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Strafrecht und Meinungsfreiheit: ein paar Überlegungen zu § 104 Abs. 1 S. 2 StGB

von RA Dr. Mayeul Hiéramente

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Abstract
Im Juni 2020 wurde als Reaktion auf das öffentliche Verbrennen von israelischen Flaggen die Strafvorschrift des § 104 StGB ergänzt. Nunmehr sollen Handlungen, die die Staatenehre eines ausländischen Staates und die Funktionsfähigkeit der diplomatischen Beziehungen beeinträchtigen können, auch dann unter Strafe gestellt werden, wenn diese vom Handeln selbst erworben und dann medienwirksam zerstört werden. Ein Konflikt mit Art. 5 Abs. 1 GG ist vorprogrammiert und dürfte eine äußerst restriktive Auslegung der Vorschrift zur Folge haben, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Norm weckt.

 Following the decision by the Trump administration to move the US Embassy in Israel to Jerusalem, protesters in Germany burned the Israeli flag. As a reaction and despite opposition from within the German parliament the German government decided to criminalize such acts. The article discusses possible implications on the right of freedom of expression as guaranteed in Article 5 (1) of the Grundgesetz.

I. Einleitung

Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten haben eine Welle von Reaktionen hervorgerufen. Während der Bundespräsident den Menschen in Israel die uneingeschränkte Solidarität ausgedrückt hat, kam es auf den Straßen der Republik zu mehreren anti-israelischen Demonstrationen sowie antisemitischen Übergriffen. Im Rahmen von Protestkundgebungen wurden u.a. auch israelische Fahnen angezündet. In Reaktion auf die Geschehnisse erklärte der Bundespräsident: „Wer aber auf unseren Straßen Fahnen mit dem Davidstern verbrennt und antisemitische Parolen brüllt, der missbraucht nicht nur die Demonstrationsfreiheit, sondern der begeht Straftaten, die verfolgt werden müssen […].“[1] In der Presse wird berichtet, dass zumindest teilweise Ermittlungen nach § 130 StGB eingeleitet worden sind.[2] Derartige Ermittlungen liegen angesichts der Tatsache, dass sich die Demonstrationen nicht etwa vor der israelischen Botschaft, sondern z.B. vor Synagogen stattfanden, sowie der in der Presse berichteten Begleitumstände (anti-jüdische Parolen und Übergriffe), nah. Es stellt sich allerdings die Frage, ob derartige Vorgänge auch unter Anwendung des im Juni 2020, als Reaktion auf vergleichbare Geschehnisse eingeführten § 104 Abs. 1 S. 2 StGB strafrechtlich geahndet werden können.

Die folgenden Betrachtungen erfolgen losgelöst von den in den Medien berichteten Ereignissen der letzten Wochen. Vielmehr soll die auch im Gesetzgebungsverfahren kontrovers diskutierte Frage beleuchtet werden, ob und inwieweit als Reaktion auf das Verbrennen von Staatsflaggen ausländischer Staaten der Einsatz des Strafrechts gerechtfertigt ist[3] und welche Rolle der in Art. 5 Abs. 1 GG grundrechtlich verbürgten Meinungsfreiheit bei der Anwendung der Norm in der Praxis zukommt.

II. Der Normzweck von § 104 StGB

Seit jeher besteht Uneinigkeit darüber, welches Rechtsgut die §§ 102 ff. StGB schützen sollen. Dies gilt insbesondere für den Tatbestand des § 104 StGB, der nicht der Umsetzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung dient.[4] Nach Vorstellung der Mehrheit des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages soll mit § 104 Abs. 1 S. 2 StGB ein doppelter Schutzzweck verfolgt werden.[5] Zum einen solle das Ansehen des ausländischen Staates geschützt werden. Zum anderen wolle man mit den Strafvorschriften die guten Beziehungen zum Flaggenstaat schützen. Darüber hinaus wird von Hoven erwogen, die mit der Beschädigung oder Zerstörung einer Flagge einhergehende Verletzung der Gefühle der Bürger des betroffenen Staates in den Blick zu nehmen.[6] Vereinzelt wird im Hinblick auf die §§ 102 ff. StGB auch auf den Schutz des äußeren[7] oder inneren[8] Friedens abgestellt.

Die Auffassung, § 104 StGB diene vornehmlich dem Schutz eines ausländischen Rechtsguts („Staatenehre“), ist bereits aufgrund der Verortung im Abschnitt „Straftaten gegen ausländische Staaten“ naheliegend.[9] Die Sichtweise kann sich auch auf das vom Gesetzgeber mit der letzten Reform nicht angetastete Erfordernis eines Strafverlangens (§ 104a StGB) berufen.[10] Hoven kritisiert insoweit, dass damit eine Divergenz zwischen dem Schutzzweck von § 90a StGB und § 104 StGB entstehe.[11] Die Annahme eines reinen Ehrenschutzes ist im Hinblick auf den in der Struktur ähnlichen § 90a StGB vom BVerfG als problematisch eingestuft worden, „[d]enn anders als dem einzelnen Staatsbürger kommt dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten […].“[12] Diese Rechtsprechung kann indes nicht ohne Weiteres auf ausländische Staaten übertragen werden, da sie primär in der dem Grundgesetz inhärenten Struktur begründet liegen dürfte, die den deutschen Staat als Verpflichteten der Grundrechte von einem Schutz durch eben diesen Grundrechtskatalog ausschließt. Es ist damit nicht per se ausgeschlossen, ausländischen Staaten einen Schutz der Ehre zuteil werden zu lassen.[13] Verortet man die §§ 102 ff. StGB in dieser Weise, können etwaige Konflikte mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit durch Anwendung des § 193 StGB berücksichtigt werden.[14]

Die in der Literatur vertretene Ansicht, die §§ 102 ff. StGB dienten dem Schutz der diplomatischen Beziehungen, stützt sich vor allem auf den insoweit durch die Reform nicht angetasteten Regelungsinhalt des § 104a StGB. Dass die Vorschrift die Existenz diplomatischer Beziehungen voraussetze, verdeutliche die Schutzrichtung der Vorschriften dieses Abschnitts des Strafgesetzbuches.[15] Es stellt sich indes die Frage, inwieweit das Handeln einzelner Privatpersonen tatsächlich geeignet sein kann, diplomatische Beziehungen zu beeinträchtigen. Zwar mag es zutreffend sein, dass die Nichtahndung von Tathandlungen im Sinne der §§ 103, 104 StGB negative Auswirkungen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen haben kann.[16] Dies mag eine Sanktionierung auch motiviert haben.[17] Will man die Funktionsfähigkeit der diplomatischen Beziehungen indes als Rechtsgut ansehen, muss die Beeinträchtigung bereits aus der Tathandlung selbst und nicht einem staatlichen Unterlassen einer Sanktionierung ableitbar sein.[18] Gewisse praktische Schwierigkeiten bereitet diese Rechtsansicht im Hinblick auf die Frage, wie bei der Anwendung der einfachgesetzlichen Vorschriften der Bedeutung von Art. 5 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen ist. So leuchtet ein Rekurs auf § 193 StGB insoweit nicht unbedingt ein.[19] Für die hier maßgebliche Vorschrift des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB könnte dies, im Einklang mit Eisele,[20] allerdings über eine verfassungskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Verunglimpfung („und dadurch verunglimpft“) erfolgen.

Anders als in den klassischen Begründungsansätzen stellt Hoven auf die Beeinträchtigung der als schützenswert eingestuften Gefühle der Staatsbürger des Flaggenstaates ab. Dies erfordere eine Beschränkung der strafrechtlichen Ahndung auf schwerwiegende Angriffsformen. Eine so verstandene Begründung des Verbots habe sogar strafbarkeitseinschränkende Wirkung.[21] Hoven erkennt insoweit selbst die Gefahren an, die mit einem strafrechtlichen Gefühlsschutz einhergehen, da ein solcher das Risiko der Schrankenlosigkeit in sich trage und zudem eine Entscheidung erfordere, welche Gefühle als grundsätzlich schützenswert einzustufen sind.[22] Für die hier zu diskutierende Frage der Bedeutung der Meinungsfreiheit im Rahmen der Anwendung des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB dürfte diese Ansicht im Grundsatz zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wie die zuerst dargestellte Rechtsansicht. Denn auch Hoven stellt im Grundsatz fest, dass es eines Ausgleichs zwischen berechtigen Schutzinteressen der ausländischen Staatsangehörigen und der Meinungsfreiheit bedarf.[23]

Ein Schutz des innerstaatlichen Friedens in der Bundesrepublik Deutschland ist mit Wortlaut und Systematik der §§ 102 ff. StGB kaum in Einklang zu bringen. Der Deutsche Bundestag hat sich insoweit auch bewusst dafür entschieden, den von der AfD eingebrachten Vorschlag, die Regelung in § 130 StGB aufzunehmen und so den öffentlichen Frieden zu schützen, abzulehnen.[24] Vielmehr hat der Gesetzgeber mit der Verortung der Vorschrift im Abschnitt „Straftaten gegen ausländische Staaten“ deutlich gemacht, dass nicht die möglichen innerstaatlichen Implikationen der Zerstörung von Flaggen im Vordergrund stehen sollen.

III. Die §§ 102 ff. und der ultima ratio-Grundsatz

Die Tatbestände des §§ 102 ff. StGB sind in der Vergangenheit vielfach als nicht mehr zeitgemäß kritisiert worden.[25] Noch vor kurzem haben Bundesregierung und Bundestag die Böhmermann-Affäre zum Anlass genommen, § 103 StGB a.F. abzuschaffen und so ein Zeichen dahingehend zu setzen, dass es einer Sonderstrafnorm für Ehrangriffe gegen Repräsentanten ausländischer Staaten nicht bedarf. Bereits kurze Zeit später hat die Große Koalition eine Kehrtwende[26] vollzogen und als Reaktion auf das Verbrennen israelischer Fahnen bei Demonstrationen im Zuge der US-amerikanischen Verlegung der Botschaft nach Jerusalem durch die Trump-Administration sowie einer Verunglimpfung einer EU-Fahne bei einer Veranstaltung einer rechtsradikalen Gruppierung neue Straftatbestände eingeführt, die eine weitgehende Kriminalisierung von Verunglimpfungen von Flaggen zum Gegenstand haben. Die Gesetzesvorhaben sind auf Kritik von Opposition und Sachverständigen gestoßen, die daran erinnert haben, dass der Einsatz des scharfen Schwerts des Strafrechts nur ultima ratio sein kann. Die Fraktion der FPD erklärte, „es sei diskussionsbedürftig, ob das Verunglimpfen von Symbolen unter die Drohung einer strafrechtlichen Sanktion gestellt werden müsse. […] Dem Grundsatz, dass das Strafrecht ultima ratio sei, müsse wieder mehr Beachtung zukommen“.[27] Gemeinsam mit der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen wurde daher vorgeschlagen, derartige Verstöße ausschließlich als Ordnungswidrigkeit zu ahnden.[28] Auch die Fraktion der Linkspartei hat sich gegen eine Kriminalisierung ausgesprochen.[29]

Diese rechtspolitischen Bedenken hinsichtlich der Notwendigkeit einer Kriminalisierung sind angesichts der eher diffusen Natur der ins Feld geführten Schutzgüter (Staatenehre, Schutz der diplomatischen Beziehungen) nachvollziehbar. Wenig hilfreich ist es insoweit auch, wenn der Eindruck entsteht, mit der Schaffung eines Straftatbestands werde eigentlich ein außerstrafrechtliches Ziel verfolgt und der Straftatbestand solle primär als Türöffner für versammlungsrechtliche Verbotsverfügungen genutzt werden.[30] Daraus folgt indes nicht, dass eine strafrechtliche Ahndung von Verstößen im Sinne des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB gleichsam zwingend gegen das Grundgesetz verstoßen würde.[31] Die genaue Grenzziehung obliegt insoweit dem Gesetzgeber, dem vom BVerfG historisch ein beachtlicher Beurteilungsspielraum eingeräumt wurde. Erforderlich ist hingegen, dass die einfachgesetzlichen Vorschriften derart ausgestaltet werden, dass den grundrechtlich geschützten Interessen der Bürger – in concreto den Vorgaben von Art. 5 Abs. 1 GG – angemessen Rechnung getragen werden kann.

IV. Die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit im Rahmen des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB?

Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB veranschaulicht, dass die Tathandlungen, die unterbunden werden sollen, stets von politischen Protesten gegen den betreffenden Staat begleitet sein werden. Apolitische Fallkonstellationen, wie z.B. bei der Beseitigung von Fahnen nach einem Fußballspiel oder bei der Verwendung von Fähnchen im Käse-Trauben-Stick, sind zwar denkbar, allerdings regelmäßig mangels schwerwiegender Beeinträchtigung der Staatenehre bzw. der diplomatischen Beziehungen nicht als Verunglimpfung und damit nicht als strafwürdig einzustufen[32] oder zumindest aufgrund des erforderlichen Strafverlangens praktisch bedeutungslos (vgl. § 104a StGB). Das Verbrennen der Flagge stellt einen symbolhaften Angriff auf ein als Symbol des ausländischen Staates geschütztes Objekt dar. Es handelt es sich um eine non-verbale Bekundung des Missfallens. Auch das Verbrennen einer Flagge kann daher dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfallen.[33] Gerade aufgrund der Symbolik soll die Flagge geschützt werden und gerade deswegen wird sie zur Zielscheibe der Gegner.

Der Einsatz gewaltsamer Mittel („zerstört oder beschädigt“) soll dabei als besonders schwerwiegende Beeinträchtigung strafrechtlich sanktioniert werden.[34] Dabei kommt dem Erfordernis einer Zerstörung bzw. Beschädigung grundsätzlich strafbarkeitsbegrenzende Wirkung zu. Sie ist nach dem Gesetzeswortlaut notwendige Bedingung für eine strafrechtliche Ahndung. Eine hinreichende Bedingung für eine Strafbarkeit ist der Einsatz von Gewalt – gegen eine eigene Sache (!) – indes nicht.[35] Zwar mag im Verbrennen einer Flagge ein „Akt des Ungehorsams gegen eine Verhaltensnorm, die der Aufrechterhaltung zivilisierter politischer Debatte dient,“[36] zu erblicken sein. Es ist indes nicht nachvollziehbar, warum solche Handlungen nicht mit dem besonderen Schutz der Meinungsfreiheit legitimiert werden könnten.[37] Es widerspräche gar dem Kernanliegen des Gesetzes, die Substanzverletzung um der Substanzverletzung willen als maßgeblich anzusehen. Es ist vielmehr die damit transportierte Botschaft, die als gefährlich und unerwünscht eingestuft wird. Wenn die Sanktionierung indes an dieser Botschaft anknüpft, bedarf es einer Berücksichtigung der Wertungen der Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 GG. Dies hat auch der Gesetzgeber erkannt und das auslegungsfähige Tatbestandsmerkmal der Verunglimpfung als Korrektiv eingeführt.[38] Ein Akt der Sachgewalt alleine ist mithin nicht ausreichend; ein automatischer Rückschluss von einem Gewaltakt auf eine Verunglimpfung wäre nach dem Verschleifungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unzulässig.[39] Es bedarf daher eine am Grundrecht der Meinungsfreiheit orientierte Abwägung, ob ein Fall der Verunglimpfung vorliegt. So heißt es auch in der die Gesetzesänderung tragenden Begründung des Rechtsausschusses: „Bei Anwendung dieser Strafnorm wird man im Übrigen nach den vom BVerfG entwickelten Grundsätzen in jedem Einzelfall sorgfältig zwischen einer zulässigen Polemik und einer strafbaren Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung unterscheiden müssen.“[40] Der Gesetzgeber erkennt an, dass es Zerstörungs- oder Beschädigungshandlungen gibt, die nicht als strafbares Verunglimpfen anzusehen sind.

In den praktisch bedeutenden Fällen wird der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG eröffnet sein, da der symbolische Angriff auf die Flagge regelmäßig in eine Kritik an den Handlungen (dazu unter 1.) oder der Existenz des Staates (dazu 2.) eingebettet sein wird. Dies erfordert nach der Rechtsprechung des BVerfG eine genaue Prüfung, welcher Aussagegehalt der Handlung beizumessen ist.[41] Dies ist Grundvoraussetzung für die anschließende wertende Betrachtung. Die Tatsache, dass die Wahl der Mittel auf eine mediale Beachtung abstellt, liegt in der Natur der Ausübung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit und ist von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt.[42]

1. Kritik an staatlichen Institutionen und Handlungen

Das Verbrennen von Flaggen eines Staates stellt ohne Zweifel eine drastische Maßnahme dar. Insoweit verwundert es kaum, dass derartige Handlungen zumeist im Kontext emotional aufgeladener, weltpolitischer Ereignisse und kriegerischer Auseinandersetzungen zu beobachten sind. Dabei liefern die Staaten dieser Welt genügend Anlass für Kritik. Egal ob völkerrechtliche zweifelhafte Kriegseinsätze (z.B. russische Intervention auf der Krim, amerikanischer Einmarsch im Irak in 2003), der problematische Einsatz von Waffengewalt (z.B. der Einsatz von Chemiewaffen in Syrien, gezielte Tötungen mittels Drohnen, gezielte Angriffe auf Zivilpersonen) oder die grundsätzliche Ablehnung gegen eine, ggfs. völkerrechtskonforme,[43] die Zivilgesellschaft in Mitleidenschaft ziehende Art und Weise der Kriegsführung (z.B. Angriffe mit extensiven Kollateralschäden). Derart fundamentale Begebenheiten fordern Widerspruch geradezu heraus. Dies gilt ebenso für gravierende Menschenrechtsverletzungen in Friedenszeiten, für die der Umgang der chinesischen Regierung mit den Uiguren oder die brutale Tötung eines Journalisten durch saudi-arabische Sicherheitskräfte als traurige Beispiele genannt werden können.

Im Lichte derartiger Ereignisse ist, insbesondere bei persönlicher oder gar familiärer Betroffenheit, das öffentliche Bekunden von Ablehnung gegenüber dem Handeln eines (anderen) Staates grundsätzlich von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Der Schutz der Staatenehre und/oder das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an (konfliktfreien) diplomatischen Beziehungen wiegen im Falle einer als politischer Kritik am staatlichen Handeln des ausländischen Staates verstandenen Zerstörung oder Beschädigung von Flaggen im Sinne des § 104 Abs. 1 S. 2, 3 StGB daher regelmäßig nicht derart schwer, als dass ein solcher Protestakt als strafwürdige Verunglimpfung verstanden werden kann. Die Abwägung wird regelmäßig zu Gunsten der Meinungsfreiheit auszufallen haben.[44] Insoweit spielt es auch keine Rolle, ob die ermittelnden Behörden die Kritik am Handeln des ausländischen Staates teilen. Das BVerfG mahnt: „Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einen Meinungen, d.h. durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen. Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden […]. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden.“[45]

2. Die besondere Symbolik von Taten nach § 104 Abs. 1 S. 2 StGB

Die von der Großen Koalition verabschiedete Regelung des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB wird vor allem damit begründet, dass „hierdurch symbolhaft das Existenzrecht des betroffenen Staates in Frage gestellt [werde].“[46] Ob dies stets der Fall ist, ist äußerst zweifelhaft.[47] Die diesbezüglichen Bekundungen scheinen eher dem konkreten Hintergrund des Gesetzgebungsverfahrens geschuldet und lassen sich bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen (s.o.) nicht als allgemeinverbindliche Deutung einem Strafverfahren zugrunde legen. Für die folgenden Überlegungen soll allerdings unterstellt werden, dass sich aufgrund der strafgerichtlichen Feststellung eine sich äußerlich manifestierte Intention des Handelnden ergibt, das Existenzrecht des Flaggenstaates in Abrede zu stellen. Unklar ist, ob damit das letzte Wort gesprochen und auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 GG eine Strafbarkeit des Verhaltens zwingend ist. Bei genauerer Betrachtung ist die Antwort auf die Frage alles andere als eindeutig und bedarf voraussichtlich der verfassungsgerichtlichen Klärung.[48]

a) Kein Bestandsschutz ausländischer Staaten

Die Formulierungen der Straftatbestände des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB und § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB weisen Ähnlichkeiten auf. Nach herrschender Ansicht dienen die Vorschriften allerdings dem Schutz wesensverschiedener Rechtsgüter. So wird die Strafbarkeit des Verunglimpfens der bundesdeutschen Flagge, auch wenn insoweit Zweifel angebracht sind,[49] mit dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung gerechtfertigt. Durch das Verunglimpfen werde die notwendige staatliche Autorität in Frage gestellt und damit der innere Frieden gefährdet.[50] Die Flagge diene als Integrationsmittel.[51] Daraus folgt nach Ansicht des BVerfG, dass der Staat Verunglimpfungen kriminalisieren könne, um die verfasste Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu schützen.

Dieser Begründungsansatz lässt sich nicht auf ausländische Staaten übertragen, deren innerer Frieden grundsätzlich nicht aktiv vor Gefährdungen durch in Deutschland begangene Kommunikationsdelikte geschützt werden muss. Dementsprechend hat sich die Mehrheit im Deutschen Bundestag auch ausdrücklich für die oben dargestellten Rechtsgüter entschieden. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hatte die Opposition darauf hingewiesen, dass sich das Grundgesetz dazu verpflichtet, dem Frieden zu dienen (Präambel des GG) und sich eine Friedenspflicht auferlegt hat (Art. 26 Abs. 1 GG), und dieses „Verfassungsgut“ als Rechtfertigung für das Verbot des Verbrennens von ausländischen Flaggen herangeführt.[52] Dies mag das Argument untermauern, der Gesetzgeber dürfe die Staatenehre bzw. die diplomatischen Beziehungen schützen. Einen Bestandsschutz für ausländische Staaten oder gar eine Pflicht zur völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten begründet dies indes erkennbar nicht. Erst recht ziehen diese sehr weit gefassten außenpolitischen Leitlinien keine klare Grenze für die individuelle Ausübung der Meinungsfreiheit.

b) Kein „Staatenwürde“-Kern und keine „Schmähkritik“

Die (sprachlichen) Parallelen zu den Ehrdelikten bergen die Gefahr der leichtfertigen Übertragung von Argumentationsmustern. Der Rekurs auf den Begriff des „Existenzrechts“ weckt Assoziationen, die zu der Fehlannahme verleiten könnten, der ausländische Staat verdiene absoluten Schutz vor verbalen Angriffen, die den ausländischen Staat als solchen und dessen Daseinsberechtigung in Frage stellen, sowie der Mensch vor verbalen Angriffen, die die Menschenwürde antasten, geschützt wird. Zur Beschränkung von Art. 5 Abs. 1 GG hatte das BVerfG klargestellt: „So muss die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz […] beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt.“[53] Diese aus Art. 1 Abs. 1 GG resultierende Einschränkung von Art. 5 Abs. 1 GG ist auf den Schutz der Staatenehre nicht übertragbar. Ein Staatenwürdekern existiert nicht.

Eine weitere, im Hinblick auf die Einschränkung des Grundrechtsschutzes nach Art. 5 Abs. 1 GG diskutierte Fallgruppe ist die der sogenannten Schmähkritik. Auch insoweit ist Vorsicht geboten: „Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts hat das BVerfG den in der Fachgerichtsbarkeit entwickelten Begriff der Schmähkritik aber eng definiert. Danach macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. […]. Aus diesem Grund wird Schmähkritik bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen.“[54] Angesichts des völlig zu Recht restriktiven Maßstabs der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kann diese Fallgruppe auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden.[55]

Aufgrund der tatbestandlichen Ausgestaltung kann insoweit nicht auf das Merkmal der Sachgewalt abgestellt werden (s.o.). Dies schließt es zwar nicht per se aus, dass die Art und Weise der Zerstörung zur Begründung einer Verunglimpfung herangezogen werden kann.[56] Doch selbst bei äußerst abschätzigen Verhaltensweisen, wie z.B. das Urinieren auf eine Flagge, ist im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG eine automatischeBejahung einer Schmähkritik verfassungsrechtlich nicht vertretbar.[57] Dies gilt erst recht für ein etwaiges Verbrennen einer Flagge. Hierbei handelt es sich um ein übliches Mittel der Zerstörung oder Beschädigung von Sachen. Dem Einsatz von Feuer wohnt jenseits der damit einhergehenden aber hier nicht relevanten Gefährlichkeit keine besondere Verwerflichkeit oder Schwere inne.[58] Eine solche Verwerflichkeit lässt sich auch nicht über die etymologischen Ursprünge des Wortes Holocaust[59] konstruieren. Sofern in der Verbrennung der Wunsch zur Vernichtung eines Staates[60] oder – etwas weniger martialisch ausgedrückt – die Negation eines Existenzrechts[61] zum Ausdruck gebracht werden soll, ist für die Annahme einer Schmähkritik kein Raum. Diese Kritik an der Meinungsäußerung setzt nämlich im Kern gerade nicht an der Form, sondern ausschließlich an der damit transportierten Botschaft an. Der Inhalt der Meinungskundgabe darf indes gerade nicht Anknüpfungspunkt des Verbots sein und zur Abwägungsresistenz der grundrechtseinschränkenden Vorschrift führen.[62]

c) Erforderliche Einzelfallbetrachtung

Wir konnten bisher feststellen, dass die vorsätzliche Zerstörung oder Beschädigung einer ausländischen Flagge, unabhängig von der damit konkret transportierten Botschaft, eine – wenn auch nicht von allen als strafwürdig angesehene – Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter zur Folge haben dürfte und daher, wenn man die Legitimität des Schutzes dieser Rechtsgüter anerkannt, kriminalisiert werden darf. Ebenso eindeutig ist, dass es sich bei der Tathandlung zugleich um eine Kundgabe einer Meinung handeln kann, die nicht per se aufgrund des Einsatzes von Gewalt gegen Sache als unzulässige Schmähkritik einzustufen ist. Dementsprechend bedarf es einer Abwägung im Einzelfall zwischen der Meinungsfreiheit und dem betroffenen Rechtsgut.[63]

Zunächst gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass die Auswahl des Rechtsgutes insoweit eine zentrale Weichenstellung darstellt. Sieht man die Funktionsfähigkeit der diplomatischen Beziehungen als für den Straftatbestand maßgebliches Rechtsgut an, dürfte der Meinungsfreiheit tendenziell ein größeres Gewicht zukommen.[64] Das BVerfG hat wiederholt betont, dass der deutsche Staat in weitem Umfang Widerspruch zu ertragen hat, „weil Art. 5 Abs. 1 GG gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet“.[65] Polemische Kritik an der deutschen Außenpolitik ist verfassungsrechtlich legitim, auch wenn die Meinungen als unerwünscht oder gar gefährlich eingestuft werden. Die Tatsache, dass die Existenz Israels zur deutschen Staatsräson gehört, immunisiert eine außenpolitische Entscheidung nicht vor Kritik.[66] Die Krux der Existenzrechts-Frage ist, dass mit der Bejahung eines „Existenzrechts“ nicht selten eine – rechtliche oder faktische – Negation eines „Existenzrechts“ einer anderen Bevölkerungsgruppe einhergeht. Die Anerkennung als Staat ist zudem eine dezidiert politische Entscheidung. Aus dem in Art. 1 Abs. 1 UN-Charta niedergelegten Recht auf Selbstbestimmung der Völker folgt keine Pflicht zur (völkerrechtlichen) Anerkennung als verfasster Staat an einem bestimmten Ort. Dies zeigt sich auch in der tatsächlichen Anerkennungspraxis: Während z.B. Palästina von 138 Staaten der Welt, der UN-Generalversammlung, der UNESCO und dem IStGH bereits als Staat anerkannt wurde, hat die Bundesrepublik Deutschland eine solche bis heute verweigert. Vergleichbare Fragen stellen sich bei der Anerkennung Taiwans,[67] des Kosovos[68] oder der West-Sahara.[69]

Rückt man die „Staatenehre“ in den Vordergrund, stellen sich ebenfalls schwierige Abwägungsfragen. In einem ersten Schritt bedarf es dabei der Klarstellung, was unter dem diffusen Schlagwort der „Negation des Existenzrechts“ im konkreten Einzelfall zu verstehen ist. Der wohl schwerwiegendste Angriff auf einen ausländischen Staat ist die Aufforderung zu Gewalt, der militärischen Konfrontation oder gar der Vernichtung des Staatsvolks.[70] Derartige Aufforderungen widersprechen dem Grundgedanken von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta und den oben aufgezeigten außenpolitischen Leitlinien des Grundgesetzes. Ob eine solche Agitation allerdings gerade die „Staatenehre“ in besonderer Weise tangiert oder nicht besser durch andere Vorschriften erfasst werden sollte, ist noch ungeklärt. Doch auch unterhalb der Schwelle zur Gewaltandrohung lässt sich eine große Bandbreite von politischen Meinungen subsumieren. Stellt z.B. der von einigen palästinensischen Vertretern unterbreitete Vorschlag einer demokratischen Ein-Staaten-Lösung eine „Negation des Existenzrechts“ Israels dar, weil in einem demokratischen Staat auf dem Territorium des gesamten ehemaligen Mandatsgebiets die jüdische Natur des Staates in Frage gestellt wäre? Ist auch die Verweigerung einer Anerkennung des Staates Israels bis zur Gründung eines Staates Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, wie es von der Arabischen Liga praktiziert wird, bereits als „Negation des Existenzrechts“ einzustufen? Die Frage nach dem Existenzrecht ist zudem eng verknüpft mit der Frage der Legalität und Legitimität der Staatsgründung selbst. Das Infragestellen der historischen Legitimation kann aber in der Praxis durchaus mit der Akzeptanz einer faktischen Existenz einhergehen. All diese Fragen verdeutlichen die Komplexität des erforderlichen verfassungsrechtlichen Abwägungsprozesses.

Schwierigkeiten bereitet auch der zweite Schritt: die Abwägung im eigentlichen Sinne. Das BVerfG hatte sich traditionell mit Fallkonstellationen zu beschäftigen, in denen die mit der Tathandlung intendierte Abwertung der Form der Meinungsäußerung quasi „auf der Stirn geschrieben“ stand. Für eine Kritik am Soldatenberuf wurde der negativ konnotierte Begriff des „Mörders“ verwandt[71] und die kritische Auseinandersetzung mit dem Wehrdienst erfolgte über das ebenfalls besonders negativ konnotierte „Urinieren“ auf die Flagge.[72] Das BVerfG hatte insoweit zu prüfen, ob trotzdieses Verunglimpfens der Meinungsfreiheit der Vorzug zu geben war.

Vorliegend wird das Verunglimpfen indes damit begründet, dass die Substanzverletzung deshalb als besonders abwertend anzusehen ist, weil damit symbolisch das Existenzrecht des Staates negiert wird. Damit ist der Vorwurf des Verunglimpfens maßgeblich durch den Inhalt der Meinung geprägt. Das BVerfG hat diese Problemlage in anderem Kontext benannt: „Gefahren, die lediglich von den Meinungen als solchen ausgehen, sind zu abstrakt, als dass sie dazu berechtigten, diese staatlicherseits zu untersagen. […] Rein geistige Wirkungen und rechtsverletzende Wirkungen von Meinungsäußerungen stehen dabei nicht in strenger Alternativität zueinander. Sie sind nicht rein formal abgrenzbar und können sich überschneiden.“[73] Instruktiv sind die folgenden Ausführungen zum Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und dem Rechtsgut des öffentlichen Friedens: „Nicht tragfähig für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder auf die Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen zielt. Eine Beunruhigung, die die geistige Auseinandersetzung im Meinungskampf mit sich bringt und allein aus dem Inhalt der Ideen und deren gedanklichen Konsequenzen folgt, ist notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit und kann für deren Einschränkung kein legitimer Zweck sein.“[74] Vergleichbares dürfte für das Verständnis der Staatenehre gelten, die im, vom Merkmal der Zerstörung losgelösten Tatbestandsmerkmal der Verunglimpfung als Abwägungselement in die Waagschale zu werfen ist. Tendenziell dürften die Anforderungen an die Annahme einer Strafbarkeit sogar strenger sein, da im öffentlichen Meinungskampf eine Vermutung für die Zulässigkeit der Meinungsäußerung gilt.[75] Eine Ehrbeeinträchtigung, die primär aus der Konfrontation mit der provokanten Meinung (hier: Negation des Existenzrechts) resultiert, ist verfassungsrechtlich nur bedingt schützenswert. Dementsprechend ist anzunehmen, dass das BVerfG bei einem Verbrennen von Flaggen mit dem das Existenzrecht eines ausländischen Staates in Frage gestellt werden soll, Zweifel an einer Strafbarkeit äußern dürfte.

Wahrscheinlich werden sich die Karlsruher Richter im Falle einer Befassung und trotz des offenen Wortlauts der Vorschrift auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob die Genese der Vorschrift auf die Schaffung einer Sonderregelung hindeutet, die eigentlich nur das Infragestellen des Existenzrechts Israels mittels Verbrennung der israelischen Flagge unter Strafe stellen soll. Sollte das BVerfG die Regelung nämlich als Sonderrecht einstufen, wäre diese verfassungsrechtlich kaum haltbar.[76] Die Verortung der Vorschrift in § 104 StGB dürfte die Annahme eines Sonderrechts allerdings nicht unbedingt nahelegen.[77] Zudem wird, auch wenn die Vorschrift des § 104 Abs. 1 S. 2 StGB eindeutig als Reaktion auf das Verbrennen der israelischen Flagge geschaffen wurde, kein ausdrückliches Verbot der Negation des Existenzrechts normiert.[78] Es wäre allerdings bedenklich, wenn die Vorgaben der Wunsiedel-Entscheidung durch eine generalisierende Einkleidung umgangen werden könnten.

V. Conclusio

Der Gesetzgeber hat mit § 104 Abs. 1 S. 2 StPO einen verfassungsrechtlich zweifelhaften Tatbestand geschaffen. Während die verbale Kritik an Handlungen und dem Existenzrecht eines ausländischen Staates als Ausübung der Meinungsfreiheit grundrechtlich geschützt ist, soll eine non-verbale Protestform, die identische Meinungsinhalte transportiert, strafrechtlich sanktioniert werden. Formal setzt der Gesetzgeber auf eine Kriminalisierung der Form der Meinungsäußerung. Bei einer Sanktionierung symbolischer Angriffe sind Form und Inhalt allerdings untrennbar miteinander verbunden. Es droht daher im Ergebnis eine rechtsstaatlich problematische Bestrafung bestimmter Meinungsinhalte. Collings hat insoweit eine wertvolle Betrachtung beigesteuert, wenn er auf das Kuriosum verweist, dass die Regelung gleichzeitig eine große Streubreite aufweist und zudem ausgewählte Verhaltensweisen wegen der Meinungsinhalte herausgreift: „the proposal is either impermissibly content-based, outrageously overbroad, or both.“[79]

In einem anderen Kontext hat das BVerfG ausgeführt: „Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG heraus. Den hierin begründeten Gefahren entgegenzutreten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs sowie der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen gem. Art. 7 GG zu.“ Hierauf sollten wir uns besinnen und nicht auf das scharfe Schwert des Strafrechts zurückgreifen.

 

[1]      Zeit-Online, Frank-Walter Steinmeier verurteilt antisemitische Straftaten 13.5.2021, abrufbar unter: www.zeit.de.
[2]      Tagesschau, Hartes Vorgehen gegen Antisemiten gefordert, 16.5.2021, abrufbar unter www.tagesschau.de.
[3]      Vgl. zum Vorschlag von FPD/Bündnis 90/Die Grünen, BT Drs. 19/19201, S. 8 ff.
[4]      S. hierzu ausführlich Kreß, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), Vor § 102 Rn. 2 ff.
[5]      BT-Drs. 19/19201, S. 14. Vgl. auch Valerius, in: BeckOK-StGB, 49. Ed. (2021), § 104 Rn. 1 mwN.; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 30 Aufl. (2019), Vor § 102 Rn. 2; Weiß in: LK-StGB, 13. Aufl. (2021), § 104 Rn. 1.
[6]      Hoven, JZ 2020, 835, (839 ff).
[7]      Krit. Kreß, in: MüKo-StGB, Vor § 102 Rn. 12.
[8]      Lohse, Stellungnahme Strafrechtlicher Schutz bei Verunglimpfung der Europäischen Union und ihrer Symbole, S. 4, abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/02/stellungnahme-lohse
-eu-symbole.pdf (zuletzt abgerufen am 23.5.2021). Siehe auch Übersicht bei Kreß, in: MüKo-StGB, Vor § 102 Rn. 2.
[9]      Kreß, in: MüKo-StGB, Vor § 102, Rn. 7. Im Ergebnis wohl auch BVerwG, NJW 1982, 1008 (1010).
[10]    Kreß, in: MüKo-StGB, Vor § 102 Rn. 9.
[11]    Hoven, JZ 2020, 835 (838).
[12]    BVerfG, NJW 2012, 1273 (1274).
[13]    Kritisch insoweit Kargl, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), Vor § 102 Rn. 10; vgl. auch Schelzke, HRRS 2016, 248 (251).
[14]    Kreß, in: MüKo-StGB, § 104, Rn. 14, § 103 Rn. 9.
[15]    Vgl. Kargl, in: NK-StGB, Vor § 102 Rn. 8.
[16]    Vgl. Hoven, JZ 2020, 835 (838).
[17]    Kreß, in: MüKo-StGB, Vor § 102 Rn. 15.
[18]    So wohl auch Kreß, in: MüKo-StGB, Vor § 102 Rn. 15. Kritisch hinsichtlich eines Bedürfnisses nach strafrechtlicher Sanktionierung Weigend, Stellungnahme v. 10.2.2020, S. 4, abrufbar unter https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/02/Stellungnahme-Weigend-EU-Symbole.pdf (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).
[19]    S. aber Kargl, in: MüKo-StGB, Vor § 102 Rn. 12 (dort Fn. 26).
[20]    Eisele, Schriftliche Stellungnahme zur Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages, S. 4 f., abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/02/Stellungnahme-Eisele-EU-Symbole.pdf (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).
[21]    Hoven, JZ 2020, 835 (840).
[22]    Hoven, JZ 2020, 835 (840).
[23]    Hoven, JZ 2020, 835 (840). Vgl. zu den dogmatischen Fragen auch Fahl, NStZ 2016, 313 (315 f.).
[24]    BT-Drs. 19/19201, S. 6, 8.
[25]    Vgl. BR-Drs. 214/16, S. 1.
[26]    Vgl. auch Eisele (Fn. 20), S. 2.
[27]    BT-Drs. 19/19201, S. 7.
[28]    BT-Drs. 19/19201, S. 7, 9. S. auch Kritik bei Weigend (Fn. 18), S. 5; Klesczeweski, Stellungnahme v. 10.2.2020, S. 7 ff., abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/02/Stellungnahme-klesczweski-EU-Symbole.pdf (zuletzt abgerufen am 23.5.2021); Samour, Stellungnahme zur Anhörung im Rechtsausschuss am 12.2.2020 zur Ergänzung eines § 90c und Änderung der §§ 104 f. StGB, S. 4 f., abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/02/stellungnahme-samour-eu-symbole.pdf (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).
[29]    BT-Drs. 19/19201, S. 7.
[30]    Vgl. hierzu Frank, Stellungnahme v. 3.2.2020, S. 4, abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/02/Stellungnahme-Verunglimpfung-Franck.pdf (zuletzt abgerufen am 23.5.2021); Kritisch insoweit auch Heinrich, ZStW 2017, 425 (429).
[31]    Vgl. zur Thematik auch Hoven, JZ 2020, 835 (842).
[32]    Eisele (Fn. 20), S. 4 f.
[33]    Vgl. auch Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, Stellungnahme v. 5.3.2018, WD 3-3000-042/18, S. 5 f.; BT-Drs. 19/19201, S. 10; BR-Drs. 285/19, S. 3; Kreß, in: MüKo-StGB, § 104 Rn. 14; Weigend (Fn. 18), S. 4 f.; Eisele (Fn. 20), S. 4 f.; Samour (Fn. 28), S. 5; Lohse (Fn. 8), S. 4; Ebling, jM 2018, 342 (343).
[34]    Hoven, JZ 2020, 835 (841).
[35]    Anders Hoven JZ 2020, 835 (841).
[36]    Weigend (Fn. 18), S. 8, der eine Kriminalisierung ablehnt.
[37]    So aber Hoven, JZ 2020, 835 (841).
[38]    S. bereits Eisele (Fn. 20), S. 5.
[39]    Vgl. insoweit BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., Rn. 79; Krell, ZStW 2014, 902 (914).
[40]    BT-Drs. 19/19201, S. 14.
[41]    BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., Rn. 124; BVerfG, Beschl. v. 15.9.2008 – 1 BvR 1565/05, Rn. 12.
[42]    BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., Rn. 18.
[43]    Vgl. dazu Dörmann, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2018), § 11 VStGB Rn. 76 ff.
[44]    Vgl. grundsätzlich auch BR-Drs. 214/16, S. 3.
[45]    BVerfG, Beschl. v. 28.11.2011 – 1 BvR 917/09, Rn. 18.
[46]    BT.Drs. 19/19201, S. 14.
[47]    Vgl. bereits Weigend (Fn. 18), S. 5; Klesczeweski (Fn. 28), S. 8; Samour (Fn. 28), S. 5.
[48]    Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle bei Kommunikationsgrundrechten vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.9.2008 – 1 BvR 1565/05, Rn. 14.
[49]    Hoven, JZ 2020, 835 (838).
[50]    BVerfG, Beschl. v. 7.3.1990 – 1 BvR 266/86 u.a.; BVerfG, Beschl. v. 15.9.2008 – 1 BvR 1565/05, Rn. 10; BVerfG, Beschl. v. 28.11.2011 − 1 BvR 917/09, Rn. 24; BGH, Beschl. v. 30.10.2018 − 3 StR 27/18, Rn. 11.
[51]  BVerfG, Beschl. v. 7.3.1990 – 1 BvR 266/86 u.a.
[52]    BT-Drs. 19/19201, S. 10.
[53]    BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., Rn. 121.
[54]    BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., Rn. 122, vgl. dort auch Rn. 146. Vgl. auch. GenStA Koblenz, Entsch. v. 13.10.2016 – 4 ZS 831/16, Rn. 23 f.
[55]    Anders Hoven, JZ 2020, 835 (841).
[56]    Zum Tatbestandsmerkmal des beschimpfenden Unfugs vgl. Weiß, in: LK-StGB, § 104 Rn. 5. Unklar insoweit Mavany, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 3. Aufl. (2020), § 104 Rn. 5.
[57]    BVerfG, Beschl. v. 7.3.1990 – 1 BvR 266/86 u.a.; vgl. hierzu auch BR-Drs. 214/16, S. 2.
[58]    Anders wohl Eisele (Fn. 20), S. 4 mit Verweis auf Literaturstimmen (Steinmetz, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 90a Rn. 14; Laufhütte, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), § 90a Rn. 10 zu § 90a StGB, die angesichts divergierender Schutzgüter („Bestandsschutz“) und anderer Struktur des Tatbestands allerdings nicht so einfach übertragen werden können.
[59]    Vgl. insoweit die Erwähnung bei Eisele (Fn. 20), S. 3; Hoven, JZ 2020, 835 (836).
[60]    So Eisele (Fn. 20), S. 3. Ähnlich auch Ebling, jM 2018, 342 (343).
[61]    BT-Drs. 19/19201, S. 13; Lohse (Fn. 8), S. 4; Hoven, JZ 2020, 835 (840).
[62]    BVerfG, Beschl. v. 28.11.2011 – 1 BvR 917/09, Rn. 19.
[63]    BVerfG, Beschl. v. 28.11.2011 – 1 BvR 917/09, Rn. 19.
[64]    Zur Kritik am korporatistischen Staatsverständnis s. auch BR-Drs. 214/16, S. 2.
[65]    BVerfG, Beschl. v. 28.11.2011 – 1 BvR 917/09, Rn. 19, vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 15.9.2008 – 1 BvR 1565/05, Rn. 113.
[66]    Vgl. auch BT-Drs. 19/19201, S. 6.
[67]    Tagesschau, China droht USA und Taiwan, 11.1.2021, abrufbar unter: www.tagesschau.de.
[68]    Zur spanischen Verweigerung der Anerkennung aus innenpolitischen Gründen vgl. aktuell FAZ, Shitstorm mit Ansage, 30.3.2021, abrufbar unter: www.faz.net.
[69]    Zur Bereitschaft der USA, die Souveränität Marokkos in der West-Sahara im Gegenzug für einen Friedensvertrag mit Israel anzuerkennen, vgl. Deutsche Welle, Marokko will Israel anerkennen, 10.12.2020, abrufbar unter www.dw.com.
[70]    Hoven, JZ 2020, 835 (840).
[71]    BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., Rn. 129.
[72]    BVerfG, Beschl. v. 7.3.1990 – 1 BvR 266/86 u.a.
[73]    BVerfG, Beschl. v. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 75.
[74]    BVerfG, Beschl. v. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 77.
[75]    BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., Rn. 123.
[76]    Zum hohen Maßstab vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 65 ff; offen gelassen bei Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, Stellungnahme v. 5.3.2018, WD 3-3000-042/18, S. 8 f.
[77]    Zu den insoweit notwendigen Feststellungen vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 60.
[78]    So das Argument bei Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, Stellungnahme v. 5.3.2018, WD 3-3000-042/18, S. 7.
[79]    Collings, Protecting All the Flags but Not the Freedom of Speech, VerfBlog, 2020/1/17, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/protecting-all-the-flags-but-not-the-freedom-of-speech/ (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).

 

 

 

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