sind, von ihm herrühren oder für ihn bestimmt sind. Die Auskunft umfasst ausschließlich die aufgrund von Rechtsvorschriften außerhalb des Strafrechts erhobenen Daten, soweit sie Folgendes betreffen: 

1. Namen und Anschriften von Absendern und Empfängern, 
2. Art des in Anspruch genommenen Postdienstes,
3. Maße und Gewicht der jeweiligen Postsendung sowie
4. Zeit- und Ortsangaben zum jeweiligen Postsendungsverlauf. 

Auskunft über den Inhalt der Postsendung darf darüber hinaus nur verlangt werden, wenn die in Satz 1 bezeichneten Personen oder Unternehmen davon auf rechtmäßige Weise Kenntnis erlangt haben. Auskunft nach den Sätzen 2 und 3 müssen sie auch über solche Postsendungen erteilen, die sich noch nicht oder nicht mehr in ihrem Gewahrsam befinden.“ 

  • Einschränkungen bei den Rechtsinstituten der Sicherheitsleistung und des Zustellungsbevollmächtigten (§ 132 StPO)
  • Vereinheitlichung des Begriffs der Nachtzeit im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung (§ 104 Abs. 3 StPO):

„(3) Die Nachtzeit umfasst den Zeitraum von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens.“ 

  • Anpassung des § 114b StPO (Belehrung des verhafteten Beschuldigten) und gleichzeitig die Reform der Vernehmungsvorschriften (§§ 136, 163a StPO), u.a. die ausdrückliche Regelung der Vernehmung im Ermittlungsverfahren mit Hilfe von Bild- und Tonübertragung (§ 58b StPO)

Ergänzende Regelungen im Bereich der Reform des Strafverfahrens seit 2017

  • Nachsteuerung bei der Vermögensabschöpfung (Änderungen im StGB, in der StPO, im RPflG, im EGStGB, in der AO und im EGAO), insbesondere soll der Ausschlusstatbestand des § 73e Abs. 1 StGB ergänzt werden 
  • Änderungen und Ergänzungen im Rahmen der Einführung der elektronischen Akte
  • Änderungen im Gerichtsdolmetschergesetz
  • Streichung irrtümlicher Doppelungen in § 479 StPO – Übermittlungsverbote und Verwendungsbeschränkungen (Streichung des Abs. 3, der fast wortgleich mit § 100e Abs. 6 Nr. 2 und § 101a Abs. 4 S. 1 Nr. 2, S. 2 bis 5 StPO ist)

Sonstige Korrekturen und Anpassungen, u.a.

  • Einführung einer Definition des Verletzten in der StPO (§ 373b StPO-E)
  • Stärkung des Zeugenschutzes in Bezug auf personenbezogene Daten (§§ 68, 200, 222 StPO)
  • Neuregelung im Rahmen der Protokollierung richterlicher und ermittlungsbehördlicher Untersuchungshandlungen (§§ 168 bis 168b StPO)

„§ 168aStPO-E  Art der Protokollierung; Aufzeichnungen 

Die Absätze 2 bis 4 werden durch die folgenden Absätze 2 bis 5 ersetzt: 

(2) Wird das Protokoll während der Verhandlung erstellt, so ist es den an der Verhandlung beteiligten Personen, soweit es sie betrifft, zur Genehmigung auf einem Bildschirm anzuzeigen, vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen, soweit sie nicht darauf verzichten. Die Genehmigung und ein etwaiger Verzicht sind zu vermerken. 

(3) Wird die Verhandlung in Bild und Ton oder nur in Ton aufgezeichnet, so kann das Protokoll während der Verhandlung nach Maßgabe des Absatzes 2 oder nach Beendigung der Verhandlung anhand der Aufzeichnung erstellt werden. Wird das Protokoll nach Beendigung der Verhandlung in Form einer Zusammenfassung ihres Inhalts erstellt, so ist es den an der Verhandlung beteiligten Personen zur Genehmigung zu übermitteln, soweit sie nicht darauf verzichtet haben. Wird eine wörtliche Übertragung vorgenommen oder eine maschinelle Übertragung von einer Person überprüft, so versieht diese Person die Übertragung mit ihrem Namen und dem Zusatz, dass die Richtigkeit der Übertragung bestätigt wird. 

(4) Wird die Verhandlung in Form einer Zusammenfassung ihres Inhalts vorläufig aufgezeichnet, so ist die vorläufige Aufzeichnung den beteiligten Personen zur Genehmigung auf einem Bildschirm anzuzeigen, vorzuspielen, vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen, soweit sie nicht darauf verzichten. In dem nach Beendigung der Verhandlung gemäß Absatz 3 Satz 3 zu erstellenden Protokoll sind das jeweilige Vorgehen, ein etwaiger Verzicht und die Genehmigung zu vermerken. 

(5) Aufzeichnungen nach Absatz 3 und vorläufige Aufzeichnungen nach Absatz 4 sind zu den Akten zu nehmen oder, wenn sie sich nicht dazu eignen, bei der Geschäftsstelle mit den Akten aufzubewahren. Der Nachweis der Unrichtigkeit des Protokolls anhand der Aufzeichnung ist zulässig.“ 

  • Stärkung der Rechte des Verteidigers bei Beschuldigtenvernehmungen (§ 168c StPO)

Satz 3: „Die Benachrichtigung des Verteidigers von der richterlichen Vernehmung des Beschuldigten unterbleibt nur, wenn sie den Untersuchungserfolg erheblich gefährden würde.“ 

  • Einführung des Schutzguts der sexuellen Selbstbestimmung in das GewSchG

Am 20. Januar 2021 hat die Bundesregierung den Referentenentwurf des BMJV beschlossen. Justizministerin Christine Lambrecht dazu:

„Wir müssen Betroffene bestmöglich vor Gewalt schützen. Deshalb sollen in Zukunft nicht nur Verletzungen und Bedrohungen des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit vom Gewaltschutzgesetz erfasst sein, sondern auch Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung. Die Zivilgerichte können künftig auch in solchen Fällen unter anderem anordnen, dass der Täter die gemeinsame Wohnung verlässt und sich dem Opfer nicht mehr nähert. Ein Verstoß gegen solche Schutzanordnungen ist mit Strafe bedroht. Zeugen im Strafverfahren sollen keine Angst vor einer Aussage haben. Die vollständige Anschrift von Zeugen im Strafverfahren soll deshalb besser geschützt werden. In bestimmten Fällen soll die Staatsanwaltschaft außerdem eine Auskunftssperre veranlassen, um zu verhindern, dass bei gefährdeten Zeugen die vollständige Anschrift über eine Abfrage bei der Einwohnermeldebehörde des Wohnorts erlangt werden kann.“

Der Regierungsentwurf enthält im Vergleich zum Referentenentwurf einige Erweiterungen für das Entwicklungsprogramm im Bereich der StPO: 

  • Schaffung einer Zurückstellungsmöglichkeit der Benachrichtigung des Beschuldigten bei der Beschlagnahme (§ 95a StPO-E) und Folgeänderungen in § 110 StPO
  • Erweiterung der TKÜ auf die Steuerhinterziehung in großem Ausmaß, wenn der Täter die Tat als Mitglied einer Bande begeht (§ 100a Abs. 2 Nr. 2 lit. a StPO)
  • Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 StPO) bei besonders langer Urteilsabsetzungsdauer
  • Anpassung der Vorschrift zum Urteilsverkündungstermin (§ 268 StPO)
  • Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Strafvollstreckungsverfahren (§ 463e StPO-E)

Am 14. April 2021 fand im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eine öffentliche Anhörung statt, bei der die Experten den Entwurf unterschiedlich bewerteten. Eine Liste der Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier

Stefan Conen vom Deutschen Anwaltverein (DAV) bewertet den Entwurf äußerst kritisch. Es handele sich in kurzer Abfolge um den dritten Entwurf dieser Legislaturperiode, der seinem Titel nach den Anschein zu erwecken suche, eine kohärente Fortschreibung der Strafprozessordnung für künftige Herausforderungen in Angriff zu nehmen. An dieser Aufgabe scheiterten jedoch alle bisherigen Entwürfe, so Conen. Konkret lehne der DAV die geplante Anpassung der Belehrungsvorschriften ab, weil sie rechtsstaatlich untauglich sei und dem Beschuldigten nicht den europäischen Mindeststandard garantiere. Ebenfalls lehnte er die vorgesehene Regelung der Geheimhaltung und Zurückstellung von Benachrichtigungen bei Beschlagnahme und Durchsuchung ab. Änderungen sieht er laut der Stellungnahme bei der Einführung automatisierter Kfz-Kennzeichenabgleichsysteme und bei der Ausdehnung des Verletztenbegriffes für unerlässlich.

Dilken Çelebi, Deutscher Juristinnenbund (djb), nannte die Einführung einer Legaldefinition des Begriffs der „Verletzten“ in der StPO einen wichtigen Schritt zur Umsetzung der EU-Opferschutzrichtlinie. Daneben bewertete sie die Verbesserung des Schutzes der Zeuginnen und Zeugen, die zugleich Verletzte und deshalb potentiell in größerer Gefahr seien, durch die Änderungen bezüglich der Angaben zu Wohn- und Aufenthaltsort, positiv. Es mangele dem djb jedoch an einem Anspruch für erwachsene Verletzte eines sexuellen Übergriffs und von Partnerschaftsgewalt auf kostenfreie anwaltliche Vertretung und psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren.

Ali Norouzi, ebenfalls Mitglied im Strafrechtsausschuss des DAV, sah den Entwurf ebenfalls sehr kritisch. Er wolle angesichts des Entwurfs eines „Pizza-mit-Allem-Gesetz“ nicht in Rechtsstaatspessimismus verfallen. Viele Kritikpunkte seien bereits angesprochen worden, weshalb er die Regelung zur Revisionsbegründungspflicht hervorhob, die der einzige Lichtblick des Entwurfs sei.

Christoph Knauer, BRAK, plädierte für Änderungen des Entwurfs, da er als „Flickwerk“gerade nicht der umfassende große Wurf sei, wie er eigentlich nötig sei. Einseitige, verkürzte und unterkomplexe Begründungen für Änderungen seien vor dem Hintergrund der Bedeutsamkeit der Beschuldigtenrechte für den Einzelnen nicht brauchbar. Die Einführung der Zurückstellung der Benachrichtigung des Beschuldigten sei sehr kritisch zu bewerten, so Knauer. Damit werde mit dem Prinzip gebrochen, dass spätestens mit einer Zwangsmaßnahme das Ermittlungsverfahren dem Beschuldigten transparent zu machen ist, um ihm Rechtsschutz zu ermöglichen.

Gerwin Moldenhauer, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, sprach sich für das Ziel des Gesetzgebers aus, das Strafprozessrecht in einer Vielzahl von Einzelaspekten behutsam zu modernisieren. Hervorzuheben sei, dass der Entwurf insbesondere wichtige neue Ermittlungsinstrumente wie beispielsweise die retrograde Auskunft von Postdienstleistern oder die automatische Kennzeichenerfassung biete und bestehende Instrumente nachjustiere. Im Gegensatz zu Knauer sah er die Möglichkeit zur Zurückstellung der Benachrichtigung des Beschuldigten auf richterliche Anordnung hin als sehr wertvoll an.

Alexander Ecker, Oberstaatsanwalt von der Generalstaatsanwaltschaft München, kritisierte, dass die Ermächtigungsgrundlage für die Abfrage von Sendungsdaten bei Postdienstleistern zur Bekämpfung des organisierten Handels mit illegalen Waren nicht weitreichend genug ausgestaltet sei. Die Befugnis der Strafverfolgungsbehörden zur automatischen Erhebung von Fahrzeugkennzeichen sei ebenfalls viel zu eng gefasst, weshalb der praktische Anwendungsbereich damit äußerst begrenzt sei.

Schließlich bewertete Bernard Südbeck, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück, die geplante Zurückstellung der Benachrichtigung des Beschuldigten positiv. Sie schließe eine bestehende Lücke, wodurch bisher bestehende Schwierigkeiten bei der Ermittlung in Fällen der Kinderpornografie, des Drogenhandels und zahlreichen Delikten im Darknet, gelöst würden. Zudem begrüßte er die weiteren Regelungen zur Verbesserung der Arbeit der Ermittlungsbehörden.

Axel Isak, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Baden-Baden, mahnte weiteren Diskussionsbedarf bei diesen Regelungen an.

Am 10. Juni 2021 hat der Bundestag den Regierungsentwurf in der vom Rechtsausschuss geänderten Fassung (BT Drs. 19/30517) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Am 25. Juni 2021 passierte der Entwurf auch den Bundesrat. Das Gesetz wird nun dem Bundespräsidenten zur Unterschrift zugeleitet. 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 76/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 29.07.2020 – 4 StR 49/20: Selbstaufnahmen des Tatopfers können § 201a Abs. 1 Nr. 4 unterfallen

Amtlicher Leitsatz:

Selbstaufnahmen des Tatopfers können Gegenstand der unbefugten Weitergabe im Sinne des § 201a Abs. 1 Nr. 4 StGB sein.

Sachverhalt:

Das LG Paderborn hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Sichverschaffen einer kinderpornographischen Schrift in elf Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit Nötigung, Sichverschaffens einer kinderpornographischen Schrift in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, versuchter Nötigung in fünf Fällen, Nötigung in Tateinheit mit Sichverschaffen einer jugendpornographischen Schrift in fünf Fällen sowie Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen in fünf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit öffentlichem Zugänglichmachen einer jugendpornographischen Schrift und in einem Fall in Tateinheit mit Drittbesitzverschaffung an einer jugendpornographischen Schrift zu einer Jugendstrafe verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte von den Opfern selbst aufgenommene Bilder, die ihm befugtermaßen überlassen worden sind, unbefugterweise an Dritte weitergeleitet.

Dies hat das LG als Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen nach § 201a Abs. 1 Nr. 4 StGB gewertet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung. Der Wortlaut der Norm erfordere nicht, dass sämtliche Voraussetzungen der in Bezug genommenen Nummern erfüllt sein müssten.

Vielmehr beschränke sich die Bezugnahme auf die Art der Bildaufnahme als Tatobjekt und nicht auf den Akt ihrer Herstellung. Ebenfalls spreche die Systematik der Norm gegen eine einschränkende Auslegung, da die Nr. 3 des Tatbestands explizit auf eine „durch eine Tat nach den Nummern 1 oder 2 hergestellte Bildaufnahme“ abstellt. Dies mache die Nr. 4 des § 201a Abs. 1 StGB gerade nicht.

Eine Erfassung von Selbstaufnahmen entspreche auch Sinn und Zweck der Vorschrift, da der wesentliche Unrechtsgehalt bei dieser Variante nicht im Herstellen der Aufnahmen, sondern in deren unbefugter Verbreitung liege. Dieser Vertrauensmissbrauch schädige das Rechtsgut nämlich unabhängig davon, wer ursprünglich Hersteller der Aufnahmen war, so der BGH.

Auch die Gesetzesmaterialien ließen keinen Schluss auf eine Einschränkung der Norm erkennen. Im Gegenteil habe der Gesetzgeber 2015 den Anwendungsbereich der Norm durch das 49. Strafrechtsänderungsgesetz sogar ausweiten wollen. Daher sei eine Herausnahme von selbst hergestellten Bildern aus dem Schutzbereich der Norm im Ergebnis nicht begründbar.

 

Anmerkung der Redaktion:

Durch das 49. StrafÄndG ist § 201a StGB neu gefasst worden. Das Gesetz finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 75/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 30.06.2020: 3 StR 377/18: § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG beim Versuch und Verzicht auf Verwertungsverbot des § 252 StPO

Amtliche Leitsätze:

  1. Die Anwendung des Strafrahmens gemäß § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG ist auch möglich, wenn der Mord nicht vollendet, sondern nur versucht ist.

  2. Zum (Teil-)Verzicht eines Zeugen auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO.

Sachverhalt:

Das LG Lüneburg hat die Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten die Angeklagten geplant den Nebenkläger zu töten, weil dieser eine Beziehung mit der Schwester des einen Angeklagten führt, was die beiden als Kränkung der Familienehre empfunden hatten.

Sie hatten das Opfer daraufhin vor die Tür gelockt, wo sie ihm mit einer Maschinenpistole in die Brust geschossen hatten, was der Nebenkläger jedoch letztlich überlebt hatte. Nur aufgrund von Ladehemmungen, konnten die Angeklagten ihren Plan nicht bis zum Ende ausführen.

Im Anschluss daran hatte der Nebenkläger im Krankenhaus gegenüber der Polizei und später dem Ermittlungsrichter eine Aussage getätigt. Nach der Heirat mit der Schwester des Angeklagten hatte er sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO berufen, jedoch die Verwertung seiner richterlichen Vernehmung gestattet, nicht aber die der polizeilichen Vernehmung. Das LG hat dennoch den Beweisantrag bezüglich der polizeilichen Vernehmung abgelehnt, da der Verzicht auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO nicht die polizeiliche Vernehmung umfasse.

Entscheidung des BGH:

Diese Entscheidung bestätigte der BGH. Es sei unzulässig gewesen, die polizeiliche Vernehmung in den Prozess einzuführen, da sich der Nebenkläger wirksam auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 StPO berufen habe und daher der Polizeibeamte nicht im Prozess vernommen werden durfte. § 252 StPO garantiere nicht nur einen Verzicht auf die Verlesung des Protokolls der Vernehmung, sondern auch auf eine Vernehmung der Verhörsperson im Prozess. Eine Entscheidung über die Möglichkeit eines (Teil-)Verzichts auf das Verwertungsverbot sei hier nicht geboten gewesen, da sich bei einer etwaigen Unwirksamkeit ein umfassendes Verwertungsverbot bezüglich der polizeilichen Vernehmung ergeben hätte. Dies ergebe sich daraus, dass der Zeuge nicht in Kenntnis der Reichweite seiner Entscheidung auf das Verwertungsverbot verzichtet habe. Im Gegenteil wollte er gerade von diesem Recht Gebrauch machen und keinen Zugriff auf alle früheren Aussagen zulassen. Sollte nun ein Teilverzicht rechtlich als unzulässig anzusehen sein, könne dieser Irrtum dem Zeugen nicht angelastet werden und im Zweifelsfall sei seine gesamte Aussage unverwertbar, so der BGH. Da das LG hier von einer Unverwertbarkeit der polizeilichen Vernehmung ausgegangen sei und die Verwertung der richterlichen Vernehmung nicht gerügt worden sei, müsse diese Streitfrage aber letztlich nicht entschieden werden.

Im Weiteren führte der BGH aus, dass die Anwendung des Strafrahmens des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG für den heranwachsenden Angeklagten nicht auf Bedenken stoße. Es entspreche der Regelungstechnik, dass ein Verweis auf eine Strafnorm auch ihren strafbaren Versuch und etwaige weitere Erscheinungsformen erfasse. Beispielsweise gelte die Zuweisung von Verbrechen des Mordes an das Schwurgericht gem. § 74 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG auch für versuchte Morde.

Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich nichts Anderes, sodass auch versuchte Mordstraftaten genauso schwer wiegen können, wie ein vollendeter Mord. Daher sei die Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG unproblematisch möglich gewesen.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 74/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 214/20: Nebenkläger können Freispruch erstreben

Amtlicher Leitsatz:

Die Befugnis, sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen, entfällt nicht dadurch, dass der Nebenkläger in der Hauptverhandlung die Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) des Angeklagten in Zweifel ziehende Anträge stellt und letztlich dessen Freispruch erstrebt.

Sachverhalt:

Am LG Koblenz ist ein Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil seiner Pflegeeltern geführt worden.

Diese hatten sich als Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen, was das LG als zulässig angesehen hatte. Nachdem die Nebenkläger daraufhin im Hauptverfahren mehrere Anträge gestellt hatten, die die Schuldfähigkeit oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten in Frage gestellt hatten, um dessen Freispruch zu erreichen, hatte das LG die Zulassung als Nebenkläger aufgehoben, da es in so einem Fall an einer Anschlussbefugnis nach § 395 Abs. 1 bis 3 StPO fehle. Hiergegen wendeten sich die Nebenkläger zum BGH, da ihnen das Urteil und die Revisionsschrift des Angeklagten nicht zugestellt worden war und der BGH so nicht über die Revision entscheiden könne.

Entscheidung des BGH:

Der BGH entschied, dass die Aufhebung der Zulassung als Nebenkläger rechtswidrig gewesen sei und das Urteil sowie die Revisionsschrift den Nebenklägern zugestellt werden müsse.

Die Anschlussberechtigung der Pflegeeltern habe weiter fortbestanden und ergebe sich aus § 80 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 JGG.

Sowohl der § 80 JGG als auch § 395 StPO fordern lediglich, die Verletzung des Nebenklägers durch die verfahrensgegenständliche rechtswidrige Tat des Angeklagten.

Weder der Wortlaut der Normen noch deren systematischer Zusammenhang forderten darüber hinaus ein bestimmtes vom Nebenkläger zu verfolgendes Ziel oder ein bestimmtes Prozessverhalten.

Dies ergebe sich schon daraus, dass § 400 StPO die Rechte der Nebenkläger nur für konkrete Sonderfälle beschränke und keinen Rückschluss auf eine allgemeine Beschränkung der Nebenklagebefugnis zulasse. Es müsse zwischen Zulassung zur Nebenklage und zulässiger Einlegung eines Rechtsmittels durch die Nebenkläger unterschieden werden, was nicht heißte, dass pauschal jedes Rechtsmittel der Nebenkläger zugunsten des Angeklagten unzulässig sei. Beispielsweise könne der Nebenkläger eine Unterbringung nach § 63 StGB erreichen wollen.

Auch dass der Nebenkläger sich der Klage „anschließe“ bedeute aufgrund seiner eigenen prozessualen Rechte nicht, dass er auch das Ziel der Anklage teilen müsse. Vielmehr sollten ihm seine Rechte ermöglichen, auf eine sachgerechte Aufklärung der Tat durch das Gericht hinzuwirken. Wie er dies zu tun gedenke, sei seine eigene Entscheidung. Dies sei auch Ziel der Gesetzesnovelle durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 gewesen, das die Vorstellung einer doppelt besetzten Anklagerolle explizit aufgegeben habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

So hatte auch schon der 4. Strafsenat entschieden: BGH, Beschl. v. 12.07.1990 – 4 StR 247/90.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 73/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 469/19: Strafrahmenwahl bei § 30a Abs. 3 BtMG und § 29a Abs. 1 BtMG

Amtlicher Leitsatz:

Der Senat schließt sich der Rechtsprechung an, wonach ausschließlich die Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG eine Sperrwirkung entfaltet, die Strafrahmenobergrenze jedoch dem § 30a Abs. 3 BtMG zu entnehmen ist, wenn zwar ein minder schwerer Fall gemäß § 30a Abs. 3 BtMG, nicht aber ein solcher gemäß § 29a Abs. 1 BtMG vorliegt; an seiner abweichenden Auffassung hält er nicht mehr fest (Aufgabe BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 2013 – 3 StR 143/13; vom 3. Februar 2015 – 3 StR 632/14; Urteil vom 7. September 2017 – 3 StR 278/17).

Sachverhalt:

Das LG Hannover hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition verurteilt, wobei es die Strafe dem Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe entnommen hat. Einen minder schweren Fall nach § 30a Abs. 3 BtMG hat es bejaht, einen nach § 29a Abs. 2 BtMG jedoch verneint.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Strafausspruch auf, da das LG von einer Sperrwirkung sowohl der Strafrahmenober- als auch der Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG ausgegangen sei.

Dies entspreche auch durchaus der früheren Rechtsprechung des Senats, an der dieser jedoch nicht mehr festhalten wolle. Er schließe sich nunmehr den anderen Senaten an, die von einer Sperrwirkung lediglich der Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG ausgingen und die Strafrahmenobergrenze dem § 30a Abs. 3 BtMG entnähmen, wenn nach diesem ein minder schwerer Fall vorliege, aber nach § 29a Abs. 1 BtMG gerade nicht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2013 hatte der 2. Strafsenat nach dieser Maßgabe entschieden (BGH, Beschl. v. 14.08.2013 – 2 StR 143/13). Die anderen Senate waren dieser Auffassung gefolgt (BGH, Beschl. v. 07.11.2017 – 1 StR 515/17; Beschl. v. 26.09.2019 – 4 StR 133/19; Urt. v. 12.02.2015 – 5 StR 536/14). Mit seiner Entscheidung schließt sich der 3. Strafsenat nun dieser gemeinsamen Linie an.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 72/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 24.09.2020 – C-195/20 PPU: Grundsatz der Spezialität bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

Amtlicher Leitsatz:

Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten Europäischen Haftbefehls die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.

Sachverhalt:

Der Beschuldigte war in Deutschland in drei verschiedenen Strafverfahren verfolgt worden. Im ersten Verfahren war er im Jahr 2011 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Im zweiten Verfahren wegen einer Tat in Portugal hatte die StA Hannover einen Europäischen Haftbefehl erlassen, da sich der Beschuldigte in Portugal aufgehalten hatte. Nach der Überstellung des Beschuldigten nach Deutschland, wo dieser dann seine Strafe für die zweite Tat von einem Jahr und drei Monaten verbüßt hatte, wurde während der Vollstreckung dieser Haftstrafe die Aussetzung der ersten Strafe zur Bewährung widerrufen. Daraufhin hatte die StA Flensburg bei der portugiesischen Vollstreckungsbehörde beantragt, die im Jahr 2011 verhängte Strafe vollstrecken zu dürfen und daher auf den Grundsatz der Spezialität aus Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/5841 zu verzichten. Eine Antwort aus Portugal hatte die StA nie erhalten und den Verurteilten deshalb freigelassen, was dieser für die Ausreise nach Italien genutzt hatte. Einen Tag nachdem der Verurteilte das Bundesgebiet verlassen hatte, hatte die StA Flensburg dann einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung der ersten Strafe aus dem Jahr 2011 erlassen. Dies hatte zur erneuten Ergreifung und Überstellung nach Deutschland diesmal durch italienische Behörden geführt.

In einem Dritten Verfahren hatte dann das AG Braunschweig einen Haftbefehl wegen einer 2005 in Portugal begangenen Tat gegen den Beschuldigten erlassen. Der daraufhin beantragte Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität war von den italienischen Behörden bewilligt worden, sodass der Beschuldigte daraufhin wegen der Tat aus 2005 und im Hinblick auf die noch zu vollstreckende Strafe aus dem Urteil aus 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war.

Gegen diese Verurteilung hat sich der Verurteilte mit der Revision gewendet und das Revisionsgericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Untersuchungshaftbefehl des AG Braunschweig aufrechterhalten werden könne. Dies hat der Beschuldigte mit dem Argument in Abrede gestellt, dass zwar die italienischen Vollstreckungsbehörden, jedoch nicht die portugiesischen auf den Grundsatz der Spezialität verzichtet hätten.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH beantwortete die Vorlagefrage so, dass Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen seien, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster EHB ergangen sei, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liege, nicht entgegenstehe, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten EHB freiwillig verlassen habe und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten EHB übergeben worden sei, sofern im Rahmen des zweiten EHB die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt habe, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden sei.

Diese Entscheidung sei zum einen das Ergebnis einer wörtlichen Auslegung der Bestimmung, die auf die Übergabe im Singular abstelle, also den Grundsatz der Spezialität eng mit der Vollstreckung eines ganz bestimmten Europäischen Haftbefehls verknüpfe. Ebenfalls würde die Effektivität des Auslieferungsverfahrens behindert, wenn eine Zustimmung beider ausländischen Vollstreckungsbehörden gefordert würde, so der EuGH.

Demnach könne der Haftbefehl des AG Braunschweig aufrecht erhalten bleiben, da nur die Zustimmung der italienischen Vollstreckungsbehörde erforderlich gewesen sei, welche diese auch erteilt habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Ziel der Vorschriften über den Europäischen Haftbefehl ist gerade die effektivere Gestaltung des innereuropäischen Auslieferungsverfahrens. Weitere Informationen über den Europäischen Haftbefehl erhalten Sie hier.

Im Dezember 2019 hatte der EuGH bereits Anforderungen an die einen EuHB ausstellende Behörde festgelegt. Den KriPoZ-RR Beitrag finden Sie hier.

Auch zur Frage welches Recht bei der Prüfung eines EuHB anzuwenden ist, hat sich der EuGH bereits geäußert: KriPoZ-RR, Beitrag 22/2020.

 

 

 

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