KriPoZ-RR 25/2024

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

Amtliche Leitsätze:

1. Die Feststellung des Tötungsvorsatzes muss anhand einer Gesamtbetrachtung der Umstände Voraussetzung einer heimlichen Überwachung von Kontaktpersonen mit eingriffsintensiven Maßnahmen zum Zweck der Datenerhebung ist jedenfalls, dass eine Überwachung der polizeirechtlich verantwortlichen Person mit entsprechenden Mitteln zulässig wäre.

2. Im Rahmen einer zweckwahrenden Verarbeitung zuvor erhobener personenbezogener Daten sind diese grundsätzlich zu löschen, nachdem der unmittelbare Anlassfall abgeschlossen und damit der der Erhebungsmaßnahme zugrundeliegende konkrete Zweck erfüllt ist. Ein Absehen von einer Löschung über den unmittelbaren Anlassfall hinaus kommt in Betracht, soweit sich aus den Daten – sei es aus ihnen selbst, sei es in Verbindung mit weiteren Kenntnissen der Behörde – zwischenzeitlich ein konkreter Ermittlungsansatz ergeben hat und damit die Voraussetzungen einer zweckändernden Nutzung vorliegen.

3. Eine vorsorgende Speicherung personenbezogener Grunddaten zur Identifizierung und zu einem bestimmten strafrechtlich relevanten Verhalten von Beschuldigten durch das Bundeskriminalamt auf einer föderalen polizeilichen Datenplattform erfordert jedenfalls die Festlegung angemessener Speicherschwellen sowie die Bestimmung einer angemessenen Speicherdauer:

a. Die vorsorgende Speicherung muss auf einer Speicherschwelle beruhen, die den Zusammenhang zwischen den vorsorgend gespeicherten personenbezogenen Daten und der Erfüllung des Speicherzwecks in verhältnismäßiger Weise absichert und den spezifischen Gefahren der vorsorgenden Speicherung angemessen begegnet. Dies ist bei der Speicherung von Daten für die Verhütung und Verfolgung von Straftaten nur gegeben, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Betroffenen eine strafrechtlich relevante Verbindung zu möglichen Straftaten aufweisen werden und gerade die gespeicherten Daten zu deren Verhütung und Verfolgung angemessen beitragen können. Diese Prognose muss sich auf zureichende tatsächliche Anhaltspunkte stützen.

b. Es bedarf der gesetzlichen Regelung einer angemessenen Speicherdauer. Diese wird insbesondere geprägt durch das Eingriffsgewicht, die Belastbarkeit der Prognose in der Zeit sowie durch andere sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebende Gesichtspunkte. Die Prognose verliert ohne Hinzutreten neuer relevanter Umstände grundsätzlich an Überzeugungskraft über die Zeit.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführenden rügten die Verfassungswidrigkeit von Befugnissen des BKA zur geheimen Überwachung von Einzelpersonen zum Zwecke der Terrorismusabwehr. Hierzu gehörten insbesondere § 16 Abs. 1, § 18 Abs. 1 sowie § 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG. § 16 Abs. 1 BKAG sah vor, dass das BKA personenbezogene Daten weiterverarbeiten durfte, soweit dies zur Erfüllung der Aufgaben des BKA erforderlich war und das BKAG keine zusätzlichen Voraussetzungen für die Verwertung vorsieht. § 18 Abs. 1 BKAG ermächtigte das BKA ebenfalls zur Weiterverarbeitung konkreter personenbezogener Daten bestimmter Personengruppen zur Erfüllung der in § 2 Abs. 1-3 BKAG genannten Aufgaben. § 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG sieht vor, dass das BKA bestimmte Datenerhebungsbefugnisse zur Abwehr von terroristischen Gefahren hat. Hierzu gehören heimliche Überwachungsmaßnahmen selbst gegenüber Personen, die nicht einer terroristischen Aktivität verdächtigt werden. Diese heimliche Überwachungsmaßnahmen umfassen z.B. längerfristige Observationen oder den Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckten Ermittlern.

Entscheidung des BVerfG:

Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer wurde zugelassen. Sie ist in weiten Teilen begründet. Insbesondere verletzten die angegriffenen Regelungen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG der Beschwerdeführer.

Ein grundrechtlicher Eingriff bedürfe zunächst einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigung, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen gerecht werde. Hierzu müsse insbesondere hinreichend zwischen den verschiedenen Grundrechtseingriffen unterschieden werden – im konkreten Fall zwischen der Datenerhebung, der Speicherung personenbezogener Daten und der weiteren Nutzung dieser Daten. Dabei begründe jede neue Verwendung dieser Daten einen neuen Grundrechtseingriff, der verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden müsse.

Angesichts dieser Anforderungen kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass § 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG verfassungswidrig sei. Diese Vorschrift ermächtige das BKA zur heimlichen Überwachung von Kontaktpersonen zum Zwecke der Terrorismusabwehr. Diese Maßnahmen könnten gebündelt dazu führen, dass jede Äußerung und Bewegung einer Einzelperson erfasst werde, wodurch besonders tief in die Privatsphäre einer Person eingegriffen werde. Ein so erheblicher Eingriff, wie es mit § 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG vorgesehen ist, könne nur gerechtfertigt werden, wenn eine wenigstens konkretisierte Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut bevorstehe. Zudem müssten überwachte Personen eine individuelle Nähe zu der Rechtsgutsgefahr aufweisen. Diesen Anforderungen werde § 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG nicht gerecht. Dabei könne auch eine verfassungskonforme Auslegung nicht abhelfen.

Jedoch sieht das BVerfG § 16 Abs. 1 BKAG dagegen als nicht verfassungswidrig an. Diese Vorschrift ermächtigt das BKA zur Weiterverarbeitung personenbezogener Daten im internen Informationssystem. Die Weiterverarbeitung selbst, obwohl die Daten zuvor durch besonders eingriffsintensive Maßnahmen generiert worden sind, begründe zwar einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – jedoch werde die Eingriffsintensität dadurch begrenzt, dass die Daten nur im Rahmen des ursprünglichen Zweckes (weiter-)verwendet werden dürfen. Angesichts der Grundregeln der Zweckbindung und Zweckänderung, die hierbei zu berücksichtigen seien, wahre die Eingriffsbefugnis die Anforderungen an eine zweckwahrende Nutzung. Verfassungsgemäß sei hierbei auch die Möglichkeit des BKA, die erhobenen personenbezogenen Daten so lange zum Zwecke der Terrorismusabwehr weiterzuverwenden, wie die konkrete Gefahrenlage, die der Datenerhebung zugrunde liegt, noch bestehe.

Das BVerfG hebt hierbei auch hervor, dass auch die gesetzlich normierten Löschungsvorgaben sicherstellen, dass der Grundsatz der Zweckbindung gewahrt wird. Gemäß § 16 Abs. 1 BKAG seien personenbezogene Daten ausdrücklich zu löschen, soweit keine Weiterverarbeitung nach Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 erfolgt.

Während § 16 Abs. 1 BKAG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, so genüge § 18 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 13 Abs. 3, § 29 BKAG jedoch nicht den vorgestellten Anforderungen. Diese Ermächtigungsgrundlage ermögliche die Speicherung zuvor erhobener personenbezogener Daten durch das BKA im polizeilichen Informationsnetzwerk. Zwar werde das Eingriffsgewicht durch die Art von Daten (sog. Grunddaten), die gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 1 BKAG gespeichert werden dürfen, beschränkt. Jedoch komme diesen Daten durchaus eine nicht unerhebliche Persönlichkeitsrelevanz zu. Die zu beanstandende Eingriffsintensität ergebe sich jedoch insbesondere daraus, dass die Ermächtigung regelmäßig eine zweckändernde Weiterverarbeitung ermögliche. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass die Daten durch zahlreiche verschiedene Behörden zweckändernd genutzt werden können. Diese erleichterten Zugriffsmöglichkeiten erhöhen die Eingriffsintensität.

Angesichts dieser Umstände sei § 18 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 13 Abs. 3, 29 BKAG als verfassungswidrig einzustufen. Insbesondere sei zu bemängeln, dass die Speicherungsschwellen und die Speicherdauer nicht gesetzlich konkretisiert sind. Dabei muss z.B. „die Speicherschwelle […] den Zusammenhang zwischen den vorsorgend gespeicherten personenbezogenen Daten und der Erfüllung des Speicherzwecks in verhältnismäßiger Weise absichern und den spezifischen Gefahren der vorsorgenden Speicherung angemessen begegnen“. Weiterhin müsse eine angemessene Speicherdauer festgesetzt werden – bislang fehle es an einem hinreichend ausdifferenzierten Regelungskonzept. Insbesondere in Bezug auf die Verwendung von personenbezogenen Daten sehe jedoch § 75 Abd. 4 BDSG eine Pflicht vor, angemessene Löschungsfristen einzurichten und die Einhaltung dieser Fristen durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen sicherzustellen.

§ 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG gilt fort, jedoch mit der Vorgabe, dass die Vorschrift nur angewandt werden darf, wenn eine der in § 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 bis 3 BKAG geregelten Voraussetzungen vorliegt. § 18 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 13 Abs. 3, § 29 BKAG gilt ebenfalls fort, jedoch mit der Einschränkung, dass personenbezogene Daten nur gespeichert werden dürfen, wenn eine Prognose ergibt, dass die Betroffenen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine strafrechtlich relevante Verbindung zu möglichen Straftaten aufweisen und die Speicherung der Daten die Straftatverfolgung oder -verhütung unterstützen.

 

 

Änderung des Europol-Gesetzes

Gesetzesentwürfe:

Die Bundesregierung hat am 30. September 2024 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Europol-Gesetzes vorgelegt. Es soll durch die Änderungen an neue europarechtliche Vorgaben, insbesondere der Europol-Verordnung (EU) 2022/991, die am 28. Juni 2022 in Kraft getreten ist, angepasst werden. Diese sieht neue Regelungen zur Zusammenarbeit von Europol mit privaten Parteien, der Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch Europol und die Rolle von Europol in der Forschung vor. 

Zwar muss die Verordnung (EU) 2022/991 nicht umgesetzt werden, jedoch sind die innerstaatlichen Regelungen zur Zuständigkeit beteiligter Behörden von Bund und Länder bei der Zusammenarbeit mit Europol teilweise von dem bisherigen Europol-Gesetz vom 16. Dezember 1997 (BGBI. 1997 II S. 2150) abhängig. Es müsse demnach überprüft werden, inwiefern das Europol-Gesetz dahingehend Vorschriften beinhaltet, die anzupassen sind, weil einzelne Bestimmungen durch das Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2022/991 einer Modifizierung bedürfen. Insoweit ist wesentlicher Inhalt des Entwurfs „die Anpassung des Europol-Gesetzes an die geänderte Europol-Verordnung“.

Einführung zu dem Sonderheft „Antisemitismus und Strafrecht“

 

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Nicht zuletzt die Zunahme antisemitischer Vorfälle seit den terroristischen Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat eindringlich gezeigt, dass Antisemitismus in Deutschland (nach wie vor oder wieder?) auf einen (lebens-)gefährlichen Nährboden trifft. Laut der Statistik des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes zu politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) wurden im gesamten Bundesgebiet für das Jahr 2023 5.164 von insgesamt 17.007 registrierten Straftaten im Bereich der sog. „Hasskriminalität“ als antisemitisch eingeordnet.[1]

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Gesetzentwurf zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung

Hier finden Sie folgende Stellungnahmen: 

Öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss am 23. September 2024:

Antisemitismus und Recht aus jüdischen Perspektiven

von Prof. Dr. Julia Bernstein und Florian Diddens (M.A.)

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Abstract
Der Artikel geht der Frage nach, wie Jüdinnen:Juden den Umgang mit Antisemitismus im deutschen Rechtssystem erleben und deuten. Auf der Grundlage qualitativer Interviews sind Erfahrungs- und Deutungsmuster dazu rekonstruiert worden. Diese ergeben sich aus persönlichen Umgangsweisen mit strafrechtlich relevanten Handlungen und aus Erfahrungen mit der Polizei und Justiz ebenso wie aus der Wahrnehmung und Einschätzung eines rechtlichen Schutzes vor Antisemitismus. Ein Empfinden eines fehlenden Schutzes vor Antisemitismus wird mehrheitlich auf Probleme der Rechtsprechung zurückgeführt.

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Institutionalisierter Antisemitismus: Die Rolle der Justiz zu Zeiten des Nationalsozialismus

von Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Heger

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Abstract
Bei der Durchsetzung des von der am 30.1.1933 installierten Reichsregierung unter Führung von Adolf Hitler im Sinne der NS-Parteiideologie als neuer Leitmaxime etablierten Antisemitismus spielte die Justiz, die aus der Weimarer Republik übernommen worden war, eine fatale Doppelrolle. Einerseits wurden nahezu die jüdischstämmigen Richter, Staatsanwälte und Referedare bereits nach zwei Monaten ebenso wie die Rechtsprofessoren und Assistenten an den Juristenfakultäten  weitestgehend eliminiert; der Zugang zu Rechtsanwaltschaft und Notariat wurde für Juden massiv eingeschränkt und wenige Jahre später ebenfalls verunmöglicht, so dass dieser jursitsich qualifizierte Personenkreis von jeder professionellen Betätigung und damit auch von einer adäquten Verdienstmöglichkeit ausgeschlossen war. Zugleich kam es parallel zu dieser “Arisierung” der deutschen Justiz zu einer zunehmenden Ausrichtung der Rechstprechung an der NS-Ideologie und damit einer Diskriminierung vor allem von Juden. Diese verloren damit nicht nur ein zuvor breit genutztes professionelles Betätigungsfeld, sondern zugleich auch jede Möglichkeit, ihre berechtigten Anliegen vor dieser Justiz weiterhin mit Erfolg geltend zu machen. Zu dem Berufsausschluss kam damit eine vollstädnige Entrechtung. Dieser Prozess wird hier für die ersten Jahre nach der NS-Übernahme nachgezeichnet.

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Erfassungsdefizite bei der Verfolgung antisemitischer Straftaten – Zum Datenbestand im Hell- und Dunkelfeld

von Luis Göbel

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Abstract
Der Beitrag befasst sich mit der Erfassung antisemitischer Straftaten im Hell- und Dunkelfeld. Im Fokus stehen hierbei die Daten des Kriminalpolizeilichen Meldedienst zu politisch motivierter Kriminalität und die Daten des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Nach Vorstellung der Erfassungssysteme werden die aktuellen Zahlen antisemitischer Straftaten und Vorfälle dargestellt und eingeordnet. 

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Antisemitisch eingeordnete Äußerungen im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und strafrechtlich relevanten Rechtsgutsangriffen – eine Analyse spezifischer Fallkonstellationen zu den §§ 185, 130 StGB

von Dr. Erik Weiss

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Abstract
Der Beitrag befasst sich mit der strafrechtlichen Ahndung von Kommunikationsakten, die im Kontext von Antisemitismus und Strafrecht diskutiert werden. In einem ersten Schritt wird aufgezeigt, dass und in welchem Umfang sich einschlägige Äußerungen in einem Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und strafrechtlich relevanten Beeinträchtigungen bzw. Gefährdungen rechtlich geschützter Interessen bewegen. Hierzu werden insbesondere der Stellenwert der Meinungsfreiheit in einer freiheitlich verfassten Gesellschaft sowie ihre konkrete Ausstrahlungswirkung auf die Anwendung sog. Äußerungsdelikte aufgezeigt. Mittels einer Analyse spezifischer Fallkonstellationen zu den §§ 185, 130 StGB wird sodann untersucht, wie dieses Spannungsverhältnis im Einzelfall aufgelöst werden kann.

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KriPoZ-RR 24/2024

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

Redaktioneller Leitsatz:

Die Feststellung des Tötungsvorsatzes muss anhand einer Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalles vorgenommen werden; allein die Gefährlichkeit der konkreten Handlung reicht nicht aus, um einen entsprechenden Vorsatz anzunehmen.

Sachverhalt:

Der Angeklagte war mit zwei Zeugen (Z. und Ny.) und dem späteren Opfer (N.) in der im zweiten Obergeschoss gelegenen Wohnung des Ny. Angesichts eines erheblichen Alkohol- und Kokainkonsums der vier Personen war die Stimmung aufgeheitert; insbesondere fühlte sich der Angeklagte zum als Frau auftretenden Ny. hingezogen. Der eifersüchtige homosexuelle N. wies den Angeklagten darauf hin, dass es sich bei Ny. um einen Mann handele, woraufhin der Angeklagte in Rage gerat. Der Angeklagte schob N. in Richtung des geöffneten Fensters und stieß ihn gegen die herabgelassenen Rollladen, woraufhin diese einseitig brachen und N. sechs Meter hinab auf den Gehweg stürzte. Hierbei erlitt der Geschädigte N. lebensgefährliche Kopfverletzungen, die dieser jedoch überlebte. Jedoch kann N. nur noch eingeschränkt laufen und sprechen.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer und gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

Entscheidung des BGH:

Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg. Insbesondere der vom Tatgericht entschiedene Schuldspruch kann keinen Bestand haben; nach Ansicht des BGH können die Feststellungen zur subjektiven Tatseite nicht tragfähig belegt werden.

Grundsätzlich ist für einen bedingten Vorsatz notwendig, dass einerseits der Todeseintritt als mögliche Folge des Handelns erkannt und dies billigend in Kauf genommen wird. Diese Prüfung berücksichtigt auch die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung und die konkrete Angriffsweise sowie die psychische Verfassung des Täters bei Tatbegehung. Jedoch ist das Vorliegen eines Vorsatzes nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung festzustellen.

Diesen Anforderungen werde das Urteil des LG nicht gerecht. Insbesondere sei die Gefährlichkeit der Tathandlung und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts keine maßgeblichen Umstände; es komme auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an. Dies gelte insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen. Gerade die alkoholbedingte Enthemmung des Täters ist vielmehr zur Entkräftung des Tötungsvorsatzes in den Blick zu nehmen. Dass der Täter den Geschädigten für seine vermeintliche Täuschung bestrafen wollte, sei nur dahingehend relevant, dass dies Rückschlüsse auf dessen Bereitschaft zur Inkaufnahme der schweren Folgen seines Handelns zulasse.

„Geschmacklose Überdramatisierung des eigenen Leids“ oder Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 StGB? Der „Ungeimpft-Stern“ als Herausforderung für die Strafjustiz

von Dipl.-Jur. Laura Schwarz

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Abstract
Die Verwendung des „Ungeimpft-Sterns“ auf Demonstrationen oder als Post in den sozialen Netzwerken hat bis zuletzt zu intensiven Diskussionen über dessen Strafbarkeit nach § 130 Abs. 3 StGB geführt. Impfgegner:innen verwendeten den „Ungeimpft-Stern“, um auf ihre Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Miteinander aufmerksam zu machen, indem sie ihre Situation mit der Verfolgung von Jüdinnen:Juden im Nationalsozialismus verglichen. Diese Gleichsetzung hat in der Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst und zu einer rechtlichen Auseinandersetzung geführt. Strafgerichte stehen seit Beginn der Corona-Pandemie vor der Herausforderung, zu entscheiden, ob die Verwendung des „Ungeimpft-Sterns“ tatsächlich die Schwelle zur Strafbarkeit nach § 130 Abs. 3 StGB überschreitet oder lediglich eine unangebrachte Überdramatisierung des eigenen Leids darstellt. Die Debatte spiegelt die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Grenzen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Erinnerungskultur wider.

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