Johannes Kaspar (Hrsg.): „Sicherungsverwahrung 2.0“

von Prof. Dr. Alexander Baur

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2017, Verlag Nomos, Baden-Baden, ISBN 978-3-8487-3767-3, S. 319, Euro 79,00.

1. Das Urteil des BVerfG vom 4.5.2011 zur Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung war die Zäsur, der der von Kaspar (Universität Augsburg) herausgegebene Sammelband seinen Titel verdankt: Mit dem Urteil begann eine Entwicklung, die es nahelegt, von einer „Sicherungsverwahrung 2.0“ zu sprechen. Folgen und Änderungen im Bereich der Sicherungsverwahrung seit dem „Paukenschlag“ (Kaspar) des BVerfG beleuchtet der vorliegende Sammelband und trägt dabei die Ergebnisse einer Augsburger Tagung zusammen.

Die Rechtslage vor und nach dem Urteil des BVerfG stellt Bartsch (Universität Tübingen) dar und begrüßt dabei eine über die Jahre immer klarer erkennbare, freiheitsorientierte Linie der Verfassungsrechtsprechung. Zu kritisieren sei jedoch die ebenfalls zu beobachtende Aufladung des Abstandsgebots und dessen Begründung mit den unterschiedlichen Legitimationsgrundlagen und Zwecksetzungen von Strafe und Maßregeln. In der Praxis würden die Vorgaben des BVerfG im Wesentlichen zuverlässig umgesetzt. Ergänzt wird der Beitrag von Bartsch durch die ausführlichen Darlegungen zur Rückwirkungsproblematik von Neuregelungen im Bereich der Sicherungsverwahrung und damit zusammenhängenden Problemen des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes (Werndl, Ufer Knauer Rechtsanwälte, München).

2. Der Band stellt daneben den rechtstatsächlichen Forschungsstand zur Sicherungsverwahrung zusammen und zeichnet an vielen Stellen, teils quantitativ, teils qualitativ geprägt, deren Vollzugswirklichkeit nach. Dessecker (KrimZ Wiesbaden), dessen Beitrag den Band eröffnet, gibt einen ersten Überblick zum empirischen Kenntnisstand und stellt insbesondere Forschungsergebnisse der KrimZ, unter anderem zu Strukturmerkmalen der Vollzugseinrichtungen und den im Vollzug der Sicherungsverwahrung umgesetzten Maßnahmen, vor. Kinzig (Universität Tübingen) zeichnet mit seiner Auswertung insbesondere der Strafvollzugsstatistik die Entwicklung der Fallzahlen der Sicherungsverwahrung der letzten rund 20 Jahre nach. Feest (Universität Bremen) gewährt einen Blick hinter die Kulissen des „AK Sicherungsverwahrung“ und schildert unter anderem eindrücklich die Besuche des Arbeitskreises  in   den   Justizvollzugsanstalten Werl, Rosdorf und Brandenburg sowie der Longstay-Eirichtung Zeeland (Niederlande). Meier (Universität Hannover) ergänzt Überlegungen zur – zahlenmäßig glücklicherweise kaum praxisrelevanten, aber gleich aus einer Vielzahl von Gründen besonders problematischen – Sicherungsverwahrung bei Jugendlichen und Heranwachsenden.   

Insbesondere bei Feest, Kinzig und Meier münden die Analysen in rechtspolitischen Forderungen. Meier fordert unter anderem eine Rückkehr zu einer starren Obergrenze wie vor der Reform durch das Sexualstraftatenbekämpfungsgesetz 1998. Kinzig sondert in der rechtspolitischen Reformdebatte um die Sicherungsverwahrung zunächst Utopisten von Realisten, verortet sich selbst bei den Realisten und plädiert für umfangreiche, aber systemimmanente Änderungen. Feest kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass „die Unterbringung der deutschen Sicherungsverwahrten in mehr oder weniger großzügigen Einrichtungen nicht viel gebracht hat“. Mit seiner Forderung nach „restloser Abschaffung der Sicherungsverwahrung“ oder jedenfalls „faktischer Abschaffung durch Reduktion“ dürfte er freilich von Kinzig eher dem Lager der Utopisten zugeschlagen werden.

3. Wie ein roter Faden durch eine Vielzahl der Beiträge zieht sich die Problematik einer zutreffenden Legalprognose. Die meisten Beiträger haben erhebliche Zweifel an deren Validität. Höffler (Universität Göttingen) gibt zunächst einen Überblick zu Prognoseinstrumenten und zeigt deren Fehlerquellen auf. Brettel (Universität Mainz) weist auf die ungeklärte „Kriminorelevanz“ psychischer Störungen hin. Kinzig betont die systematische Überschätzung der Gefährlichkeit vor allem bei älteren Straftätern. Im Jugendstrafrecht verschärfe sich die Lage noch dadurch, dass schon allein aufgrund der jugendtypischen Entwicklungsverläufe Prognosen zusätzlich erschwert würden (Meier). Die systematische Überschätzung des Rückfallrisikos führe dazu, dass „die Justiz auf diesem Weg auch einen hohen Anteil nicht ‚wirklich‘ gefährlicher Täter erfasst und in der Sicherungsverwahrung unterbringt“ (Meier). Bedenklich daran sei vor allem, dass sich Politik und Justiz der Problematik nicht hinreichend bewusst seien – denn jede noch so strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes laufe ins Leere, wenn die zugrunde gelegte Gefährlichkeit des jeweiligen Straftäters fehleingeschätzt werde.

4. Ergänzt wird der Band durch den Blick von Praktikern auf die „Sicherungsverwahrung 2.0“. Arloth und Wegner (Bayerisches Staatsministerium der Justiz) messen zunächst die Vorgaben des Ultima-ratio-Prinzips aus und zeigen dessen Auswirkungen auf die (bayerische) Vollzugspraxis. Dabei betonen die beiden Autoren wie kaum ein anderer Beiträger des Bandes auch die Notwendigkeit der Sicherungsverwahrung: „…trotz umfassendster Betreuungs- und Behandlungsangebote wird immer auch ein Teil von Straftätern verbleiben, bei dem die Gefährlichkeit auch durch dieses Angebot nicht auf ein für die Allgemeinheit hinnehmbares Maß abgesenkt werden kann. Vor diesem Teil gefährlicher Straftäter mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung muss die Bevölkerung […] geschützt werden.“ Die Problematik, wie dieser Teil gefährlicher Straftäter zuverlässig identifiziert werden kann, wird nicht weiter verfolgt. Man mag sich daher geneigt fühlen, hier einen Beleg für das von Meier angesprochene, in Politik und Justiz bisweilen unzureichend ausgeprägte Bewusstsein für die ungeklärte Validität von Legalprognosen gefunden zu haben.

Amannsberger (JVA Straubing) stellt dem „freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug“ ein gutes Zeugnis aus. Ein therapiegerichteter Vollzug sei zwar „verwaltungsaufwändiger, zeitintensiver und insbesondere personalintensiver“; Kosten für die dadurch gesicherte Rechtsstaatlichkeit dürften aber nicht gescheut werden und, möchte man ergänzen, werden offenbar auch nicht gescheut. Legt man den Beitrag Nedopils (Universität München) kritisch daneben, beginnen sich freilich Zweifel zu regen, ob diese Einschätzung unangefochten bleibt. Insbesondere der Strafvollzug komme „seiner Aufgabe gem. § 67c Abs. 2 StGB nur sehr begrenzt“ nach. Der Erfolg therapeutischer Maßnahmen im Strafvollzug sei schon deswegen fragwürdig, weil trotz ausreichender Zeit die Sicherungsverwahrung in der Praxis nicht vermieden werde. Therapieangebote wirkten eher defizitär, kämen regelmäßig zu spät und seien selten altersangemessen. Zuzugeben sei aber auch, dass Therapeuten und Betreuer in der Sicherungsverwahrung Beachtliches leisteten, zumal sich bei alternden Menschen, die langfristig in geschlossenen Einrichtungen leben müssten, besondere Herausforderungen stellten. Liest man im Anschluss daran den Beitrag von Ahmed (Rechtsanwalt, München), kann man sich schließlich des Eindrucks eines offenen Konflikts – hier zwischen Vertretern der Justiz und der Anwaltschaft – kaum erwehren. Ahmed zeichnet aus Sicht des Strafverteidigers nämlich ein anderes Bild: Nicht nur, dass die Freiheitsperspektive gerade einmal 533,- EUR wert sei – so hoch ist der Satz nach RVG für die Pflichtverteidigung vor der Strafvollstreckungskammer –, sondern auch die systematische Überschreitung der Prüffristen des § 67e StGB lasse „eine nicht mehr vertretbare Gleichgültigkeit gegenüber dem grundrechtssichernden Verfahrensrecht“ erkennen.

5. Mit dem Band, der durch einen rechtsvergleichenden Blick auf die Rechtslage in China (Jiang, Universität Peking) sowie die Behandlung gefährlicher Straftäter im japanischen Strafvollzug (Onagi, Universität Hokkaido) abgerundet wird, ist ein umfassender und, wie angesichts der Beiträger nicht anders zu erwarten, ertragreicher Sammelband über die aktuellen Entwicklungen und (ungelösten) Probleme der Sicherungsverwahrung gelungen. Es bleiben zwei Petita. Der Band blendet die weiteren Folgen der Rechtsprechung des BVerfG – etwa die Einführung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (§ 68 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB) oder die Möglichkeiten zur polizeilichen Dauerobservation – weitgehend aus. Bei einer Fokussierung auf die Sicherungsverwahrung und ihre Vollzugsbedingungen ist das durchaus legitim. Zu bedenken ist aber, dass jedenfalls Sicherungsverwahrung und Führungsaufsicht kommunizierende Röhren sind. Je leistungsfähiger die Führungsaufsicht als ambulante Anschlussmaßregel ist, desto leichter können Entscheidungen nach § 67d Abs. 2 StGB verantwortet werden und desto eher wird ein Weitervollzug der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresschwelle des § 67d Abs. 3 StGB hinaus als unverhältnismäßig gelten müssen – kurz: desto besser ist die im Band vielfach zu Recht angemahnte Freiheitsperspektive der Sicherungsverwahrten. Umgekehrt gilt genauso, dass je höher der Entlassungsdruck aus der Sicherungsverwahrung steigt, desto belastbarer die Führungsaufsicht sein muss. Die Rolle der Führungsaufsicht bleibt im Band leider schemenhaft. Sie blitzt an einzelnen Stellen auf (Feest, Kinzig, Meier, Arloth/Wegner), manchmal vermisst man sie spürbar, etwa im Beitrag von Haverkamp (Universität Tübingen) zum Übergangs- und Risikomanagement bei entlassenen Sicherungsverwahrten. Vorschläge wie der von Kinzig, § 67h StGB – im Alltag der Behandlungsmaßregeln mittlerweile eine tragende Säule – auf die therapeutisch auszugestaltende Sicherungsverwahrung auszudehnen, verdienten daher noch mehr Beachtung.

Eine zweite Forderung hat nichts mit dem Band als solchem zu tun, lässt sich aber bereits aus dessen erstem Beitrag ableiten. Vergleicht man die Zahlen der sicherungsverwahrten und der nach § 63 StGB untergebrachten Straftäter, verwundert bisweilen das – in jeder Hinsicht zu begrüßende – „hohe rechtspolitische und publizistische Interesse“ (Dessecker) an der Sicherungsverwahrung und die dazu im Vergleich nachlässige Behandlung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. In beiden Fällen handelt es sich um unbefristete Maßregeln; die Eingriffsintensität der Unterbringung nach § 63 StGB ist schon vor dem Hintergrund der dort vollzugsrechtlich zulässigen Zwangsbehandlung nicht per se geringer. Liegt die Sicherungsverwahrung im Kreis der Beiträger in guten Händen – dem zum Abschluss des Bandes skizzierten Forschungsvorhaben (Kaspar/Kratzer-Ceylan, Universität Augsburg) sei schon deswegen jeder Erfolg gewünscht –, sucht man eine ähnlich geballte juristische und kriminologische Expertise bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bislang noch vergeblich.

 

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