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Lebensgefährliches Verhalten im Straßenverkehr – Was man aus den Raser-Fällen für eine lex ferenda zu Vorsatz und Fahrlässigkeit lernen kann – Kommentar zum Beitrag von Prof. Dr. Jörg Eisele

von RiOLG Prof. Dr. Tonio Walter

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I. Von Ameisen und Elefanten

Mein Kommentar zu Jörg Eiseles Vortrag wird ein wenig so verfahren wie jener Biologiestudent, der sich für eine mündliche Prüfung allein auf das Thema „Ameise“ vorbereitet hatte und dann gefragt wurde, was er über den Elefanten wisse? Antwort: „Der Elefant ist ein sehr großes Tier! Ganz im Gegensatz zur Ameise. Und zur Ameise muss man unbedingt das Folgende wissen …“ Ich werde also zum neuen § 315d StGB, den Jörg Eisele behandelt hat, nur wenig sagen – und dann etwas längere Ausführungen zu einem Thema machen, das in den Raser-Fällen, vor allem dem des LG Berlin[1], die Hauptrolle gespielt hat, doch über diese Fälle hinaus von allgemeinem Interesse ist: der bedingte Vorsatz, das heißt seine Definition und seine Strafbarkeit im geltenden Recht sowie in einer lex ferenda.

II. § 315d StGB und die Systematik der Verkehrsdelikte

Dass ich mich zu § 315d StGB kurz fasse, liegt allerdings daran, dass ich Jörg Eisele in praktisch allen Punkten zustimme: Für die folgenlose Teilnahme an einem illegalen Rennen hätte es gereicht, ein abstraktes Gefährdungsdelikt nach Art des § 316 StGB zu schaffen. Auch dessen Strafrahmen hätte gepasst. Ebenso gut vertretbar wäre ein etwas härterer Strafrahmen von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe gewesen, wie man ihn etwa von der tätlichen Beleidigung kennt (§ 185 2. Alt. StGB). Denn das kollektive Rasen dürfte pauschalierend betrachtet gefährlicher sein als die durchschnittliche Trunkenheitsfahrt. Für die Fälle einer konkreten Gefährdung anderer hätte man die Teilnahme an den Rennen als weitere „Todsünde“ in § 315c StGB aufnehmen sollen. Gleiches gilt für das „Solorasen“, für dessen tatbestandliche Erfassung man sich – mit Jörg Eisele – eine gelungenere Formulierung gewünscht haben würde. Das Ausrichten und Durchführen von Rennen hingegen bedurfte keines Straftatbestandes. Jörg Eisele hat dazu alles Erforderliche gesagt.

Für § 315c StGB wäre sodann eine Erfolgsqualifizierung sinnvoll gewesen – und ist dies übrigens auch so und ganz ohne an die Raser-Fälle zu denken. Wenn man sich die Erfolgsqualifikationen der anderen gemeingefährlichen Delikte  ansieht, hätte zu  ihnen  folgende  zweistufige Regelung gepasst: bei schwerer Gesundheitsschädigung eines anderen oder der Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren (so im StGB auch in § 309 Abs. 3, § 312 Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 2, auch in Verbindung mit § 315b Abs. 3, und in § 318 Abs. 3). Und bei leichtfertiger Todesverursachung Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren (vgl. im StGB § 308 Abs. 3, auch in Verbindung mit § 313 Abs. 2 und § 314 Abs. 2, ferner § 309 Abs. 4, § 312 Abs. 4, § 316a Abs. 3, § 316c Abs. 3 und in § 318 Abs. 4). Allerdings zeigt der Blick auf die eben in Klammern angeführten Regelungen zu Todeserfolgsqualifikationen, dass sie nicht ganz einheitlich ausgestaltet worden sind. Mal wird Leichtfertigkeit verlangt, mal nicht. Und manchmal findet man noch eine Regelung zu einem minder schweren Fall. Auch beim Strafrahmen gibt es Ausreißer. Das sind Unstimmigkeiten, die man beseitigen sollte.

Mit der Einführung des neuen § 315d StGB hat die kriminalpolitische Diskussion über lebensgefährliches Verhalten im Straßenverkehr also vielleicht doch noch nicht ihr Ende erreicht. Erstrecken sollte sich diese Diskussion aber nicht nur auf die Tatbestände der Verkehrsdelikte, sondern auch auf die Vorschriften des Allgemeinen Teils betreffend Vorsatz und Fahrlässigkeit. Denn die Raser-Fälle haben den Streit darüber neu entfacht, wann jemand mit bedingtem Vorsatz handele und wann bloß fahrlässig. Diesen Streit berührt der neue § 315d StGB überhaupt nicht: Handelt ein Raser mit Verletzungs‑ oder gar Tötungsvorsatz, so verwirklicht er §§ 224, 226 oder §§ 212, 211 StGB, und diese Frage nach seinem Vorsatz stellt sich stets ganz unabhängig von § 315d StGB. Im Folgenden möchte ich den Blick noch einmal darauf lenken, dass der Grund jenes Streits um die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit womöglich nicht so sehr eine dogmatische Verwicklung ist als vielmehr eine unbefriedigende Gesetzeslage.

III. Der bedingte Vorsatz im geltenden Recht und in einer lex ferenda

1. AT-Kriminalpolitik

Das Wort „Gesetzeslage“ ist in diesem Zusammenhang allerdings eine gelinde Übertreibung, denn es handelt sich lediglich um eine einzige Vorschrift: den § 16 StGB. Nur er sagt etwas über den Inhalt des Vorsatzes. Und das auch nur indirekt, indem er uns wissen lässt, wann der Vorsatz fehlt. Bloß nebenbei und der Vollständigkeit halber der Hinweis, dass auch diese legislative Entscheidung zur Kriminalpolitik gehört. Zwar geht es in der Kriminalpolitik heute fast immer um Tatbestände des Besonderen Teils. Aber nicht immer. Eine aktuelle Ausnahme ist zum Beispiel die Diskussion darüber, ob man auch juristische Personen dem Kriminalstrafrecht unterwerfen solle.[2] Und auch abgesehen von solchen evident politischen Fragen gehören die Entscheidungen des Gesetzgebers im Allgemeinen Teil zur Kriminalpolitik. Sie sind zwar oft weniger weltanschaulich oder gar parteipolitisch geprägt, doch nichtsdestoweniger politisch; zum Beispiel wenn es darum geht, ob ein Anstifter tatsächlich wie ein Täter bestraft werden sollte und ob der ungefährliche, ja sogar der grob unverständige Versuch tatsächlich unter Strafe gestellt gehört.

2. Die Schwächen des § 16 StGB

Kriminalpolitisch bedenklich ist § 16 StGB in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist er dem Vorwurf ausgesetzt, mit seinem Wortlaut für den Vorsatz zu viel zu verlangen, nämlich ein Kennen der Tatumstände – was erstens hinsichtlich alles Zukünftigen ausgeschlossen ist, da man nur Tatsachen kennen kann und sie allein in der Gegenwart oder der Vergangenheit liegen, und was zweitens bedingten Vorsatz (eigentlich) ausschließt, da er sich für die intellektuelle Komponente des Vorsatzes mit einem Für-möglich-Halten begnügt; und das ist weniger als ein Kennen. Zum zweiten ist § 16 StGB kriminalpolitisch insofern bedenklich, als er genauso wenig wie § 15 StGB zwischen den Vorsatzformen unterscheidet: Das deutsche Strafgesetz behandelt grundsätzlich – von wenigen Tatbeständen abgesehen – alle Vorsatzformen gleich und droht dem Absichtsverbrecher dieselbe Strafe an wie jemandem, der sich mit Skrupeln trägt, die Vollendung am liebsten verhinderte und nur um eines außertatbestandlichen Zieles willen handelt. Im Einzelnen:

a) Der Wortlaut des § 16 StGB stellt bedingten Vorsatz straffrei

§ 16 StGB schließt die Vorsatzstrafe aus, sobald jemand die tatbestandserfüllenden Umstände „nicht kennt“. Im Umkehrschluss heißt dies – ausnahmsweise zwingend –, dass der Vorsatz eine Kenntnis des Sachverhalts verlangt und dass ein Tatbestandsirrtum immer dann vorliegt, wenn man nicht mehr von einer solchen Kenntnis sprechen kann. Dabei umfasst das Nichtkennen sowohl Fälle völliger Ahnungslosigkeit, die man „Unkenntnis“ nennen mag, als auch Fälle, in denen jemand nicht sicher ist, wie es sich tatsächlich verhält; in denen er also die wahre Sachlage durchaus für möglich hält und in Betracht zieht, sie aber nicht als die Gewissheit betrachtet, die sie objektiv ist, und sie folglich nicht kennt. Denn Kenntnis heißt im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch „als Wahrheit wissen“. Nur wenn man weiß, wie etwas ist, kennt man den Sachverhalt. Sagt jemand „Ich kenne die Notrufnummer der Polizei“, dann weiß er, dass er in Notfällen die 110 wählen muss. Und wer das Alter eines anderen kennt, kann es entweder aufs Jahr genau angeben; oder er kennt nicht das Alter des anderen, sondern nur eine bestimmte Eigenschaft dieses Alters, etwa die Volljährigkeit, oder lediglich die Altersstufe („Teenager“, „Ü30“, „Senior“). Hingegen umfasst ein Kennen im Deutschen nie den Fall, dass jemand etwas lediglich für möglich hält, sich aber nicht sicher ist, wie die Dinge tatsächlich liegen.

Außerdem kann sich ein Kennen ebenso wie ein Wissen stets nur auf Tatsachen beziehen. Tatsachen wiederum sind beweisbare Sachverhalte der Gegenwart oder Vergangenheit, jedoch keine erst künftig eintretenden Umstände.[3] All dies führt dazu, dass § 16 StGB, wenn man seinen Wortlaut ernst nimmt, für den Vorsatz nur wenig übrig lässt. Denn Vorsatz ist gemäß diesem Wortlaut nur möglich hinsichtlich solcher Umstände, die schon „bei Begehung der Tat“ vorliegen, also im Zeitpunkt des tatbestandsmäßigen Verhaltens, und bis in die Vollendung hinein fortdauern. Beispiele sind das kindliche Alter eines Missbrauchsopfers, die Fremdheit der gestohlenen Sache und dass eine rechtswidrige Tat begangen wurde, deren Täter vor einer Bestrafung geschützt wird (§ 258 StGB – Strafvereitelung). Keine Kenntnis haben kann ein Täter aber beispielweise vom Tod des Opfers, wenn er den Abzug seiner Pistole betätigt. Denn zu diesem Zeitpunkt liegt jener Tod noch in der Zukunft. Der Täter kann ihn voraussehen – aber noch nicht kennen. Demgemäß hat der E 1962 die Wissentlichkeit ausdrücklich doppelt definiert, nämlich als die Fälle, dass jemand etwas „weiß oder als sicher voraussieht“ (so in § 16 und in § 17 Abs. 2 des E 1962). Wenn man den geltenden § 16 StGB folglich bei seinem Wortlaut nimmt, sind nur noch wenige Handlungen ein Vorsatzdelikt.

Dagegen lässt sich vieles Vernünftige einwenden: die gegenteilige Absicht des Gesetzgebers, der Unsinn des Ergebnisses – und dass noch nie jemand darauf verfallen sei, § 16 StGB so pedantisch zu lesen. Nur nützt das leider alles nichts, weil dem Analogieverbot solche klugen Hinweise einerlei sind. Das Analogieverbot ist nachgerade das Gebot, ein unvernünftiges Ergebnis hinzunehmen, ja eine Pflicht zum Unsinn. Denn der Sinn – der Sinn des Gesetzes – gebietet doch immer die Analogie; sonst wäre sie keine, will sagen: sonst läge ihre wichtigste Voraussetzung nicht vor. Dass der Unsinn ein untragbares Ausmaß annähme, wenn man die Wortlautgrenze des § 16 StGB beachtete, erklärt zwar den rechtstatsächlichen Befund, dass man dies nicht tut noch je tun wird; ganz gleich, wie viele Stimmen sich der hier vorgestellten Analyse anschlössen. Doch diese Analyse selbst, ihr einfaches sprachliches und methodisches Ergebnis lassen die theoretisch zu ziehenden Konsequenzen kalt. Und eine dieser Konsequenzen ist nicht nur theoretisch zu ziehen: die Forderung nach einem besseren Gesetz.

b) § 16 StGB behandelt alle Vorsatzformen gleich – eine ungerechte Regelung

Die Forderung nach einem besseren Gesetz folgt auch noch aus einer zweiten Erwägung, und zwar der, dass es kriminalpolitisch verfehlt ist, alle Vorsatzformen auf der Rechtsfolgenseite gleichzustellen. Aus empirischen Erhebungen wissen wir, dass für die Gerechtigkeitsintuitionen der Menschen die böse Absicht, die jemand hat, von großer Bedeutung ist. Man hat gegenüber jemandem, der ein verbrecherisches Ziel verfolgt, wesentlich stärkere Vergeltungsbedürfnisse als gegenüber jemandem, der ein schlimmes Ereignis lediglich für möglich hält und um eines ganz anderen Zieles willen in Kauf nimmt.[4] Das lässt sich auch damit erklären, dass eine deliktische Absicht die Rechtsordnung besonders nachhaltig in Frage stellt und oft für eine besondere Gefährlichkeit des Täters spricht.[5] Zudem ist es in der Rechtsprechung und im Schrifttum zur Strafzumessung unstreitig, dass jedenfalls der bedingte Vorsatz milder zu bestrafen ist als die Absicht.[6] Das sollte sich im Strafgesetz spiegeln. Vor allem dann, wenn man wie ich der Ansicht ist, dass die Aufgabe des Strafrechts darin besteht, nachhaltig und mehrheitlich feststellbaren Gerechtigkeitsintuitionen der Menschen zu entsprechen. Diese Gerechtigkeitsintuitionen sind nichts anderes als Vergeltungsbedürfnisse, weniger verfänglich formuliert: Bedürfnisse nach einem gerechten Schuldausgleich. Aber auch wenn man den Zweck der Strafen anders bestimmt, dürfte es sinnvoll erscheinen, einer empirisch so klar feststellbaren Überzeugung von der hohen Strafwürdigkeit absichtlichen Verhaltens und der geringeren Strafwürdigkeit bedingten Vorsatzes schon im Gesetz Rechnung zu tragen – und nicht erst in der Strafzumessung. Denn alle wesentlichen Entscheidungen hat der Gesetzgeber selbst zu treffen und darf sie nicht den Gerichten überlassen.[7] Dies führt zu der Forderung, im Allgemeinen Teil des Strafrechts zumindest dafür zu sorgen, dass der bedingte Vorsatz eine geringere Strafe nach sich zieht als die Absicht.

Es fragt sich dann, was für die Wissentlichkeit gelten sollte, auch direkter Vorsatz zweiten Grades genannt. Definiert wird sie üblicherweise wie im E 1962, siehe oben, das heißt als subjektiv sicheres Wissen hinsichtlich gegenwärtiger oder vergangener Tatsachen sowie als subjektiv sichere Voraussicht künftiger Ereignisse. In dieser Form erachtet man sie in Bezug auf das Maß der Schuld überwiegend als der Absicht gleichwertig.[8] Begründen lässt sich das damit, dass die Wissentlichkeit zwar voluntativ hinter der Absicht zurückbleibt, aber kognitiv über sie hinausreichen kann (wenn auch nicht muss): Absichtlich handeln kann auch, wer die Vollendung nur für möglich hält. Gegenüber dem bedingten Vorsatz hingegen ist die Wissentlichkeit kognitiv stets dichter, und voluntativ steht sie jedenfalls nicht unter ihm – so dass sie per saldo ein größeres Gewicht auf die Schuldwaage wirft. In der Zusammenschau erscheint es daher berechtigt, unter den Vorsatzformen mit Blick auf die Strafrahmen nur eine Zweiteilung vorzunehmen: Absicht und Wissentlichkeit auf der einen Seite, bedingter Vorsatz auf der anderen.

3. Wie man den Schwächen des § 16 StGB abhelfen könnte

a) Grundlinien

Der Schwäche eines zu engen Wortlauts ist naheliegenderweise abzuhelfen, indem man ihn weiter fasst. Wollte man dabei bleiben, in § 16 StGB mit dem Tatbestandsirrtum nur die kognitive Kehrseite des Vorsatzes zu definieren, könnte es dort heißen: „Wer einen der Umstände, die den Tatbestand erfüllen, weder kennt noch für möglich hält oder als sicher oder möglich voraussieht …“ Es fragt sich aber mit Nachdruck, warum man an einer solchen nur partiellen und rein negativen Definition des inneren Tatbestandes festhalten sollte? Welchen Vorteil hat sie gegenüber einer positiven Bestimmung der Vorsatzformen – aus der dann im Umkehrschluss zwanglos folgte, welche Vorstellungen keinen Vorsatz begründen können? Sie liegt nicht nur intuitiv näher als die negative Methode, sondern hätte den weiteren Vorteil, auch voluntative Erfordernisse berücksichtigen zu können. Der Vorschlag für eine lex ferenda unten wird daher in einer positiven Begriffsbestimmung bestehen.

Der ungerechten Gleichbehandlung der Vorsatzformen durch das geltende Recht ist abzuhelfen, indem man bereits im Allgemeinen Teil für den bedingten Vorsatz mildere Strafrahmen vorsieht als für die Absicht und die Wissentlichkeit. Der Umfang der Milderung ist Verhandlungssache. Mir erscheint derzeit eine Ermäßigung um ein Drittel als angemessen. Dieser Vorschlag beruht aber einzig auf einer eigenen Schwereeinschätzung und hätte besser begründeten Alternativen zu weichen. Das gilt entsprechend für eine weitere Anregung:

b) Der Vorschlag, den Begriff der Wissentlichkeit weiter zu fassen

Vorschlagen möchte ich noch, die Wissentlichkeit etwas weiter zu definieren als bislang, und zwar nicht nur als subjektiv sicheres Wissen und als sichere Voraussicht, sondern auch als den Fall, dass jemand die Vollendung lediglich – aber immerhin – für wahrscheinlich hält. Gemeint ist damit die Einschätzung des Täters, dass es mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Vollendung kommen werde, das heißt mit einer Wahrscheinlichkeit von über 50 Prozent. Nicht mehr ausreichend wäre subjektive Ungewissheit dergestalt, dass man aus Sicht des Täters auch eine Münze werfen könnte, also eine subjektive 50:50-Prognose. Erst recht reichte es nicht, wenn der Täter die Vollendung zwar für möglich hielte, aber für weniger wahrscheinlich als ihr Ausbleiben. Dieser Vorschlag beruht erneut auf einer Vermutung, und zwar auf der Annahme, dass die Gleichstellung eines Für-wahrscheinlich-Haltens mit einem Als-sicher-Voraussehen den Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen entspricht. Gegenüber dem bedingten Vorsatz wöge das kognitive Element weiterhin schwerer. Und dies täte es weiterhin auch gegenüber der Absicht, da auch ein Für-wahrscheinlich-Halten mehr ist, als die Absicht als Minimum verlangt. Der kognitive Vorsprung des Für-wahrscheinlich-Haltens gegenüber der Absicht spricht für die Gleichstellung mit ihr: Was dem Für-wahrscheinlich-Halten an voluntativer Stärke fehlt, gleicht es durch kognitive Dichte aus. Wie schon der Vorschlag, die Strafrahmen bei bedingtem Vorsatz um ein Drittel zu mildern, steht diese Gleichstellung unter dem Vorbehalt abweichender Forschungsergebnisse betreffend die Gerechtigkeitsintuitionen der Rechtsunterworfenen.

4. Formulierungsvorschlag für einen neuen § 16 StGB und weitere Erläuterungen

a) Wortlaut

Ein neuer § 16 StGB könnte zum Beispiel wie folgt lauten:

§ 16 Vorsatzformen.

(1) 1Vorsatz hat nur, wer bei Begehung der Tat deren Vollendung anstrebt (Absicht) oder sie ohne Absicht als sicher oder wahrscheinlich voraussieht (Wissentlichkeit) oder für möglich hält (bedingter Vorsatz).2Bei bedingtem Vorsatz ermäßigen sich Höchst- und Mindeststrafen um ein Drittel und eine lebenslange Freiheitsstrafe auf zeitige Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.

(2) […] [wie bisher]

Dieser Vorschlag ist minimalinvasiv, da er allein das berücksichtigen soll, was oben ausgeführt ist. Damit möchte ich allerdings nicht von den weiterreichenden Empfehlungen abrücken, die ich in meiner Habilitationsschrift gemacht habe.[9] Der Vorschlag hier ist also gewissermaßen nur ein Hilfsantrag – als solcher aber vollumfänglich ernst gemeint. Für die Überschrift des neuen § 16 StGB schlage ich Vorsatzformen vor, da die alte Überschrift „Irrtum über Tatumstände“ nun nicht mehr passte: Von einem Irrtum spricht jetzt nur noch Abs. 2. Der Begriff der Vorsatzformen steht zwar in erster Linie für den Inhalt des Abs. 1, umfasst aber auch noch den Abs. 2. Denn den dort geregelten Irrtum – die irrige Annahme eines privilegierenden Sachverhalts – könnte man auch „Privilegierungsvorsatz“ nennen.

b) Die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit wird einfacher

Der hier unterbreitete Vorschlag für eine Neufassung des § 16 StGB erübrigt die bekannte Diskussion um eine Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit. Denn der neue Wortlaut definiert den bedingten Vorsatz klar und schlicht als das Für-möglich-Halten der Vollendung (ohne dass sie angestrebt würde – sonst Absicht). In der Abgrenzungsdiskussion entspricht das der Möglichkeitstheorie.[10] Sie schlägt alle Fälle der bewussten Fahrlässigkeit dem bedingten Vorsatz zu. Mit anderen Worten gibt es unter ihrer Herrschaft keine bewusste Fahrlässigkeit. Zwar verschwindet dann die Chance, den Handelnden mit der Formel zu entlasten, er habe auf ein Ausbleiben der Vollendung vertraut. Doch ist diese Formel erstens begrifflich fehlerhaft (wiewohl kriminalpolitisch verständlich). Denn wer die Möglichkeit des Erfolges als eine ernste erkennt, kann nur noch hoffen, er werde ausbleiben, aber nicht mehr darauf vertrauen. Wer wirklich vertraut – und dies nicht bloß behauptet –, ist unbesorgt und subjektiv sicher, dass es gutgehen werde.[11] Zweitens wird sie kriminalpolitisch entbehrlich, wenn man den bedingten Vorsatz einem milderen Strafrahmen unterwirft – wie es der hiesige Reformvorschlag tut. Natürlich bleibt dann noch immer Klärungsbedarf, vor allem zu der Frage, wann der Handelnde die Vollendung für eine buchenswerte und nicht nur theoretische Möglichkeit hält. Aber es hat noch kein Gesetz gegeben, das ganz ohne Auslegungsfragen ausgekommen wäre. Und jedenfalls verspricht der hiesige Reformvorschlag, die Probleme deutlich zu verringern.

c) Der Tatbestandsirrtum muss nicht gesondert geregelt werden

Eine neue Regelung zum Tatbestandsirrtum erübrigt sich. Vielmehr ergibt sich die Wirkung eines solchen Irrtums – dass der Vorsatz entfällt – aus der Definition der Vorsatzformen: Wer auf eine Regentonne schießt und nicht weiß, dass sich in ihr ein Kind versteckt, begeht objektiv ein Tötungsdelikt, strebt aber die Vollendung dieser Tat weder an noch sieht er sie voraus oder hält sie für möglich. Und auch in den Fällen, in denen der Täter irrig einen anderen tatbestandsmäßigen Sachverhalt annimmt, etwa bei der aberratio ictus, lässt sich der Vorsatz verneinen, weil der Täter nicht die Vollendung dieser objektiv am falschen Opfer vollendeten Tat gewollt hat; und das neue Gesetz verlangt, dass er bei der Begehung der Tat „deren“ Vollendung anstrebt, also die Vollendung der objektiv verwirklichten Tat – und nicht die eines anderen, wenn auch tatbestandsgleichen Delikts. Natürlich sind dann die Grenzen dieser Tatidentität fraglich. Aber das sind sie auch schon im geltenden Recht, zu sehen etwa an dem Streit um die Strafbarkeit der aberratio ictus (Vollendung oder Versuch?) und an dem Streit zu ihrer Abgrenzung vom error in persona, etwa wenn eine Briefbombe den Falschen tötet.[12]

Auch dass bei solchen Irrtümern die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tat unberührt bleibt, braucht nicht ausdrücklich erwähnt zu werden, denn es versteht sich von selbst. Wer gleichwohl eine Klarstellung wünscht, mag den alten S. 2 des § 16 Abs. 1 StGB als neuen S. 3 hinzufügen. Und wer zusätzlich zu den Definitionen der Vorsatzformen doch noch eine inhaltsgleiche Regelung des Tatbestandsirrtums will – wieder zur Klarstellung –, der mag sie erneut in den § 16 Abs. 1 StGB schreiben und die Vorsatzdefinitionen in einem neuen § 15 Abs. 2 StGB unterbringen. Die Überschrift des § 15 StGB bräuchte man dafür nicht zu ändern. Die des § 16 StGB dürfte dann aber nicht mehr „Vorsatzformen“ lauten, sondern müsste zum Beispiel in „Sachverhaltsirrtümer“ geändert werden (was wiederum sowohl den Abs. 1 als auch den Abs. 2 umfasste).

d) Erlaubnistatbestandsirrtümer

Nicht leichter würde es durch die Neuformulierung, Erlaubnistatbestandsirrtümer zu erfassen. Aber auch nicht schwerer, denn die ganz herrschende Meinung wendet schon den aktuellen § 16 Abs. 1 StGB lediglich analog an.[13] Das ginge genauso mit der oben vorgeschlagenen Fassung, denn aus ihr ergibt sich im Umkehrschluss, dass in allen nicht genannten Fällen, also außerhalb der gesetzlich neu definierten Vorsatzformen, der Vorsatz fehlt und höchstens wegen Fahrlässigkeit bestraft werden kann. Zu dem gleichen Ergebnis könnte man sogar durch eine Auslegung der neuen Vorschrift gelangen. Dazu müsste man nur den Begriff der „Vollendung“ auslegen im Sinne von: Erfüllen der Merkmale des Verbotstatbestandes, ohne einen Erlaubnistatbestand zu verwirklichen. Besser wäre es wohl, den Erlaubnistatbestandsirrtum ausdrücklich zu regeln. Aber das ist eine Mahnung, die sich schon gegen das geltende Gesetz richtet und den Themenkreis dieses Beitrages überschreitet.

IV. Zusammenfassung

Für den neuen § 315d StGB würde es genügt haben, als abstraktes Gefährdungsdelikt die Teilnahme an einem illegalen Rennen zu erfassen – so wie § 316 StGB Trunkenheitsfahrten erfasst. Das „Solorasen“ hingegen wäre als weitere „Todsünde“ in § 315c StGB besser aufgehoben gewesen, ebenso die Teilnahme an einem Rennen, wenn es zu einer Gefährdung anderer oder gar zu einem Unfall kommt. Außerdem sollte § 315c StGB – auch in seiner heutigen Fassung – Erfolgsqualifizierungen für die Fälle bekommen, in denen der Täter schwere gesundheitliche Schäden bis hin zum Tod anderer Verkehrsteilnehmer verursacht.

Die Raser-Fälle haben auch die Diskussion über die Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit neu belebt. Diese Diskussion ist zunächst eine rein dogmatische und keine kriminalpolitische. Doch lenkt sie den Blick zugleich auf eine kriminalpolitische Frage, und zwar jene, ob sich die Regelungen des Allgemeinen Teils zu Vorsatz und Fahrlässigkeit verbessern ließen. Im Mittelpunkt steht dabei § 16 StGB. Er hat zwei Schwächen: Erstens begrenzt sein Wortlaut, wenn man ihn ernst nimmt, den Vorsatz auf wenige Fälle; denn dieser Wortlaut verlangt für den Vorsatz ein Kennen, und das fehlt sowohl hinsichtlich aller erst künftig eintretenden Umstände als auch dann, wenn jemand einen Umstand lediglich für möglich hält. Zweitens stuft weder § 16 StGB noch eine andere Norm des Allgemeinen Teils die Strafdrohungen nach der Vorsatzform ab. Das ignoriert die Einschätzung fast aller Menschen, dass jedenfalls der nur bedingte Vorsatz in der Schuld weniger schwer wiegt als Absicht und Wissentlichkeit. Abzuhelfen ist diesen Schwächen, indem man in § 16 StGB statt des Tatbestandsirrtums die Vorsatzformen positiv definiert und für den bedingten Vorsatz eine allgemeine Milderung der Strafrahmen anordnet. Einer Regelung für den Tatbestandsirrtum bedarf es dann nicht, weil sich seine Gestalt und seine Rechtsfolge aus der Definition der Vorsatzformen ergeben: Was diesen Definitionen nicht entspricht, ist kein Vorsatz – und verhindert also eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat. Dass eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung unberührt bleibt, versteht sich dann von selbst.

 

[1]      LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – 535 Ks 251 Js 52/16 (8/16), NStZ 2017, 471 m. Bespr. Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 439.
[2]      Vgl. Henssler/Hoven/Kubiciel/Weigend (Hrsg.), Grundfragen eines modernen Verbandssanktionenrechts, 2017.
[3]      RGSt 41, 193 (194); Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, entwickelt am Beispiel des Betruges und der Beleidigung, 1998, S. 113 ff.; Tiedemann, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2012), § 263 Rn. 9.
[4]      Siehe Carlsmith/Darley/Robinson, Journal of Personality and Social Psychology 83, 2002, S. 284–298 (286); Robinson, Intuitions of Justice and the Utility Desert, 2013, S. 49 ff., 84; ders. und Darley, Justice, Liability and Blame, Community Views and the Criminal Law, 1995, S. 157 ff.; jew. m.w.N.
[5]      Für diese Kennzeichnung der Absicht Frisch, BGH-FG, 2000, S. 269 (290); ders., Vorsatz und Risiko, 1983, S. 498 f.; Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 154 ff.
[6]      Für die Rechtsprechung BGH, StV 2009, 464; für das Schrifttum Heger, in: Lackner/Kühl, 28. Aufl. (2014), § 46 Rn. 33; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 263; Streng, Anm. zu BGH, Beschl. v. 1.6.2016 – 2 StR 150/15, StV 2017, 523, ebd. S. 526 (527).
[7]      BVerfGE 98, 218 (251); 95, 267 (307); BVerwGE 109, 29 (37); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, 13. Aufl. (2014), Art. 20 Rn. 47.
[8]      Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (1996), S. 298; Hörnle, S. 263; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, 29. Aufl. (2014), § 15 Rn. 69; Streng, Anm. zu BGH, Beschl. v. 1.6.2016 – 2 StR 150/15, StV 2017, 523, ebd. S. 526 (527); anders Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 157 ff.; Eschelbach, in: SSW-StGB, 3. Aufl. (2016), § 46 Rn. 208; Fischer, StGB, 64. Aufl. (2017), § 46 Rn. 17a.
[9]      T. Walter, Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, 2006, S. 438 ff.
[10]    Für diese Theorie Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 70; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. (2015), Kap. 11 Rn. 25; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. (2015), § 14 Rn. 16 ff.; Langer, Jura 2003, 135 (138); Lesch, JA 1997, 802 (805 ff.); Otto, Grundkurs Strafrecht – Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. (2004), § 7 Rn. 35; Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, Studienbuch, 2. Aufl. (1984), Kap. 10 Rn. 87 ff.
[11]    Siehe T. Walter, NJW 2017, 1350 (1351).
[12]    Zur Strafbarkeit der aberratio ictus BGHSt 37, 214 (216) (Hoferben-Fall); Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), § 16 Rn. 78 (jeweils Versuch, gegebenenfalls in Tateinheit mit einem fahrlässigen Delikt); Daleman/Heuchemer, JA 2004, 460 (462 f.); Puppe, GA 1987, 1 (20) (jeweils Vollendung); zur Abgrenzung vom error in persona BGH, NStZ 1998, 294; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. (2006), § 17 Rn. 177 (jeweils error in persona; herrschende Meinung); Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 174  (aberratio    ictus).
[13]    BGH, NStZ 2012, 272 (273 f.); Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 46. Aufl. (2016), Rn. 704 f.; Jescheck/Weigend, § 41 IV 1 d (S. 464 f.); Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, § 16 Rn. 18; Roxin, § 14 Rn. 64; Vogel, in: LK-StGB, § 16 Rn. 116, 125.

 

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