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BGH, Urt. v. 16.3.2023 – 4 StR 252/22: Notwehrlage bei fortgesetztem Angriff
Sachverhalt:
Der zur Tatzeit 15-jährige Angeklagte war nach den tatgerichtlichen Feststellungen in einen Streit mit seinem Stiefvater, den später Geschädigten, verwickelt. Im Vorfeld kam es zu körperlichen Übergriffen und Drohungen seitens des Geschädigten gegenüber den Angeklagten und dessen Mutter. Am Tatabend befürchtete der Angeklagte, dass es zu einer weiteren körperlichen Auseinandersetzung komme. Er ergriff deshalb ein Küchenmesser und forderte den Geschädigten auf, wegzugehen. Nachdem dieser der Aufforderung nicht nachkam, sondern dem Angeklagten ins Gesicht schlug, stach dieser mit dem Messer zunächst in den Oberbauch, anschließend in den Brustkorb. Dabei handelte er jeweils mit bedingtem Tötungsvorsatz und in Verteidigungsabsicht. Der Geschädigte verstarb. Das LG Kaiserslautern hat den Angeklagten freigesprochen. Die Messerstiche seien durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen. Die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger haben Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt.
Entscheidung des BGH:
Die Revisionen haben keinen Erfolg. Unter Zugrundelegung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs, führt der Senat aus, dass die Einstufungen der Messerstiche als durch Notwehr gerechtfertigt keine Rechtsfehler aufweisen. Rechtsfehlerfrei sei das LG Kaiserslautern vom Vorliegen einer Notwehrlage i.S.v. § 32 Abs. 2 StGB ausgegangen. Der hierfür erforderliche gegenwärtige, rechtswidrige Angriff des Geschädigten habe sich fortgesetzt, indem dieser in unmittelbarer Schlagdistanz zum Angeklagten geblieben sei. Mangels Feststellungen, sei dieses Verhalten nicht als Schmerzreaktion zu deuten – wie von der Staatsanwaltschaft eingewandt. Eine tatsächliche Verletzungshandlung sei für das Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffes nicht erforderlich, sondern bestehe auch bei einem unmittelbar bevorstehenden Angriff. Ist es bereits zu einem Angriff gekommen, sei die andauernde Bedrohungslage entscheidend. Maßgeblich hierbei seien objektive Gesichtspunkte, die subjektive Befürchtung, dass ein Angriff bevorstehe, genüge nicht. Verbale Streitigkeiten seien hierfür nicht ausreichend. Hier habe das LG Kaiserslautern aber zutreffend die Ohrfeige des Geschädigten gegen den Angeklagten als Angriff gewertet. In dubio pro reo sei das LG rechtsfehlerfrei von einer objektiven Notwehrlage ausgegangen. Der BGH schließt sich den Ausführungen des LG Kaiserslautern an, wonach die Messerstiche als Notwehrhandlung auch erforderlich und geboten seien und der Angeklagte mit Verteidigungswillen handelte. Der Angeklagte habe gehandelt, um den bevorstehenden Angriff auf sich abzuwehren. Die Messerstiche seien zu dieser Verteidigung erforderlich gewesen. Auch liege keine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines familiären Näheverhältnisses vor.