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Entwurf eines Gesetzes zur Nutzung audio-visueller Aufzeichnungen in Strafprozessen (BT-Drs. 19/11090)

von RA und Fachanwalt für Strafrecht Prof. Dr. Jan Bockemühl 

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Abstract
Das über eine Sitzung in Strafsachen zu erstellende Hauptverhandlungsprotokoll entfaltet gemäß § 274 StPO sowohl negative als auch positive Beweiskraft. Inhaltlich werden nach der lex lata allerdings lediglich die wesentlichen Förmlichkeiten protokolliert. Eine (wörtliche) Dokumentation des Inhalts von Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten findet nicht statt. Nunmehr liegen zwei Gesetzesentwürfe vor, die eine wörtliche Protokollierung der strafrechtlichen Sitzungen zumindest in erstinstanzlichen Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten vorschlagen.

The trial protocol to be prepared about a meeting in criminal cases unfold both negative and positive evidential value according to § 274 StPO. In terms of content, however, according to the lex lata, only the essential formalities are recorded. A (literal) documentation of the content of testimonies or expert opinions does not take place. Now there are two draft laws that propose a verbatim logging of criminal proceedings, at least in first-instance proceedings before the District and Higher Regional Courts.

I. Einleitung

Das Thema einer tatsächlichen und verlässlichen Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafprozess ist in Deutschland erneut in den Focus geraten. Zwar schreibt die Strafprozessordnung die Erstellung eines Hauptverhandlungsprotokolls zwingend vor. Dieses wird allerdings entsprechend der gesetzlichen Regelungen – welche im Wesentlichen seit der Rechtsstrafprozessordnung unverändert gelten – nicht als Wortprotokoll, sondern vor den Land- und Oberlandesgerichten als Ereignisprotokoll und vor den Amtsgerichten als Inhaltsprotokoll geführt.

Die Strafprozessordnung in Deutschland hinkt in diesem Punkt fast allen Ländern in Europa (und der Welt) hinterher. Nunmehr lagen (wieder einmal) Entwürfe[1] für eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung vor. Der Bundestag hat in seiner Sitzung vom 15.11.2019 diesen Gesetzentwurf bedauerlicherweise abgelehnt.[2]

II. „Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafprozess“ de lege lata

Das BVerfG hat in seinem Urteil vom 19.3.2013[3] zum Verständigungsgesetz den hohen Stellenwert von Transparenz sowie die schützende Kraft von Dokumentationspflichten betont:

„Eine ‘vollumfängliche‘ Kontrolle (…) setzt umfassende Transparenz des Verständigungsgeschehens in der öffentlichen Hauptverhandlung sowie eine vollständige Dokumentation im Verhandlungsprotokoll voraus.“

Eine transparente Dokumentation in diesem Sinne findet in der deutschen Strafprozesswirklichkeit weder im Ermittlungsverfahren,[4] noch im Hauptverfahren statt. Das geltende deutsche Strafprozessrecht sieht eine wörtliche Protokollierung von Aussagen der Verfahrensbeteiligten, Zeugen und Sachverständigen in der Hauptverhandlung[5] nicht vor.[6] Das gilt ausnahmslos, unabhängig, ob die Hauptverhandlung vor dem Amts-, Land- oder Oberlandesgericht stattfindet. Gemäß § 271 Abs. 1 S. 1 StPO ist über die Hauptverhandlung ein Protokoll aufzunehmen. Während § 271 StPO die Aufnahme eines Protokolls grundsätzlich vorschreibt, regeln die §§ 272 und 273 StPO den Inhalt des zu erstellenden Hauptverhandlungsprotokolls.[7] § 272 StPO schreibt den Inhalt, genauer: die ins Protokoll auszunehmenden Formalien vor, § 273 StPO regelt die weiteren Protokollinhalte unter der Überschrift Beurkundung der Hauptverhandlung. Gemäß § 273 Abs. 1 StPO sind lediglich der „Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im Wesentlichen wiederzugeben und die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich zu machen“. Die Beurkundung bzw. Protokollierung der Hauptverhandlung beschränkt sich somit auf die Fertigung eines sogenannten Ereignisprotokolls.[8] Insbesondere findet eine Niederschrift bzw. sonstige Dokumentation des Inhalts der Angaben des Zeugen oder Sachverständigen nicht statt.

Auch in Verfahren vor den Amtsgerichten ist gemäß § 273 Abs. 2 S. 1 StPO lediglich die Herstellung eines Inhaltsprotokolls über die „wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen“ vorgesehen.[9] § 273 Abs. 2 S. 1 StPO verlangt, dass der Inhalt der Aussage in verkürzter Form, zusammengefasst wiederzugeben ist.[10] Ein Wortprotokoll ist auch das nicht!

Von der Möglichkeit, dass gemäß § 273 Abs. 3 StPO eine (partielle) Protokollierung (einzelne) Aussagen erfolgen kann, wird in der Praxis so gut wie kein Gebrauch gemacht.[11] Anträge auf „vollständige Protokollierung einer Aussage oder Äußerung“ wird in deutschen Gerichtssälen in dem allermeisten Fällen mit der Bemerkung abgelehnt: „Herr Verteidiger, wir haben doch alle die Äußerung des Zeugen gehört. Da bedarf es doch keiner Protokollierung. Es kommt nicht auf den Wortlaut, sondern den Inhalt der Aussage an“.[12] Die tatsächliche „Scheu zur Protokollierung“ in deutschen Gerichtssälen ist umso weniger erklärlich, wenn man beobachtet, dass sämtliche Prozessbeteiligte selbst sämtliche Vorgänge mitschreiben.

III. Reformidee

Die Forderung nach einer zeitgemäßen Dokumentation der Hauptverhandlung durch eine audio-visuelle Aufzeichnung ist nicht neu,[13] wurde allerdings immer wieder von verschiedenen Interessengruppen verhindert. Auch die Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens konnte sich in ihrem Bericht im Jahr 2015 lediglich auf einen Prüfauftrag einigen.[14]

Nunmehr liegt ein (erster)[15] Vorschlag für ein Gesetz zur audiovisuellen Aufzeichnung der Hauptverhandlung für erstinstanzliche Hauptverhandlungen – zumindest vor den Land- und Oberlandesgerichten – vor. Ergänzend sieht der Entwurf eine zwingende Aufzeichnung sämtlicher Beschuldigtenvernehmungen vor.   

Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Nutzung audiovisueller Aufzeichnungen in Strafprozessen benennt ausdrücklich die vielfachen Defizite der bestehenden strafprozessualen Regelungen und der Strafprozesspraxis.

Zum einen betont der Gesetzentwurf, dass mangels verlässlicher Dokumentation des Gangs und insbesondere des Inhalts der Hauptverhandlung das Urteil ausschließlich „auf Erinnerungen oder Mitschriften der beteiligten Richterinnen und Richter“ beruht. Solche Erinnerungen    oder Mitschriften bergen die Gefahr der Fehlerhaftigkeit und der Unvollständigkeit. Dieses insbesondere, da die beteiligten Richter mit einer „Doppelaufgabe konfrontiert“ seien; namentlich mit der Durchführung der Beweisaufnahme auf der einen und der Dokumentation der selbigen auf der anderen Seite.

Der Entwurf konstatiert in einen weiteren Schritt, dass die aktuellen Dokumentationsmöglichkeiten „weder dem heutigen Stand der Technik, noch den Erfordernissen des modernen Strafverfahrens, die Hauptverhandlung transparent und objektiv möglichst umfassend zu dokumentieren“, entspricht.

Die verpflichtende audio-visuelle Aufzeichnung sämtlicher Vernehmungen des Beschuldigten soll der „besseren Wahrheitsfindung“ dienen. Durch die Aufzeichnung ist die Dokumentation des genauen Inhalts dessen möglich, „was der Beschuldigte inhaltlich gesagt hat und ob alle Förmlichkeiten der Beschuldigtenvernehmung eingehalten wurden“.

IV. Einzelne Regelungen

1. Zwingende Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen

§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO soll wie folgt gefasst werden: „Die Vernehmung des Beschuldigten ist in Bild und Ton aufzuzeichnen“. Satz 2 soll ersatzlos gestrichen werden.

2. Bild- und Tonaufzeichnungen für erstinstanzliche Verhandlungen vor dem LG und OLG

Der bisherigen Regelung des § 273 StPO sollen zwei Absätze, 5 und 6, angefügt werden.

Absatz 5 soll wie folgt gefasst werden:

„Im ersten Rechtszug vor den Landgerichten oder den Oberlandesgerichten ist der Gang der Hauptverhandlung auf Bild und Ton aufzuzeichnen. Die gemäß Satz 1 angefertigte Aufzeichnung ist zu den Akten zu nehmen oder wenn sie sich nicht dazu eignet bei der Geschäftsstelle mit den Akten aufzubewahren. § 58a Absatz 2 Satz 1 bis 5 StPO sind entsprechend anzuwenden.“

Dieser Regelung soll ein Absatz 6 folgen:

 „§ 271 bleibt unberührt.“

3. Änderung des § 274 StPO – Beweiskraft durch Protokoll und Aufzeichnung

Eine eher „kosmetische“, aber klarstellende Änderung soll § 274 StPO erfahren. Nach dem Wort „Protokoll“ sollen die Wörter „oder durch die Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 273 Abs. 5“ eingefügt werden.[16]

4. Umfang der Urteilsüberprüfung – Ergänzung des § 352 StPO

Den beiden Absätzen des § 352 StPO soll ein Absatz 3 angefügt werden:[17]

1Zur Überprüfung der Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten oder zu behaupteten Abweichungen zwischen den Urteilsgründen und der gemäß § 272 Abs. 5 angefertigten Bild-Ton-Aufnahme, kann die angefertigte Aufnahme als Grundlage für die Entscheidung des Revisionsgerichts dienen, soweit dies in Bezug auf die getroffene Entscheidung von Relevanz ist. 2Im übrigen ist ihre Heranziehung im Revisionsverfahren unzulässig.“  

 V. Stellungnahme

Der nunmehr vorliegende Entwurf ist ein (erster) Schritt in die richtige Richtung!

1. § 136 Abs. 4 StPO – neu

Die obligatorische Aufzeichnung sämtlicher Beschuldigtenvernehmungen ist ausdrücklich zu begrüßen!

Die fakultative audiovisuelle Aufzeichnung einer Beschuldigtenvernehmung ist seit November 2013 zulässig. Für polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Beschuldigtenvernehmungen ergibt sich das aus §§ 163a Abs. 1 S. 2, 58a Abs. 1 S. 1 StPO, für die richterliche Vernehmung auf Antrag der Staatsanwaltschaft (!) aus §§ 163a, 162, 58a Abs. 1 S. 1 StPO. In der Praxis hat sich diese Möglichkeit überwiegend nicht etabliert, da in jedem Fall neben der Videodokumentation eine Transkription in ein schriftliches Protokoll zu erfolgen hat.[18] 

§ 136 StPO wurde mit Wirkung ab dem 1.1.2020 ein Absatz 4 angefügt, welcher in Satz 1 die fakultative und in Satz 2 für bestimmte Deliktsbereiche die obligatorische Bild-und-Ton-Aufzeichnung vorsieht.[19]

Die lediglich in Fällen vorsätzlicher Tötungsdelikte und in Fälle besonderer schutzbedürftiger Beschuldigten verpflichtende audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung des Beschuldigten ist unzureichend.[20] Der Begründung des Entwurfs ist nichts hinzuzufügen:

„Von der fakultativen Möglichkeit der audio-visuellen Aufzeichnung, welche auch nach der bisherigen Rechtslage bereits möglich ist (§ 163a Abs. 1 S. 2, § 58a Abs. 1 S. 1 StPO), wird in der Praxis nur wenig Gebrauch gemacht. Insgesamt ist weder die bestehende Regelung noch die Neuregelung ausreichend, um den Beschuldigten vor verbotenen Vernehmungsmethoden hinreichend zu schützen, da diese nur schwer nachweisbar sind. Ferner lässt sich der Inhalt der Vernehmung des Beschuldigten nur schwer rekonstruieren. Widersprüche zwischen dem Vernehmungsprotokoll und den Aussagen des Beschuldigten lassen sich so nur schwer aufklären. Es besteht die Gefahr, dass das Protokoll die Angaben eines Beschuldigten (teilweise) unrichtig wiedergibt. Die Begrenzung der Verpflichtung zur audio-visuellen Aufnahme der Vernehmung des Beschuldigten auf vorsätzliche Tötungsdelikte und auf Fälle besonderer Schutzbedürftigkeit der Beschuldigten ist weder zeitgemäß noch ausreichend, um diese Probleme zu lösen. Auch andere Delikte können für den Beschuldigten erhebliche persönliche Konsequenzen haben, wie beispielsweise eine Freiheitsstrafe.“[21]

2. Überfällige, zeitgemäße Dokumentation der Hauptverhandlung

Die wesentliche Stoßrichtung des Gesetzentwurfs ist ohne Zweifel die geforderte audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung. Zur Begründung wird angeführt:

„Nummer 1 ordnet die audio-visuelle Aufnahme von allen Verfahren im ersten Rechtszug vor den Landgerichten      oder den Oberlandesgerichten an. In diesen Verfahren gibt es nur eine Tatsacheninstanz, das heißt eine fehlerfreie Beweisaufnahme ist von besonderer Bedeutung. Um die Persönlichkeitsrechte der Aussagepersonen und des Angeklagten zu schützen, ist die Aufzeichnung nur zu den Akten zu nehmen und nicht öffentlich zugänglich zu machen. Der Verweis auf § 58a Abs. 2 S. 1 bis 5 StPO regelt die Verwendung der Aufzeichnung. Die Regelung stellt sicher, dass den zur Akteneinsicht Berechtigten Kopien der Aufzeichnung überlassen werden können. Diese Kopien dürfen jedoch nicht weitergegeben/vervielfältigt werden und müssen nach dem Ende des Verfahrens in der Regel vernichtet werden. Der Hinweis auf § 271 StPO stellt klar, dass unberührt durch die audio-visuelle Aufzeichnung auch weiterhin ein Hauptverhandlungsprotokoll erstellt werden soll. Die audio-visuelle Aufzeichnung soll dem Protokollführer und Vorsitzenden dabei helfen, etwaige Protokollierungsfehler zu überprüfen und gegebenenfalls zu berichtigten.“[22]

Die Forderungen nach einer verlässlichen Dokumentation der Hauptverhandlung sind Legion und seit Jahrzehnten nie wirklich verebbt.[23] Erfreulich sind nunmehr die Versuche einer Regelung einer entsprechenden, zeitgemäßen technikgestützten wirklichen (!) Aufzeichnung der Hauptverhandlung im Strafprozess, welche sowohl den Gang als auch den Inhalt der Hauptverhandlung nachvollziehbar macht.[24]

Die Vorteile einer solchen Regelung liegen auf der Hand: sowohl die Hauptverhandlung selbst als auch die Urteilsabsetzung (in längeren Verfahren) werden durch technische Aufzeichnungen erheblich beschleunigt.[25] Streitigkeiten über den Inhalt einzelner Zeugen- oder Sachverständigenangaben werden obsolet sein. Die Nachbereitung von Hauptverhandlungstagen wird für sämtliche Verfahrensbeteiligte enorm erleichtert.[26]

Zudem können sich sämtliche Verfahrensbeteiligte im Rahmen der Hauptverhandlung sich auf diese konzentrieren; dieses gilt zuvorderst für die Richter.[27]

Es ist insofern v. Galen beizupflichten:

„Nichts spricht gegen den Einsatz der heutigen Technik. Alles spricht dafür und es gilt ein Rechtsstaatsdefizit zu beheben.“[28]

Der Verweis auf § 58a Abs. 2 S. 1 bis 5 StPO in § 273 Abs. 5 S. 3 StPO-neu stellt klar, dass Kopien der Aufzeichnungen den zur Akteneinsicht Berechtigten überlassen werden können. Die Weitergabe an Dritte nicht gestattet, die Kopien sind nach Beendigung des Verfahrens herauszugeben oder zu vernichten.

Bedauerlich ist, dass der Entwurf diese erfreulichen Tendenzen für eine zeitgemäße, rechtsstaatlich zwingende Dokumentation (lediglich) für die Hauptverhandlungen erster Instanz vor den Land- und Oberlandesgerichten vorsieht. Die Notwendigkeit einer verlässlichen Dokumentation von Gang und Inhalt der Hauptverhandlung besteht selbstredend nicht nur für Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht!

Der Gesetzesentwurf meint mit der Einführung einer audio-visuellen Aufzeichnung der Hauptverhandlung für die Verfahren auszukommen, die eine Tatsacheninstanz haben.[29] Für die große Zahl an Verfahren vor den Amtsgerichten ist eine entsprechende Regelung dem Entwurf nicht zu entnehmen. Insbesondere kann die Begründung nicht überzeugen. Es ist zwar richtig, dass die Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten ausschließlich mit der Revision anfechtbar sind und insofern nur eine Tatsacheninstanz zur Verfügung steht. Allerdings sind mit Blick auf die Regelung der Sprungrevision nach § 335 StPO auch amtsgerichtliche Verfahren denkbar, bei denen gerade eine verlässliche Dokumentation des Gangs und des Inhalts der Hauptverhandlung wünschenswert wäre. Unabhängig von den Fällen der Sprungrevision sollte auch die Beweisaufnahme vor den Amtsgerichten fehlerfrei geführt werden![30]

Die geforderte Ergänzung der Regelung in § 274 StPO ist folgerichtig und zumindest klarstellend. Die Beweiskraft kann nicht nur das weiterhin schriftlich zu führende Protokoll für sich in Anspruch nehmen, sondern umfasst zwingend auch die „objektivere“ Aufzeichnung der Hauptverhandlung.

Nachdem in § 274 StPO sowohl in Satz 1 als auch in Satz 2 das Wort Protokoll vorkommt, wird dieses wohl zwingend in beiden Sätzen ergänzt werden müssen, so dass § 274 StPO wie folgt lauten muss:

1Die Beweiskraft der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll oder die Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 273 Absatz 5 bewiesen werden. 2Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls oder der Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 273 Absatz 5 ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.“

3. Revisionsinstanz – Rekonstruktionsverbot

Die Aufzeichnung der Hauptverhandlung soll nicht nur sämtlichen Verfahrensbeteiligten im Hauptverfahren dienen, sondern auch „der Revision dienlich“ sein.[31] Ausdrücklich sollen Staatsanwaltschaft und Verteidigung die Aufzeichnungen für die Revisionsbegründung nutzen können. Das Revisionsgericht soll „sich (…) einen eigenen unmittelbaren Eindruck von der Hauptverhandlung machen und die Verletzung von Verfahrensnormen konkret anhand der Aufzeichnungen überprüfen.“[32] Richtiger Weise betont der Entwurf, dass durch die Aufzeichnung der Hauptverhandlung Gesetzesverstöße besser und transparenter aufgeklärt werden können und dadurch das Risiko für Fehlurteile sinken werde.

Nicht ganz klar ist die Position der vorgesehenen Änderung. Während im vorgesehenen Gesetzestext die Änderung als neuer Absatz 3 vorgesehen ist, spricht die Begründung von einer Verankerung als neuer „§ 352 Abs. 1 Satz 2“ StPO.

Die in § 352 StPO vorgesehene Änderung ist ein „Zugeständnis“ an all diejenigen Kritiker einer audio-visuellen Dokumentation der Hauptverhandlung, die eine Auswirkung im Revisionsverfahren „befürchten“. Auch der Gesetzesentwurf betont, dass die „Abgrenzung zwischen Tatsachen- und Revisionsinstanz weiterhin sichergestellt“ werden soll.[33] Hier geht es offensichtlich um das sogenannte Rekonstruktionsverbot.[34] In der Begründung heißt es wie folgt:

„Das Revisionsgericht soll keine grundsätzlich neuen Aufgaben übernehmen und insbesondere keine eigene Beweiswürdigung vornehmen oder den gesamten Inhalt der Hauptverhandlung anhand der audio-visuellen Aufzeichnung zur Überprüfung von Revisionsrügen nachvollziehen müssen. Daher soll die Nutzung der Aufnahme im Revisionsverfahren auf die Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten oder Widersprüche zwischen Urteil und Aufzeichnung beschränkt werden, soweit dies für die Entscheidung relevant ist.“

Die revisionsrechtliche Relevanz ist durch die Regelung klar umrissen: Die audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung soll Verletzungen der wesentlichen Förmlichkeiten transparent und objektiv aufdecken und zudem Widersprüche zwischen den Urteilsfeststellungen und der Aufzeichnung dokumentieren. Darüber hinaus soll der Bild-Ton-Aufzeichnung keinerlei weitere Relevanz im Revisionsverfahren zukommen. Damit ist die Überprüfung z.B. der Beweiswürdigung des Tatgerichts im Revisionsverfahren ausgeschlossen.

VI. Fazit

Der durch die FDP-Fraktion in die Diskussion um eine Dokumentation der Hauptverhandlung eingebrachte Gesetzesentwurf war ausdrücklich zu begrüßen! Die nicht zeitgemäße Dokumentation der Hauptverhandlung de lege lata ist (abermals) in den Focus gelangt. Leider hat der Gesetzgeber die abermalige Chance verpasst! Der Bundestag hat in seiner Sitzung vom 15.11.2019 diese Chance für eine tatsächliche Modernisierung des Strafprozesses durch die Ablehnung des Gesetzesentwurfs vertan! Eine (Neu-)Regelung des § 273 StPO – zumindest für die Hauptverhandlungen vor den Landes- und Oberlandesgerichten – wäre ein erster Schritt zu einem modernen Strafprozesssystem und würde den deutschen Strafprozess revolutionieren.

 

[1]      Genau genommen liegen ein Entwurf (BT-Drs. 19/11090) und ein Antrag (BT-Drs. 19/13515) vor.
[2]      https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw46-de-modernisierung-strafverfahren-freitag-667248 (zuletzt abgerufen am 15.11.2019).
[3]      BVerfG, Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, Rn. 96, StV 2013, 353 (366).
[4]      Vgl. zu den Möglichkeiten einer audio-visuellen Fixierung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren de lege lata: Altenhain, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Welche Reform braucht das Strafverfahren? Texte und Ergebnisse des 39. Strafverteidigertages Lübeck, 2016, S. 181 ff.; Bockemühl,in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, Texte und Ergebnisse des 41. Strafverteidigertages Bremen, 2017, S. 97, 98 ff.
[5]      Vgl. zur Dokumentation von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren, Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, Texte und Ergebnisse des 41. Strafverteidigertages Bremen, 2017, S. 97, 98 ff.
[6]      Bockemühl, in: FS v. Heintschel-Heinegg, 2015, S. 52 f.; ders. Österreichisches Anwaltsblatt, 2016, 344; vgl. den interessanten europäischen Vergleich von v. Galen, StraFo 2019, 309 ff.
[7]      Frister, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 273 Rn. 3.
[8]      Bockemühl, in: FS v. Heintschel-Heinegg, 2015, S. 52 f.
[9]      Geschuldet ist mithin lediglich die inhaltliche Protokollierung der Vernehmungen, keine wortwörtliche; vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 273 Rn. 15; Meyer-Mews. NJW 2002, 105 weist zutreffend darauf hin, dass das Inhaltsprotokoll beim Amtsgericht durch den Protokollführer, welcher keinerlei Aktenkenntnis hat, erstellt wird, ohne dass der Inhalt des Protokolls durch die jeweilige Beweisperson genehmigt werden muss.
[10]    Vgl. hierzu nur Frister, in: SK-StPO, § 273 Rn 25.
[11]    Vgl. hierzu Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, Texte und Ergebnisse des 41. Strafverteidigertages Bremen, 2017, S. 97, 102 f.
[12]    Diese ablehnenden Vorabverfügung des Vorsitzenden oder Beschlüsse des Gerichts nach § 273 Abs. 3 S. 2 StPO, sind in deutschen Strafprozessen Legion. Sie werden dadurch nicht richtiger! Gerade die Protokollierung des tatsächlichen Wortlauts hat immer die Wiedergabe des Inhalts der Äußerung zum Gegenstand, mithin geht eine (angebliche) Differenzierung zwischen Inhalt und Wortlaut schon vom Prinzip her fehl; so schon Bockemühl, in: FS v. Heintschel-Heinegg, 2015, S. 56; ebenso Stuckenberg, in: LR-StPO, 26. Aufl. (2002), § 273 Rn. 50 m.w.N.
[13]    Vgl. insofern schon den „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik“ des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, BRAK-Stellungnahme Nr. 1/2010, S. 3. Der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer hatte bereits im Jahr 1971 in: Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozeß, 1971, S. 40, ein Wortprotokoll „mit welchen technischen Mitteln auch immer“ gefordert; vgl. zuletzt Strafverteidigervereinigungen, Regensburger Thesen zum Strafprozess – Rechtspolitische Forderungen des 43. Strafverteidigertages, Berlin/Regensburg 24. März 2019, These 6.
[14]    Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 21 (Empfehlung 13.1), 128 ff. (Begründung).
[15]    Unter dem 24.9.2019 haben Abgeordnete und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen gleichgelagerten Vorstoß unternommen und einen Antrag zur „Modernisierung des Strafverfahrens durch digitale Dokumentation der Hauptverhandlung“ in den Bundestag eingebracht, BT-Drs. 19/13515.
[16]    Nachdem in § 274 StPO sowohl in Satz 1 als auch in Satz 2 das Wort Protokoll vorkommt, wird dieses wohl zwingend in beiden Sätzen ergänzt werden müssen, so dass § 274 StPO wie folgt lauten muss: „1Die Beweiskraft der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll oder die Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 273 Absatz 5 bewiesen werden. 2Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls oder der Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 273 Absatz 5 ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.“ Gesetzestechnisch ist wohl sauberer von „Absatz“ als von „Abs.“ auszugehen.
[17]    Nicht ganz klar ist die Position der vorgesehenen Änderung; Während im vorgesehenen Gesetzestext die Änderung als neuer Absatz 3 vorgesehen ist, spricht die Begründung von einer Verankerung als neuer „§ 352 Abs. 1 Satz 2“. Der Entwurf spricht in der vorgesehenen Änderung von „Aufnahme“. Die Nomenklatur sollte aber sicherlich einheitlich sein, so dass „Aufzeichnung“ vorzuziehen sein wird! Ebenso ist gesetzestechnisch sauberer von „Absatz“ denn von „Abs.“ zu sprechen!
[18]    Vgl. nur Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, Texte und Ergebnisse des 41. Strafverteidigertages Bremen, 2017, S. 97, 100
[19]    Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017, BGBl. I 2017, S. 3202 (3208, 4213).
[20]    Die Bundesrechtsanwaltskammer bezeichnet diese Regelung in ihrer Stellungnahme Nr. 17/2017, S. 4, noch als „einen Einstieg in eine zeitgemäße Vernehmungsdokumentation“.
[21]    BT-Drs. 19/11090, S. 2.
[22]    BT-Drs. 19/11090, S. 7.
[23]    Wilhelm, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Welche Reform braucht das Strafverfahren?, Texte und Ergebnisse des 39. Strafverteidigertages Lübeck, 2016, S. 165 ff; Bockemühl, in: FS v. Heintschel-Heinegg, 2015, S. 52 f.; ders. Österreichisches Anwaltsblatt, 2016, 343 ff.
[24]    Vgl. nur Bockemühl, Österreichisches Anwaltsblatt, 2016, 343 (346).
[25]    v. Galen, StraFo 2019, 309 (318).
[26]    v. Galen, StraFo 2019, 309 (318). Die Zeiten von Audio-Mitschnitten der Hauptverhandlung lediglich „zu senatsinternen Zwecken“, welche ausschließlich der „Kontrolle der gerichtsinternen Mitschriften, zur Herstellung des Protokolls als Gedächtnisstütze, zur Vorbereitung der Beratung und des Urteils“ dienen, wie Rottländer, NStZ 2014, 138, es für die Praxis des OLG Düsseldorf es beschreibt, sind damit ebenfalls obsolet; vgl. hierzu bereits Bockemühl, in: FS v. Heintschel-Heinegg, 2015, S. 57.
[27]    v. Galen, StraFo 2019, 309 (318).
[28]    A.a.O.
[29]    So die Begründung BT-Drs. 19/11090, S. 7: „In diesen Verfahren gibt es nur eine Tatsacheninstanz, das heißt eine fehlerfreie Beweisaufnahme ist von besonderer Bedeutung.“
[30]    Der Antrag in BT-Drs. 19/13515 sieht erfreulicherweise unter Ziffer 9 eine Evaluation der „Wirkungen der Einführung der digitalen Dokumentation der strafrichterlichen Hauptverhandlung“ vor. Sollten die Erfahrungen mit der audiovisuellen Aufzeichnung positiv verlaufen, ist eine Ausweitung auf sämtliche Strafverfahren anzustreben.
[31]    So BT-Drs. 19/13515, S. 2.
[32]    A.a.O.
[33]    So BT-Drs. 19/13515, S. 7.
[34]    Krit. zum sog. Rekonstruktionsverbot im Zusammenhang mit der Dokumentation der Hauptverhandlung nur Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, Texte und Ergebnisse des 41. Strafverteidigertages Bremen, 2017, S. 97, 104; ders., Österreichisches Anwaltsblatt, 2016, 346.

 

 

 

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