Abstract
Über Jahrzehnte hinweg galt es weithin als alternativlos, den Strafverfolgungsbehörden hinsichtlich des Einsatzes von V-Personen (aus den kriminellen Milieus) zugunsten einer größtmöglichen „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ weitreichende Handlungsspielräume zu sichern, eingeschlossen eine eventuelle Provokation der Verdächtigen zur Begehung neuer Straftaten. Die verfassungsrechtlichen Implikationen galten dabei als vernachlässigenswert, sei es mit Blick auf den rechtsstaatlichen Gesetzes- und Richtervorbehalt, sei es in Bezug auf den menschenrechtlichen fair-trial-Grundsatz. Die Rechtspolitik musste erst durch den EGMR und das BVerfG „zum Jagen getragen“ werden. Dass sich der Gesetzgeber nun auf den Weg gemacht hat, die „rechtsstaatlich gebotene Transparenz und Kontrolle“[1] zu implementieren, ist ohne Zweifel zu begrüßen; in manchen Details ist dem Gesetzentwurf aber ein gewisses Widerstreben gegen die Schaffung einer Rechtskontrolle und Rechtsklarheit in aller strikter Konsequenz anzumerken, auf dass man es hiermit gegenüber einem „gängigen Ermittlungsinstrument“ nicht etwa zu weit treibe.
Tim Stephan
Ganz seltsame Blüten… Das neue Cannabisgesetz im Überblick und der Versuch einer ersten Konsolidierung
von Prof. Dr. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu und Patrick Welke
Abstract
Der Beitrag gibt einen Überblick über die Regelungen des „Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG)“ und die damit verbundenen praktischen Auswirkungen. Berücksichtigt werden dabei auch die seit Inkrafttreten des neuen Gesetzespakets ergangenen Entscheidungen.
Unmissverständliche Klarstellung zur funktionellen Immunität aus Karlsruhe – Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 21.2.2024 – AK 4/24
von Dr. Svenja Raube LL.M. (Edinburgh)
I. Einleitung
„Die allgemeine Funktionsträgerimmunität gilt jedoch bei völkerrechtlichen Verbrechen nicht, und zwar unabhängig vom Status und Rang des Täters. Der Ausschluss dieser funktionellen Immunität fremder Hoheitsträger bei Völkerstraftaten gehört zum zweifelsfreien Bestand des Völkergewohnheitsrechts.“[1]
Erlanger Cybercrime Tag 2023: Open Source Intelligence in der Strafverfolgung
von Tabea Seum und Prof. Dr. Christian Rückert
Abstract
Der Tagungsbericht enthält sprachlich bereinigte und gekürzte Zusammenfassungen der Transkriptionen der Vorträge und Diskussionsbeiträge. Der Vortragsstil der einzelnen Beiträge wurde überwiegend beibehalten (soweit nicht aus Platzgründen gekürzt wurde). Dementsprechend wurde generell auch auf Fußnoten verzichtet.
5. Annual Human Factor in Cybercrime Conference
von Joline Wochnik und Dr. Nicole Selzer
I. Einleitung
Die 5. Annual Human Factor in Cybercrime Conference (HFC) fand vom 10. bis zum 12. September 2023 im Festsaal des neugotischen Stadthauses der Stadt Halle (Saale) statt. Sie wurde von der Agentur für Innovation in der Cybersicherheit GmbH (nachfolgend: Cyberagentur) in Kooperation mit lokalen Partnern aus den Niederlanden, The Hague University of Applied Sciences, Vrije Universiteit Amerstam und dem NSCR, ausgerichtet. Zum internationalen Organizing Committee der HFC zählen Tamar Berenblum (Israel), Cassandra Cross (Australien), Benoît Dupont (Kanada), Thomas Holt (USA), Rutger Leukfeldt (Niederlande), Nicole Selzer (Deutschland) und Marleen Weulen Kranenbarg(Niederlande)[1].
Die HFC wurde von Tamar Berenblum (ZI) und Rutger Leukfeldt (The Hague University of Applied Sciences/NSCR) ins Leben gerufen und fand erstmals 2018 in Jerusalem statt.[2] In den darauffolgenden Jahren wurde sie in Amsterdam (2019)[3], virtuell in Montreal (2020), in Clear Water, Florida (2022) und in Halle/Saale (2023) abgehalten und ist für 2024 wiederum in Montreal vorgesehen.
Die zweieinhalb-tägige internationale Konferenz, mit jährlich wechselnden Standorten, hat sich empirische Spitzenforschung, fachlichen Austausch und Kooperation zum Ziel gesetzt. Im Fokus der Konferenz steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem menschlichen Faktor der Cyberkriminalität. Die Konferenz adressiert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Praktiker verschiedenster Disziplinen der Bezugswissenschaften der Kriminologie, wie Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, aber bspw. auch Informatik und weitere mehr. Um den Gedanken der Spitzenforschung voranzutreiben, sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehalten, aktuelle Forschungsergebnisse mit einer stark empirischen Komponente und einem provokativen bzw. herausfordernden Ansatz zu präsentieren, die innovative empirische Perspektiven für die cyberkriminologische Forschung bieten.
Bei der 5. HFC in Halle (Saale) wurden in mehreren Sessions á drei bis vier Vorträge die verschiedenen Arten und Ursachen von Cyberkriminalität sowie Viktimisierung und entsprechende Auswirkungen, das institutionelle Umfeld, Vorschriften und deren Durchsetzung thematisiert. Auch ein Roundtable mit Vertreterinnen und Vertretern von Sicherheitsbehörden und der Polizeiforschung gehörte zum Programm, darunter Prof. Dr. Johannes Fähndrich(Hochschule für Polizei Baden-Württemberg), Lukas Hardi (ZITiS), Louis Jarvers (Programm Polizei 20/20), Volker Peters (LKA Niedersachsen) und Dr. Patrick Voss – de Haan (BKA). Sie erörterten die Sichtweise, Herausforderungen und Bedarfe aus Strafverfolgersicht. Diskutiert wurde u.a. darüber, welcher Schaden durch Cyberkriminalität wirklich angerichtet werde sowie welche forensischen Methoden notwendig sind, um Cyberkriminalität aufzuklären und wie Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden sollten. Zudem wurde betont, wie wichtig es sei, zukünftige Trends und Entwicklungen im Bereich der Cyberkriminalität zu identifizieren und Mechanismen zu entwickeln, um die Effizienz von Maßnahmen zu messen und die digitale Kompetenz gesellschafts- und institutionsübergreifend auf- und auszubauen. Der Roundtable stellte gleichsam die Handshake-Veranstaltung zur Eröffnung des Network-Events „{ Cyber : Crime || Security || Society }“ dar, welches im Anschluss an die HFC ebenfalls in Halle (Saale) stattfand und von der Cyberagentur erstmalig ausgerichtet wurde.[4]
Um dem Auftrag der Cyberagentur, innovationsorientierte Forschung im Bereich der Cybersicherheit und diesbezüglicher Schlüsseltechnologien in der Inneren und Äußeren Sicherheit anzustoßen und in besonderer Weise auch dem Themenschwerpunkt Cyberresiliente Gesellschaft Rechnung zu tragen, wurde bei der 5. HFC das Thema Zukunftsforschung beleuchtet. Ziel des von der Cyberagentur durchgeführten „Futurology“-Workshops war es, den kriminologischen Blickwinkel neu auszurichten und zu antizipieren, welche Themen zukunftsträchtig sind und wo angesetzt werden kann, um Cyberkriminalität von übermorgen zu begegnen, Strafverfolgungsbehörden zu stärken und die Resilienz der Gesellschaft zu fördern.
Für die 5. HFC gingen 57 Bewerbungen aus zwölf Ländern ein, darunter Australien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Italien, Kanada, die Niederlande, Portugal, der Schweiz, Spanien, Tschechien und den USA. Schlussendlich stellten 33 Vortragende[5] aus neun Ländern in General und PhDs Sessions ihre Forschungsarbeiten vor, die sich auf unterschiedliche Themenfelder der Cyberkriminalität und Cybersicherheit konzentrierten. Auch Vertreterinnen und Vertreter vom BKA, vom UK Homeland Security und dem Interventionsteam COPS der niederländischen Polizei nahmen an der Veranstaltung teil.
II. Täter & Phänomenbereiche
Bei der Betrachtung der Täter und Phänomenbereiche im Kontext der Cyberkriminalität konzentrierten sich die Forschenden vor allem darauf, wer die Täter bzw. Tätergruppen sind und was diese charakterisiert.
Es wurden Forschungsergebnisse zu den Wegen junger Menschen in und aus der Cyberkriminalität vorgestellt sowie die Entwicklung des Interesses und der Motivation untersucht. Dabei bildete sich in einer von Joeri Loggen (NSCR / Universiteit Utrecht) vorgestellten Forschungsarbeit der Trend ab, dass Jugendliche zunehmend in Cyberkriminalität verwickelt sind und Straftaten dabei zumeist in Gruppen begehen. Vor allem das schnelle Geldverdienen stehe dieser Untersuchung zufolge im Fokus der Jugendlichen.
Rubén Fernandez (Valencia Local Police) stellte unter anderem das Projekt CC-DRIVER vor, welches die menschlichen und technischen Antreiber der Cyberkriminalität mit besonderem Schwerpunkt auf Jugendkriminalität und Cybercrime-as-a-Service untersucht. Ziel war die Analyse neuer Formen der Kriminalität sowie die Entwicklung innovativer Instrumente zur Verhinderung, Untersuchung und Eindämmung von Cyberkriminalität.
Die von Rutger Leukfeldt (The Hague University of Applied Sciences / NSCR) vorgestellte Studie basiert auf 34 Interviews mit sog. Hacktivisten aus 23 verschiedenen Netzwerken. Die Studie zeigt, dass Hacktivisten auf unterschiedlichen Ebenen der Raffinesse agieren. Sie agieren aus kleinen Teams mit wenigen Mitgliedern bis hin zu größeren Kollektiven, die Dutzende von Mitstreitern zählen. Obwohl es Unterschiede zwischen den Netzwerken gibt, ließ sich im Allgemeinen eine Arbeitsteilung feststellen. Interne Regeln sowie spezifische Prozesse zur Auswahl der Ziele und zur Vermittlung der Botschaften seien erkennbar. Die Mitglieder der Netzwerke scheinen von bestimmten Freiheitsgraden zu profitieren, die eher auf horizontale als strikt hierarchische Strukturen hindeuten. Die Flexibilität in den organisatorischen Aspekten scheint in Hacktivismus Netzwerken ein Schlüsselelement zu sein.
Die von Thomas Holt (Michigan State University) vorgestellte Studie zu Cyberkriminellen-Netzwerken basiert auf zehn detaillierten Analysen von abgeschlossenen Verfahren u. a. im Vereinigten Königreich. Die Studie betrachtet zwei nigerianische Netzwerke, welche sich auf unterschiedliche Cyberstraftaten fokussieren. Anhand dieser beiden Fallstudien wurde untersucht, ob die zugrunde liegenden Netzwerkstrukturen und -abläufe bei diesen beiden Geschäftsmodellen ähnlich sind oder nicht. Die Analyse ermöglicht einen Einblick in die organisatorischen Strukturen und Zusammenhänge innerhalb dieser Netzwerke, was wichtige Impulse für präventive Maßnahmen und Sicherheitsstrategien liefert.
Jordan Howell (University of South Florida) präsentierte eine Bewertung der Bedrohungen durch Hacker im Darknet. Hacking-Dienste und -Produkte scheinen ihm zufolge zwar preislich zu variieren, seien aber in der Regel zugänglich und erschwinglich und bieten häufig sogar individuelle Anpassungsmöglichkeiten. Die Studie warf Licht auf die Bedrohung der durch das Darknet ermöglichten Hackings für US-Vermögenswerte und schloss mit einer Diskussion über innovative automatisierte Methoden zur Vorhersage und Verhinderung von Cyberangriffen, die durch Darknet-Marktplätze ermöglicht werden.
Auch Patricia Saldaña-Taboada (Universidad de Granada) beschäftigte sich mit Darknet-Marktplätzen. Sie untersuchte die Attraktivität von Bitcoins für kriminelle Aktivitäten und führte eine qualitative Analyse eines Darknet-Forums über Kryptowährungen durch. Die Ergebnisse unterstreichen, dass nicht die Wahl der Kryptowährung für Cyberkriminelle entscheidend ist, sondern die Schaffung von Umwegen, um die Rückverfolgbarkeit zu vermeiden.
Bianca Steffes und Anna Zichler (Universität Saarland) diskutierten virtuelle Vergewaltigungen und Sexualdelikte im Metaverse. Sie beschäftigten sich mit der Klärung der Frage, ob derartige Delikte als Cyberkriminalität bezeichnet werden können bzw. ob eine Sexualstraftat ohne Körperkontakt begangen werden und inwieweit ein Avatar Opfer einer Sexualstraftat sein kann. Die Präsentation beleuchtete rechtliche und psychologische Überlegungen sowie technische Maßnahmen zum Schutz von Nutzern vor sexuellen Übergriffen in virtuellen Welten.
Julia Katherina Mahnken (Universität Hamburg) befasste sich damit, wie sich ein klassisches Kriminalitätsphänomen unter digitalen Bedingungen verändert. Dafür erweiterte sie die Analyse einer Online-Drogenplattform um den Kontext langfristiger sozialer Prozesse, um einen methodologischen Punkt zu machen. In ihrer Analyse geht sie der Frage nach, inwieweit unter einer sozio-historischen, prozessorientierten Linse Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Dimensionen (digitaler) Kriminalität sichtbar werden. Mit Blick auf unterschiedliche Ebenen, wie Konsumenten, Tatbeteiligte, Ermittlungsbehörden und Gesellschaft, ließen sich in der erweiterten Perspektive sowohl resultierende Innovationswiderstände als auch mögliche spezifische Veränderungschancen ableiten. Es zeigte sich, dass erstaunlich wenig „neu“ ist. Vielmehr wurde in der Analyse sichtbar, wie sich bestehende Bedürfnisse und Strukturen unter digitalen Bedingungen fortsetzen. Da die Analyse freilegt, wie eine angenommene Neuheit die Sicht versperren kann, argumentierte sie daher methodologisch, dass die (digitalen) Transformationen des Sozialen, der Objekte und der Beziehungen als konstitutive Bestandteile der Kriminalität betrachtet werden sollten. Dafür schlug sie vor, künftig den Analysefokus auch auf die Transformationen von Kriminalität zu legen und ihre sich ebenfalls unter digitalen Bedingungen verändernden Kontexte in die Analyse stärker einzubeziehen.
III. Opfer & Viktimisierung
Neben der Betrachtung der Täter lag ein weiterer Fokus der Forschenden auf den Opfern der Cyberkriminalität und den Aspekten der Viktimisierung.
Danielle Stibbe (NSCR/ Universiteit Utrecht) stellte ihre Forschungsarbeit bezüglich der Opferauswahl im Kontext des unbefugten Zugriffs auf Konten vor und besprach dabei den Prozess der Auswahl von Opfern und dessen Beeinflussung durch die Abwägung von Kosten und Nutzen (Rational Choice Approach).
Susanne Van ‚t Hoff-de Goede (The Hague University of Applied Sciences) fokussierte sich auf Interviews mit Opfern von Online-Betrug, um Einblicke in deren Erfahrungen vor, während und nach dem zivilrechtlichen Verfahren zu gewinnen, das neuerdings in den Niederlanden auch ohne ein vorangegangenes oder paralleles Strafverfahren praktiziert wird. Die Untersuchung zeigt, dass die Gründe für die Einleitung solcher Verfahren naturgemäß variieren und von dem einfachen Wunsch nach Rückerstattung, über die Konfrontation des Täters bis hin zur Verhinderung zukünftiger Vorfälle reichen. Die Besonderheit der Untersuchung ist jedoch, dass die Opfer in den meisten Fällen die Entschädigungszahlung nicht vom eigentlichen Täter, sondern vom sog. „Geldesel“ (money mule), über dessen Konto der Betrug und das Geld des Opfers als Zwischenstation lief, erhielten bzw. diejenige Person zur Verantwortung gezogen wurde, da die eigentlichen Täter oftmals nicht identifiziert werden können.
Michael Levi (Cardiff University) beschrieb in seinem Vortrag die öffentlichen und privaten Maßnahmen, die ergriffen werden, um Betrügereien zu bekämpfen und die Angst vor Betrug zu verringern. Die Ergebnisse seiner Forschungsstudien unterstreichen die Notwendigkeit von evidenzbasierten Reaktionen auf Veränderungen bei cybergestützten Betrugsmustern, einschließlich Strafverfolgungs- und Gesundheitsmaßnahmen sowie Werbung zur Betrugsbekämpfung für die Öffentlichkeit und Unternehmen.
Inês Sousa Guedes (Universidade do Porto) betrachtete die Angst vor Cyberkriminalität und untersuchte, ob diese Angst je nach der spezifischen Form der Bedrohung, ob sachbezogene oder interpersonelle Cyberkriminalität, variiert. Die Untersuchung zeigt, dass der größte Prädiktor für beide Bereich die Angst vor Kriminalität im Allgemeinen ist und die Angst vor sachbezogener Cyberkriminalität die der interpersonellen übersteigt.
Stefan Sütterlin (Hochschule Albstadt-Sigmaringen) beschäftigte sich in seiner vorgestellten Untersuchung mit dem Zusammenhang zwischen Viktimisierung und dem mentalen Zustand der Betroffenen von Cyberkriminalität. Hierbei zeigte er, dass die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten sowie die Unterschätzung der eigenen Anfälligkeit für Manipulation durch böswillige Akteure wesentlich zur Viktimisierung durch Cyberkriminalität beiträgt.
Pia Hüsch (Royal United Services Institute) richtete den Fokus auf die direkt oder indirekt betroffenen Opfer von Ransomware-Angriffen. Die Präsentation hob die menschlichen Auswirkungen hervor und bot neue Einblicke in die Erfahrungen der Opfer sowie den weitreichenden Schaden, den Einzelpersonen durch Ransomware-Angriffe erleiden. Die Ergebnisse der vorgestellten Studie zeigen ein breites Spektrum von Auswirkungen, einschließlich solcher auf die psychische Gesundheit und physische Beeinträchtigungen, die die Opfer sowohl kurz- als auch langfristig erleben. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden evidenzbasierte politische Empfehlungen ausgesprochen, die darauf abzielen, den Schaden für Ransomware-Opfer zu minimieren.
Ebenfalls zum Themenbereich Ransomware präsentierte Sifra Matthijsse (The Hague University of Applied Sciences) eine Studie, die darauf abzielt, das Verhalten kleiner und mittelständiger Unternehmen (KMU) nach einer Ransomware-Viktimisierung zu verstehen. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass KMUs das Lösegeld zahlen, im Allgemeinen gering ist. Entscheidende Faktoren für eine Zahlung scheinen nicht die (geringe) Höhe des geforderten Lösegeldes zu sein, sondern die Empfehlung eines Cybersicherheitsunternehmens, das Lösegeld zu zahlen sowie das Fehlen eines Backups.
Auch Noelle Warkentin (Simon Fraser University) beschäftigte sich in ihrer Präsentation mit den ernsthaften und wachsenden Auswirkungen von Ransomware auf Unternehmen. Sie stellte fest, dass neben den finanziellen Verlusten Ransomware auch die Produktivität des Unternehmens und der Mitarbeiter erheblich beeinträchtigt.
IV. Cybersicherheit und Polizeiarbeit
Auch die andere Seite der Cyberkriminalität wurde auf der Konferenz in den Fokus gerückt. Verschiedene Experten lieferten Vorträge zum Thema der Cybersicherheit und Cyberhygiene.
Sascha Fahl (CISPA Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit) beleuchtete in seinem Vortrag die Herausforderungen, denen KMUs in Bezug auf Cybersicherheit gegenüberstehen. Dazu betrachtete er den Einsatz von technischen und organisatorischen Sicherheitsmaßnahmen in KMUs. Die Forschung zeigt, dass viele Unternehmen bereits technische Sicherheitsmaßnahmen implementiert haben, jedoch Unterschiede in der Meldung von Cyberkriminalitätsvorfällen aufgrund von Industriesektor, Unternehmensgröße und Sicherheitsbewusstsein bestehen. Fahl schloss die Präsentation mit Empfehlungen für zukünftige Forschung, Industrie und politische Entscheidungsträger.
George Burruss (University of South Florida) fokussierte sich in seinem Vortrag auf Cyberhygiene-Praktiken. Er untersuchte die Bereitschaft zur Änderung von Verhaltensweisen bei Kenntnis des generellen Risikos, Opfer von Identitätsdiebstahl zu werden. Die Untersuchung betont die Notwendigkeit maßgeschneiderter Cybersicherheitsausbildungen, die auf den individuellen Merkmalen der Nutzer basieren, anstatt auf einem Einheitsansatz.
Russell Brewer (The University of Adelaide) präsentierte ein automatisiertes Softwaresystem, welches biometrische Merkmale aus Material von sexuellem Kindesmissbrauch extrahiert und die extrahierten Merkmale mit Datenbanken abgleicht. Mittels Netzwerkanalyse konnten Verbindungen zwischen den in den Filmen dargestellten Tätern veranschaulicht werden, wodurch diese Arbeit nicht nur neue Einblicke in die soziale Organisation dieser Straftaten und Straftäter liefert, sondern auch praktische Auswirkungen auf die Strafverfolgung hat.
V. Futurology-Workshop
Der Futurology-Workshop, den die Cyberagentur im Zuge der HFC ausrichtete, war in zwei Sessions aufgeteilt. Das Ziel der Sessions war die Identifizierung von potenziellen zukünftigen Forschungsrichtungen sowie die Vernetzung der Teilnehmenden untereinander. In der ersten Session, die zugleich als Ice-Breaker am ersten Tag diente, sollten die Teilnehmenden in wechselnden Zweierkonstellationen über die zukünftige Entwicklung von Cyberkriminalität diskutieren. In der ersten Runde galt es zu identifizieren, welche gegenwärtigen Trends sich abzeichnen und wie sich Cyberkriminalität in den kommenden fünf bis zehn Jahren entwickeln könnte. In der zweiten Runde sollten anhand der fünf PESTL-Dimensionen Politik, Wirtschaft, Soziales & Ethik, Technologie und Recht die identifizierten Entwicklungen betrachtet und bewertet werden. In der letzten Runde galt es Wild Cards zu identifizieren, also Ereignisse, die eine geringe Wahrscheinlichkeit des Eintretens haben, aber einen umso größeren Impact. In der zweiten Futurology-Session wurden die Teilnehmenden in fünf Gruppen aufgeteilt und jeder Gruppe eine der fünf PESTL-Dimensionen zugewiesen. Diskutiert wurde, inwieweit die einzelnen Dimensionen zukünftige Cyberkriminalität und Cybersicherheit beeinflussen und wie dies konkret geschehen könnte. Herauskristallisierten sich die folgenden Schwerpunkte: Ressourcenknappheit, geopolitische Entwicklungen, Künstliche Intelligenz als Mainstream, die Moderation von Inhalten auf sozialen Plattformen, die Gefährdung des Finanzmarktes und von Regierungseinrichtungen sowie die Notwendigkeit von Ethik und Werten im digitalen Kontext. Die Haupterkenntnisse der einzelnen Gruppendiskussionen wurden am Ende vorgestellt und mittels Graphic Recording visualisiert.
VI. Fazit
Die HFC erfreut sich zunehmender Beliebtheit und hat 2023 einen Bewerberrekord erzielt. Die Qualität der eingereichten Beiträge übersteigt die der herkömmlichen kriminologischen Veranstaltungen, wie die European und American Society of Criminology (ESC & ASC)[6], da bei Letzteren sämtliche Einreichungen auch unabhängig vom Stadium akzeptiert werden. Bei der HFC hingegen müssen sog. Full Paper vor Konferenzstart eingereicht werden und es herrscht ein Wettbewerbscharakter durch die begrenzte Teilnehmerzahl. Das Social Networking um die Konferenz herum trägt zu einem intensiven Feedback, Austausch und neuen Kooperationen bei. Die wechselnden Standorte begünstigen zudem den Aufwuchs der Community, da hierdurch auch lokal ansässige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die Konferenz aufmerksam werden. 2023 wurden vier Beiträge aus Deutschland akzeptiert. Zudem konnten auch verschiedene nationale und internationale Vertreterinnen und Vertreter von Strafverfolgungsbehörden der Konferenz beiwohnen, was gegenseitig großen Anklang fand.
Zur 5. HFC erscheinen voraussichtlich 2024 zwei Special Issues – im European Journal of Criminology (Herausgeber Marleen Weulen Kranenbarg, Rutger Leukfeldt und Nicole Selzer) und im Journal Deviant Behavior (Herausgeber Thomas Holt).
Die 6. Annual Human Factor in Cybercrime Conference findet vom 29. September bis 1. Oktober 2024 in Montreal, Kanada statt und wird von Prof. Benoît Dupont und Prof. Masarah Paquet-Clouston (local organizing committee) ausgerichtet.[7]
[1] Die letzten drei Personen stellten 2023 das local organizing committee.
[2] Selzer, Kriminalistik 2019, 223 ff.
[3] Moneva, in: Weulen Kranenbarg/Leukfeldt, Cybercrime in Contect: The human factor in victimization, offending, and policing, Bd. 1, 2021, 5 ff.
[4] Wochnik/Selzer, Kriminalistik 2024, 215-218.
[5] Anmerkung: Nicht alle Referenten haben die Freigabe für den Konferenzreport erteilt. Zudem werden hier nur die Vortragenden genannt und nicht alle Autoren der eingereichten Beiträge.
[6] Reinholz/Selzer, Kriminalistik 2020, 271-275.
[7] https://www.hfc-conference.com/call-for-papers.
KriPoZ-RR 17/2024
Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
Redaktioneller Leitsatz:
Trotz einer Verwechselung von Personen ist ein Rücktritt von einem beendeten Versuch weiterhin möglich; hierbei ist auch unschädlich, dass das außertatbestandliche Ziel wie z.B. der Erfolg des konkreten medizinischen Eingriffs eingetreten ist.
Sachverhalt:
Der Angeklagte, Facharzt für Allgemeinchirurgie, behandelte zwei Personen, unter anderem das spätere Opfer, aufgrund eines Leistenbruches. Der Angeklagte sterilisierte ausversehen das 17-jährige Opfer aufgrund einer Personenverwechselung mit dem anderen Patienten, bei dem zeitgleich zu Leistenbruch eine Sterilisation durchgeführt werden sollte. Der Angeklagte erkannte seinen Fehler und informierte unmittelbar nach dem Eingriff die Mutter des Opfers. Die Zeugungsfähigkeit des Opfers konnte zwei Wochen danach durch eine sechsstündige robotisch unterstützte Operation wiederhergestellt werden. Wenig später nahm der Angeklagte mit Einwilligung von dessen Eltern die Sterilisation an dem anderen Patienten vor. Ein Sterilisationsbetreuer (vgl. § 1899 Abs. 2 BGB a.F.) wurde nicht bestellt. Die erforderliche Genehmigung des Betreuungsgerichts (vgl. § 1905 BGB a.F.) lag nicht vor.
Das LG hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter schwerer Körperverletzung in Tatmehrheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.
Entscheidung des BGH:
Der Angeklagte rügt die Verletzung formellen sowie materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (vgl. § 349 Abs. 4 StPO), ist im Übrigen unbegründet i.S.d. § 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung halte einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht stand.
Die Kammer habe hierbei insbesondere bei der Prüfung der Freiwilligkeit des Rücktritts rechtsfehlerhaft entschieden. Zwar sei dem LG dahingehend zuzustimmen, dass durch das Durchtrennen der beiden Samenleiter des Opfers rechtlich ein beendeter Versuch vorlag. Einerseits sei die Tat noch nicht vollendet gewesen, da die „Langwierigkeit“ der schweren Folge i.S.d. § 226 Abs. 1 StGB nicht dauerhaft eingetreten sei und demnach der Taterfolg nicht vorlag. Andererseits sei der Versuch nicht fehlgeschlagen, weil der Angeklagte die Vollendung der Tat weiterhin für möglich hielt. Die vorherige Erreichung außertatbestandlicher Ziele – hier: die beabsichtigte Sterilisierung des konkreten identifizierbaren Patienten – sei unschädlich, weil ein Rücktritt nur ausgeschlossen ist, wenn allgemeiner die in § 226 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 4, Abs. 2 StGB umschriebene Verursachung der Zeugungsunfähigkeit einer Person noch nicht vollendet sei. Diese Wertung wahre auch den Opferschutz, da dadurch einem Täter, der seinen „error in persona“ bemerkt, noch ein Anreiz zur aktiven Verhinderung der Tatvollendung gegeben wird.
Weil der Angeklagte nach seiner Vorstellung mit dem Durchtrennen der Samenleiter des Opfers bereits alles Erforderliche zum Erfolgseintritt getan habe, handele es sich um einen beendeten Versuch. Die Vollendung des Delikts verhinderte der Angeklagte jedoch; dabei sei ein Rücktritt vom beendeten Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts möglich, soweit der Täter das Eintreten der Folge verhindere. Mit der Offenbarung des Irrtums gegenüber der Mutter setzte der Angeklagte eine neue Kausalkette in Gang – und habe damit eine geeignete Rettungsmaßnahme vollzogen.
Jedoch habe das LG bei der Beurteilung der Freiwilligkeit des Rücktritts einen falschen Maßstab angewandt. Die Kammer habe hierbei maßgeblich an den Tatplan angeknüpft, obwohl allein der Rücktrittshorizont nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich sei. Da das LG keine Feststellungen zur Freiwilligkeit des Rücktritts getroffen hatte, ist dem Revisionsgericht die Nachprüfung verwehrt.
KriPoZ-RR 16/2024
Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
Redaktioneller Leitsatz:
Ein Stich in einen typischerweise nicht-lebensgefährdenden Bereich des Körpers muss nicht zwingend gegen das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes sprechen.
Sachverhalt:
Der Angeklagte und zwei weitere Personen gingen in einen Park und trafen dort auf eine andere Gruppe, zu der unter anderem der Nebenkläger gehörte. Mit diesem entwickelte sich eine verbale Auseinandersetzung. Der Angeklagte verließ den Park, erschien allerdings kurze Zeit später mit zwei Personen erneut dort, um sich an dem Nebenkläger wegen der Auseinandersetzung zu rächen. Der Angeklagte und die zwei Personen rannten auf den Nebenkläger jeweils mit Messern bewaffnet zu. Der Angeklagte stach dem Nebenkläger mit seinem Messer in den Oberschenkel, während die anderen beiden Personen zeitgleich Stich- und Stoßbewegungen in die Richtung des Oberkörpers des Nebenklägers ausführten. Die angreifende Gruppe kommunizierte währenddessen nicht untereinander. Erst, als der Nebenkläger sein Fahrrad zu Verteidigungszwecken aufhob, flüchteten der Angeklagte und dessen Begleiter.
Der Nebenkläger erlitt mehrere Stich- und Schnittverletzungen am Oberschenkel, am Hinterkopf und am Brustkorb, woraufhin akute Lebensgefahr bestand.
Das LG hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und unter Einbeziehung anderweitig erkannter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Entscheidung des BGH:
Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revisionen des Angeklagten hat keinen Erfolg. Jedoch führe das eingelegte Rechtsmittel des Nebenklägers mit dem Ziel, eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags zu erreichen, zur Aufhebung des Urteils.
Bedingt vorsätzliches Handeln setze voraus, dass der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht ganz fernliegend erkenne (Wissenselement) und dies zumindest billige bzw. sich damit abfinde (Willenselement). Eine konkrete Lebensgefahr der Tatausführung begründe hierbei ein erhebliches Beweisanzeichen für das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes. Ein Tötungsvorsatz könne jedoch trotzdem ausscheiden, wenn der Täter zwar die objektive Gefährlichkeit der Tat erkenne, jedoch auf das Ausbleiben des Erfolgs vertraue.
Den sich daraus ergebenden Anforderungen bezüglich der beweiswürdigenden Gesamtschau des Geschehens wurde das LG nicht gerecht. Insbesondere die Stiche in den Beinbereich seien vorsatzkritisch gewertet worden, obwohl diese Verletzungen eine akute Lebensgefahr hervorgerufen haben. Die Strafkammer verkenne, dass es sich bereits bei dem Stich in den Oberschenkel um eine objektiv gefährliche Gewalthandlung handele.
Das LG habe insbesondere nicht berücksichtigt, dass auch die lebensgefährlichen Verletzungen, die durch die anderen Personen verursacht wurden, dem Angeklagten möglicherweise zuzurechnen seien. Angesichts des gemeinsamen Zustürmens auf den Nebenkläger und den gemeinsamen Angriffshandlungen hätte das LG erörtern müssen, inwiefern eine mittäterschaftliche Zurechnung der anderen Beiträge vorzunehmen ist. Hierfür spreche insbesondere, dass die Angreifer fast zeitgleich handelten.
KriPoZ-RR 15/2024
Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
Redaktioneller Leitsatz:
Trotz der veränderten Rechtslage durch das KCanG ist der Grenzwert der nicht geringen Menge an Cannabis unverändert bei 7,5kg THC anzusetzen. Die Gesetzesänderung sieht keine ausdrückliche Erhöhung dieses Grenzwertes fest.
Sachverhalt:
Die beiden Angeklagten A. und M. lebten und arbeiteten in einem mehrmonatigen Zeitraum im Sommer 2023 als „Gärtner“ in einer Indoor-Marihuanaplantage, die von einer Bandenorganisation angemietet wurde. Bei einer Durchsuchung des Anwesens wurden dort über 1.763 Cannabispflanzen mit mindestens 160kg Marihuana und mit einer Gesamtmenge von 22.105 g THC gefunden. Die beiden Angeklagten waren dazu beauftragt, die Pflanzen mit Dünger zu versorgen, sowie die Lüftungsanlage und die Wärmelampen zu betreiben.
Das LG hatte die Angeklagten jeweils wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Entscheidung des BGH:
Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revisionen der Angeklagten haben hinsichtlich des Strafausspruches Erfolg.
Nach der Ansicht des Senats gebietet das Inkrafttreten des KCanG eine Neufassung des Schuldspruchs. Das vom LG festgestellte Tatgeschehen stelle sich als verbotener Besitz von mehr als drei lebenden Cannabispflanzen (§ 34 Abs.1. Nr. 1c iVm § 2 Abs. 1 Nr. 1 KCanG) in Tateinheit mit Beihilfe zum nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG verbotenen Handeltreiben mit Cannabis (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 iVm § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG, § 27 StGB) dar. Die Tathandlungen des KCanG seien hierbei ausdrücklich an die Begrifflichkeiten des BtMG orientiert. Demnach seien die entwickelten Grundsätze in Bezug auf die in § 29 ff. BtMG unter Strafe gestellten Handlungsformen zu übertragen.
Der Senat geht davon aus, dass der Grenzwert der nicht geringen Menge für THC i.S.d. § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG 7,5 g beträgt. Hierbei wurde sich infolge der fehlenden Bestimmbarkeit einer lebensbedrohlichen Einzeldosis auf dessen konkreten Wirkungsweise und der Wirkungsintensität, insbes. der Gefährlichkeit, gestützt. Bei der Bemessung des Grenzwertes wurde unter anderem berücksichtigt, dass THC anders als z.B. Heroin nicht zur physischen Abhängigkeit führt, wenngleich es teilweise zu psychischen Störungen wie Psychosen oder Depressionen führen kann.
Das KCanG definiere den Begriff der nicht geringen Menge nicht ausdrücklich. Mit Blick auf die unveränderte Wirkweise und Gefährlichkeit sei der Grenzwert jedoch nicht anders zu bestimmen, als zuvor. Die Regelung in § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG gebe hierzu keinen Anlass.
Einerseits gebe der Wortlaut dafür keine Anhaltspunkte. Der Gesetzgeber habe sich bewusst für den unbestimmten Rechtsbegriff entschieden. Andererseits spreche auch der Sinn und Zweck des § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG für die Beibehaltung des Grenzwertes. § 34 KCanG soll die Volksgesundheit und die körperliche Unversehrtheit des einzelnen Bürgers schützen. Das Gesetz ziele erkennbar auf einen verbesserten Gesundheitsschutz ab. Der Regelungszweck habe sich gegenüber § 29a BtMG nicht geändert.
Zudem spreche auch die Gesetzessystematik für diese Auslegung. Der Umgang mit Cannabis sei gem. § 2 KCanG trotzdem noch verboten; in § 2 Abs. 4 KCanG werden lediglich spezifizierte, erlaubte Handlungen ausgenommen. Dieser Wertung stünden auch nicht die in § 3 KCanG festgesetzten legalen Besitzmengen entgegen.
Letztlich sei auch aus der Entstehungsgeschichte des KCanG nichts Gegenteiliges zu ziehen. Nach der Gesetzesbegründung des KCanG ist der Grenzwert von der Rechtsprechung aufgrund der geänderten Risikobewertung zu entwickeln. Jedoch lässt sich aus der Gesetzesbegründung und auch sonst keine geänderte Risikolage feststellen; insbesondere sei die Wirkungsweise und -intensität von THC unverändert.
Unabhängig des unveränderten Grenzwertes könne der Strafausspruch keinen Bestand haben. Der Strafrahmen des § 34 Abs. 3 S. 1 KCanG sehe für besonders schwere Fälle eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor, während der vom LG angewandte § 29a Abs. 1 BtMG eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren eröffnet. Die Absenkung des Strafrahmens beruhe auf dem durch den Gesetzgeber vorgesehenen geringen Unwerturteil hinsichtlich dieser Taten.
Anmerkung der Redaktion:
In der Fachöffentlichkeit wurde bereits kurz nach der Veröffentlichung der hiesigen Entscheidung über dessen Verfassungskonformität diskutiert. Hierbei wurde insbesondere bemängelt, dass der 1. Senat sich klar über den Willen des aktuellen Gesetzgebers hinwegsetze und damit gegen den Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art. 103 Abs. 1 GG verstoße.
KriPoZ-RR 14/2024
Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
Redaktioneller Leitsatz:
Auch chirurgische Instrumente, die bestimmungsgemäß von ausgebildetem medizinischem Personal verwendet werden, begründen eine besondere Gefährlichkeit und sind demnach als gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB zu qualifizieren.
Sachverhalt:
Die Angeklagte litt unter dem selten vorkommenden sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer psychischen Störung, die sie dazu veranlasste, bestimmte Krankheitssymptome ihrer Kinder gegenüber Ärzten und ihrem sozialen Umfeld vorzutäuschen oder gar zu fingieren, um hierdurch nicht indizierte medizinische Eingriffe zu veranlassen. Hierdurch wollte sie Wertschätzung von Dritten erfahren.
Die Angeklagte veranlasste bei ihrer Tochter M. durch bewusst falsche Angaben die Aufnahme in ein Krankenhaus, um tatsächlich nicht bestehende Darmstörungen behandeln zu lassen. Aufgrund der falschen Angaben wurde ihrer Tochter unter Vollnarkose und durch das Aufschneiden der Bauchwand ein künstlicher Darmausgang gelegt. Die Angeklagte wusste, dass diese Operation für ihre Tochter potenziell lebensgefährlich war.
Bezüglich ihrer jüngsten Tochter A. gab die Angeklagte wahrheitswidrig an, dass diese Atmungs- und Trinkprobleme habe. Wie von ihr beabsichtigt, wurde ihr in dem weiteren Verlauf eine PEG-Sonde eingelegt. Dies konnte nur mittels einer Operation durchgeführt werden, in der die Bauchdecke des Säuglings durchgestochen wurde. Auch bei dieser Operation nahm die Angeklagte die Lebensgefährlichkeit der Behandlung in Kauf. In der Folge entschloss sich die Angeklagte, das für die PEG-Sonde vorgesehene Sondennahrung der A. teilweise vorzuenthalten. Hierdurch wollte sie erzwingen, dass ihre Tochter erheblich an Gewicht verliert und dadurch erneut medizinisch behandelt wird; andauernde körperliche Schmerzen nahm sie hierbei in Kauf. Nachdem der Säugling aufgrund einer erheblichen Unterernährung eingeliefert wurde, kam es schließlich durch das misstrauisch gewordene Pflegepersonal zu der Trennung der Angeklagten von A.
Das LG hatte die Angeklagte wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, unter Einbeziehung der Geldstrafe aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Entscheidung des BGH:
Die auf die Rüge der Verletzung materiellen und formellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat keinen Erfolg und ist offensichtlich unbegründet i.S.d. § 349 Abs. 2 StPO.
Nach Ansicht des Senats könne es dahinstehen, ob das Verhalten der Angeklagten die objektiven Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfülle; jedenfalls könne nicht hinreichend belegt werden, dass die subjektive Komponente vorlag. Jedoch tragen die Urteilgründe eine Strafbarkeit gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB hinsichtlich der erfolgten operativen Eingriffe. Ein gefährliches Werkzeug sei ein Tatmittel, das nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im Einzelfall dazu geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen. Die chirurgischen Instrumente, die beim Durchtrennen bzw. Durchstechen der Bauchwand benutzt wurden, erfüllen diese Voraussetzungen.
Die bisherige Rechtsprechung zu § 223a StGB in Bezug auf diese Problematik stehe dieser Auslegung nicht entgegen. Lege artis genutzte Instrumente wurden demnach unabhängig von ihrer konkreten Verwendungsweise einem Messer oder anderem gefährlichen Werkzeug gem. dem § 223a StGB nicht gleichgestellt. Auf diese bisherige Rechtsprechung kann seit der nun geltenden Gesetzesfassung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vom 1. April 1998 jedenfalls bei der Nutzung von chirurgischen Instrumenten bei medizinisch nicht indizierten Eingriffen nicht zurückgegriffen werden.
Diese Bewertung unterstütze der Wortlaut des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wonach ein anderes gefährliches Werkzeug kein Beispiel für eine Waffe darstelle, sondern vielmehr eine Waffe als Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs zu betrachten sei. Ein gefährliches Werkzeug setze aber in Abgrenzung zu einer Waffe gerade nicht voraus, dass dieses zum Einsatz als Verteidigungs- oder Angriffsmittel bestimmt sei. Soweit nur auf die potenzielle Gefährlichkeit abgestellt werde, könne ein regelgerecht eingesetztes chirurgisches Instrument nicht aus dem Anwendungsbereich des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB ausgeschlossen werden.
Dafür streite die Gesetzessystematik. Auch in anderen strafrechtlichen Vorschriften sei das Tatbestandsmerkmal des „anderen gefährlichen Werkzeugs“ zu finden, vgl. § 177 Abs. 7 u. Abs. 8 StGB, § 244 Abs. 1 StGB). Hierbei bestehe Einigkeit, dass ein gefährliches Werkzeug keine Bestimmung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel voraussetze. Es reiche aus, dass der Gegenstand objektiv geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Dieses Ergebnis entspreche auch einer teleologischen Auslegung. Alle Begehungsvarianten des § 224 StGB zeichne eine besonders gefährliche Begehungsweise aus. Dies sei gerade auch bei dem lege artis Einsatz von chirurgischen Instrumenten gegeben.
Einer Vorlage nach § 132 Abs. 2 GVG sei nicht notwendig, da die rechtliche Grundlage der bisherigen Rechtsprechung seit dem Wegfall des § 223a StGB nicht mehr bestehe.
KriPoZ-RR 13/2024
Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
Amtliche Leitsätze:
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Geschütztes Rechtsgut des § 239a StGB ist nicht nur die Willensfreiheit des Genötigten vor einer besonders schwerwiegenden und besonders verwerflichen Nötigung, sondern auch dessen körperliche Integrität.
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Der für § 239a Abs. 3 StGB erforderliche qualifikationsspezifische und aus der konkreten Schutzrichtung der Norm zu bestimmende Zusammenhang ist deshalb auch dann gegeben, wenn der Tod des Opfers als Folge der dem Opfer während der Bemächtigungslage widerfahrenen Behandlung eintritt, wobei die Eskalationsgefahr mit zunehmender Dauer der Gefangenschaft regelmäßig zunimmt.
Sachverhalt:
Die Angeklagten fassten den gemeinsamen Plan, dass sie den wohlhabenden und alleinlebenden O., der ein Bekannter des Mitangeklagten A. war, in seinem Haus zu überfallen und dessen Wertgegenstände entwenden. Beide wussten, dass O. wegen seines Gesundheitszustandes bei der Tat versterben könnte. Nach dem Tatplan sollte allein der Angeklagte B. durch die stets geöffnete Terrassentür in die Wohnung einsteigen und O. zur Herausgabe der Wertgegenstände nötigen; der Angeklagte A. sollte wegen seiner Bekanntschaft mit O. und der befürchteten Entdeckungsgefahr fern bleiben. Er sollte nur als Fahrer agieren.
Am Tattag schlich sich B. in das Haus des O. und überwältigte diesen nach einem kurzen Kampf, der nun die Herausgabe seines Geldes anbot. B rief zunächst den A. auf dessen Mobiltelefon an; diesen Anruf nahm A. zum Anlass, um nun selbst zum Tatort zu fahren. Dort angekommen, betrat dieser das Haus durch die Terassentür, während sich B. und O. im Schlafzimmer befanden. Als diese zur weiteren Übergabe von Geldmitteln wieder in den Wohnbereich gingen, kam A. plötzlich aus der Küche. Dieser hatte sich dazu entschieden, O. zu töten, da er der Meinung war, von O. gesehen und erkannt worden zu sein.
In der Folge packte A. den O. von hinten, hielt ihm den Mund zu und würgte diesen mit erheblichem Kraftaufwand für zwei Minuten. Dieser verstarb infolge des Sauerstoffmangels. B. rechnete nicht mit dem Angriff des A., erkannte jedoch spätestens nach einer Minute, dass O. dadurch sterben würde. Er blieb untätig, obwohl ihm ein Eingreifen möglich gewesen wäre.
Das LG hatte den Angeklagten B. nach einer Aufhebung des ursprünglichen Urteils und Zurückverweisung der Sache durch den 1. Strafsenat wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit räuberischer Erpressung und wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt.
Entscheidung des BGH:
Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Nebenklage hat Teilerfolg. Diese beanstandete, dass das LG zu Unrecht eine Verurteilung auch in Bezug auf die eingetretene Todesfolge ablehnte. Dies sei hinsichtlich einer leichtfertigen Begehungsweise nicht haltbar.
Die von der Kammer getroffene rechtliche Würdigung schöpfe die Feststellungen nicht aus. Diese belegten vielmehr, dass durch das vorsätzliche Sich-Bemächtigen durch B. eine Gefahrenlage für das Leben des O. entstand, die sich in der späteren Eskalation verwirklichte. B. könne der Tod des O. zugerechnet werden. Ein Beteiligter hafte grundsätzlich nur für die Folgen eines unmittelbaren Täters, wenn die Begehung des Grunddelikts i.S.d. § 239 Abs. 1 StGB in seine Vorstellung von der Tat einbezogen wurde; hinsichtlich der schweren Folge genüge Leichtfertigkeit.
Nach diesen Maßstäben erfülle bereits das Verhalten des B. selbst den Tatbestand des § 239a Abs. 1 SGB, indem er sich des O. über einen längeren Zeitraum bemächtigte und eine nicht unerhebliche Zwangslage herstellte. Leichtfertig handele eine Person, die bezogen auf den Todeseintritt einen erhöhten Grad an Fahrlässigkeit aufweise, insbesondere die sich aufdrängende Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderem Leichtsinn außer Acht lasse. Gleichzeitig müsse sich der Todeserfolg im Rahmen eines für § 239a Abs. 3 StGB erforderlichen qualifikationsspezifischen Zusammenhangs ergeben. Eine wenigstens leichtfertige Todesverursachung durch die Tat sei danach dann anzunehmen, wenn sich im Tod tatbestandsspezifische Risiken verwirklichen, die mit dem Grundtatbestand zusammenhängen.
Der B. schaffe nach der Ansicht des Senats bereits mit der Entführung und Bemächtigung eine erhebliche Gefahrenlage für die körperliche Integrität des Opfers; diese Gefahrenlage nehme mit zunehmender Dauer der Gefangenschaft regelmäßig zu. Die körperliche Integrität sei dahingehend neben der Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Genötigten ein von § 239a StGB geschütztes Rechtsgut. Die typische Gefahr für die körperliche Integrität habe sich im vorliegenden Fall verwirklicht. Die Eskalationsgefahr hätte sich danach vor allem durch das Eintreffen des A. erhöht, was für B. auch erkennbar gewesen sei. Der Exzess des A. lasse den Zurechnungszusammenhang zwischen dem von B. begangenen erpresserischen Menschenraub und dem Tod des O. nicht entfallen.