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Strafprozessuale Wiederaufnahme und Verfassungsrecht

von Wiss. Mit. Laurenz Eichhorn

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Abstract
In der Nacht zum 25.6.2021 hat der Deutsche Bundestag die Erweiterung des § 362 StPO um eine neue Nummer 5 beschlossen. Danach soll eine Wiederaufnahme zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen möglich sein, wenn diesem schwerste Straftaten, wie Mord oder bestimmte Verbrechen nach dem VStGB, zur Last gelegt werden. Früh wurden verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet. Auch das Gesetzgebungsverfahren konnte Vorbehalte verfassungsrechtlicher Art nicht vollends ausräumen. Im Folgenden soll daher dargelegt werden, weshalb § 362 Nr. 5 StPO n.F. verfassungswidrig ist. Sieht man dies anders und verneint die Verfassungswidrigkeit der Bestimmung, so ist sie jedenfalls restriktiv zu verstehen und nur in engen Grenzen anzuwenden. Es werden daher Leitlinien entwickelt, die trotz der Verfassungswidrigkeit eine Handhabung ermöglichen, die die verschiedenen verfassungsrechtlichen Anforderungen noch am weitesten zur Geltung bringen.

In the night of 25 June 2021, the German Bundestag voted to expand paragraph 362 of the Code of Criminal Procedure. According to this, a retrial will be possible to the disadvantage of a legally acquitted person if he or she is charged with the most serious offences such as murder or certain crimes under the Code of Crimes against International Law. Constitutional concerns were raised early. Even the legislative process could not fully dispel reservations of constitutional nature. In the following, I will therefore explain why paragraph 362 no. 5 of the Criminal Procedure Code is unconstitutional. Even if one did not see it that way, there are constitutional reasons to understand the provision very restrictively and to apply it only within narrow confines. Guidelines are developed which allow for a handling that still gives the broadest effect to the various constitutional requirements.

I. Die Neuerung im Einzelnen und deren Hintergrund

Aktueller Auslöser für die Erweiterung, die im Übrigen schon des Öfteren avisiert, aber nie umgesetzt wurde,[1] war eine Petition im Fall einer jungen Frau. Diese wurde vergewaltigt und ermordet. Der Täter wurde vom LG verurteilt, dieses Urteil vom BGH sodann aufgehoben und in der neuen Hauptverhandlung folgte ein Freispruch. Spätere DNA-Analysen anhand neuer Techniken ließen die Täterschaft wieder als wahrscheinlich erscheinen. 

Telos der Wiederaufnahme ist die Beseitigung von Fehlentscheidungen, die in Rechtskraft erwachsen sind und deren weiterer Bestand aus Gründen der materiellen Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Rechtsbewährung als unerträglich wahrgenommen wird. Diese Aspekte werden vom Rechtsstaatsprinzip erfasst, sind somit grundgesetzlich geschützt.[2] Folge ist eine Durchbrechung der Rechtskraft und des Vertrauensschutzes – auch diese sind verfassungsrechtlich abgesichert, und zwar in Art. 103 Abs. 3 GG und dem Rechtsstaatsprinzip.[3]

Die Novellierung beschränkt sich auf einen sehr begrenzten Bereich: die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen. Eingefügt wird eine neue Nummer 5, die es ermöglicht, ein Verfahren trotz eines rechtskräftigen Freispruchs wiederaufzunehmen, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.“[4] Möglich soll dies nach der Gesetzesbegründung insbesondere, aber nicht nur, dann sein, wenn neue DNA-Methoden oder DNA-Untersuchungen den Tatnachweis im Nachhinein wahrscheinlich erscheinen lassen und eine Verurteilung zum Zeitpunkt der ersten Hauptverhandlung an der Beweisbarkeit der Beteiligung scheiterte.[5] Dass sich dies in der Formulierung des Gesetzes nicht niederschlägt, ist dabei wenig erfreulich und ebenso bedenklich.

II.Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Neuregelung

Die Neuregelung verursacht verfassungsrechtliche Bedenken. Ihre Beleuchtung erscheint aus wissenschaftlicher Sicht hoch spannend, insbesondere mit Blick darauf, dass auch das BVerfG um eine Entscheidung nicht umhinkommen wird.[6]

Auf den ersten Blick enthält das Grundgesetz nur wenige Normen, die das Strafrecht betreffen. Umso wichtiger sind jene Artikel mit entsprechenden Regelungen, wie zum Beispiel Art. 103 GG. Auch das Rechtsstaatsprinzip begrenzt die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers im strafrechtlichen und strafprozessualen Bereich.

1. Art. 103 Abs. 3 GG

Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden – kurz: ne bis in idem. Die historischen Wurzeln reichen weit zurück; einige schreiben die Grundidee schon dem athenischen Redner Demosthenes zu.[7] Die Gewährleistung soll vor einer mehrfachen Bestrafung wegen derselben Tat schützen. Dem Bürger gibt der Grundsatz eine Zusage, eine Garantie, nach einer in Rechtskraft erwachsenen gerichtlichen Entscheidung nicht mehr strafrechtlich sanktioniert zu werden.[8] Der Strafverfolgung und Aburteilung von Straftaten wird ein Element der Singularität zugeschrieben. Die staatliche Strafrechtspflege wird eingehegt und dem Individuum Freiheit gewährt.[9] Auch wird abgesichert, dass der Einzelne nicht durch die ständige Adressierung strafprozessualer Maßnahmen zum Objekt staatlicher Wahrheitsfindung degradiert wird.[10]   

Auf den ersten Blick mag man einwenden, dass eine Kollision gar nicht besteht, da die Norm nur vor doppelter Bestrafung schützen soll. Wird ein Täter freigesprochen, hat dies gerade keine Bestrafung zur Folge – Art. 103 Abs. 3 GG wäre nicht im Ansatz tangiert.[11] Diese enge Auslegung greift zu kurz und verkennt das Normtelos. Die Norm beinhaltet auch dann einen „Unterlassungsanspruch“, wenn ein strafgerichtliches Urteil zu einem Freispruch führte,[12] was insbesondere die genetische Betrachtung zeigt. So formulierte Zinn im parlamentarischen Rat: „Der Grundgedanke ist, daß niemand wegen derselben Straftat wiederholt verfolgt werden darf“.[13] Hier kommt zum Ausdruck, dass ein vollumfänglicher Ausschluss, gerade auch im Falle eines Freispruchs, intendiert war. Weiter streitet auch die Teleologie für eine solche Auslegung, sollte doch die Einmaligkeit jeglicher Form der Aburteilung gewährleistet werden.[14]

Noch weitergehend wird sogar ein Verbot der mehrfachen Strafverfolgung aus der Norm interpretiert, sodass schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens untersagt ist.[15] Dies ist insofern schlüssig, als die Führung eines Ermittlungsverfahrens, welchem Prozesshindernisse entgegenstehen, nicht den Sinn und Zweck eines solchen erfüllen kann. Es gilt daher festzuhalten: Die nochmalige Durchführung eines Ermittlungsverfahrens, eine sich anschließende Hauptverhandlung und eine Verurteilung zu Lasten einer rechtskräftig freigesprochenen Person ist mit Art. 103 Abs. 3 GG nicht vereinbar.

Dennoch sind auch verfassungsrechtliche Normen in gewissen Konstellationen wägbar. Klärungsbedürftig ist, ob dies auch für Art. 103 Abs. 3 GG gilt, die Norm mithin eine zwingende Regel enthält oder ein wägbares Prinzip. Die Beantwortung dessen mag dabei nur im Wege der Auslegung gelingen.

Expressis verbis bietet die Verfassung keine Antwort. Gerade aus der fehlenden Möglichkeit der Beschränkung kann jedoch nicht auf die Unzulässigkeit einer solchen geschlossen werden. Das Grundgesetz enthält auch sonst Verbürgungen, die keine Beschränkungsmöglichkeiten benennen, jedoch wägbar sind.

Zielführender ist eine gesamt- und binnensystematische Betrachtung. Zu Letzterer: Art. 103 Abs. 3 GG ist eine spezielle Schutznorm, die ihren Anwendungsbereich im Zusammenhang mit staatlichem Strafen findet. Dasselbe gilt auch für Art. 103 Abs. 2 GG.[16] Diese Normen stehen also in einer Verbindung und sind dementsprechend auch ähnlich zu interpretieren. Art. 103 Abs. 2 GG stellt, anders als das aus dem Rechtsstaatsprinzip gewonnene Rückwirkungsverbot, ein solches absoluter Natur dar.[17] Selbst eine Disposition durch den verfassungsändernden Gesetzgeber soll ausgeschlossen sein.[18] Eine Unterscheidung zwischen „echter“ oder „unechter“ Rückwirkung und eine Abwägung findet nicht statt. Selbst wenn ein extrem zu missbilligendes Verhalten daher – vorerst – unbestraft bleibt, kann davon nicht abgewichen werden (man denke exemplarisch an die verschiedenen „Raser“-Fälle, welche vor Schaffung des § 315d StGB im Zweifel nur eine fahrlässige Tötung darstellten). Selbst bei schwerer, jedenfalls so empfundener, „Ungerechtigkeit“ steht die Norm nicht zur Disposition.[19] Es entzieht sich einer stringenten Begründung, warum für Art. 103 Abs. 3 GG etwas anderes gelten sollte. Vielmehr handelt es sich bei dem gesamten Artikel um einen solchen mit zwingenden Gewährleistungen – der gesamten Norm ist eine Absolutheit zuzusprechen.[20] Konsequenz ist bei Art. 103 Abs. 2 GG und ist es nach dieser Handhabung auch bei Art. 103 Abs. 3 GG, dass ein Widerstreit zwischen dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit, dem staatlichen Anspruch auf Kriminalstrafe und dem Vertrauen und der Rechtssicherheit des Beschuldigten immer abschließend zu Gunsten der beiden Letzteren zu entscheiden ist – unabhängig vom Kriterium der „Gerechtigkeit“.

Blickt man auf die verfassungsrechtliche Gesamtsystematik, kristallisiert sich das gleiche Ergebnis heraus. Art. 103 Abs. 3 GG schützt Vertrauen, ist mithin eine Ausprägung rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes.[21] Vertrauensschutz wird aber auch über das Rechtsstaatsprinzip gewährt.[22] Die Herauslösung des Vertrauensschutzes im strafrechtlichen Kontext aus diesem allgemeinen Vertrauensschutz des Rechtsstaatsprinzips,[23] dem abwägungszugänglichen Normenbestand des Grundgesetzes,  lässt nur den Schluss zu, dass der Grundgesetzgeber ein besonders hohes Schutzniveau schaffen und gerade die bei dem Rechtsstaatsprinzip mögliche, Abwägung ausschließen wollte. In den Verhandlungen zum Grundgesetz wurde erörtert, ob es sich bei dem Grundsatz „ne bis in idem“ nicht um einen solchen des Naturrechts handle, dieser mithin sowieso Geltung beanspruche und nicht gesondert geregelt werden müsse.[24] Der Vorschlag wurde abgelehnt, was die Vermutung stützt, dass gerade verhindert werden sollte, den Grundsatz in den Status eines bloßen Gewohnheitsrechtssatzes zu heben. Es sollte eben nicht nur ein „Kernbereich“ geschützt werden, sondern die umfängliche Gewährleistung. Hätte der Grundgesetzgeber eine Abwägung gewollt, so hätte er eine gesonderte Normierung unterlassen können. Anders gewendet lässt sich sagen: Art. 103 Abs. 3 GG ist schon das Ergebnis einer Abwägung, nämlich einer solchen durch den Grundgesetzgeber. Dieser hat den Vertrauensschutz und die Interessen des Angeklagten, der Adressat einer rechtskräftigen Entscheidung ist, höher bewertet als andere Rechtsgüter, auch solche von Verfassungsrang.[25] Möchte der Gesetzgeber eine andere Gewichtung, kann dies jedenfalls nicht durch einfaches Gesetz erfolgen.

Teilweise wird die Grundrechtsdogmatik und -systematik aber auch bemüht, um Gegenteiliges zu begründen: Das weite Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG nicht bloß als Schutz vor erneuter Bestrafung, sondern als Schutz vor jedweder neuen Verfolgung, müsse auch eine Ausweitung der Beschränkungsmöglichkeiten zur Folge haben.[26] Eine solche Annahme trivialisiert jedoch das Verhältnis von Schutzbereich und Schranke und statuiert eine vermeintlich logische Gleichung, die in dieser Pauschalität nicht gilt. Die gezielte Ausweitung des Schutzes über eine weite Interpretation des Schutzbereichs kann nicht durch eine möglichst weitgehende Handhabung der Beschränkungsmöglichkeiten konterkariert werden.

Auch die Genese spricht gegen die Annahme, Art. 103 Abs. 3 GG sei wägbar. Während der Verhandlungen zum Grundgesetz wurde auf die Relevanz eines Verfassungsrechtssatzes mit Blick auf Vorfälle im Nationalsozialismus hingewiesen. Verhindert werden sollte das von den Nationalsozialisten gebrauchte Institut der Ergänzungsmöglichkeit von Urteilen,[27] das eine Durchbrechung der Rechtskraft ermöglichte. Die Erweiterung der Wiederaufnahme lässt eine Rechtskraftdurchbrechung zu, erlaubt also gerade das, was mit Art. 103 Abs. 3 GG zu verhindern versucht wird. Exemplarisch wird in den Protokollen der Verhandlungen angeführt: „Wenn beispielsweise jemand wegen einfachen Landfriedensbruch bestraft war, aber tatsächlich schweren Landfriedensbruch begangen hat, konnte das Urteil ergänzt werden. Dies bedeutet eine Durchbrechung des Grundsatzes der materiellen Rechtskraft.“[28] Dieses Beispiel zeigt, dass jegliche Durchbrechung der Rechtskraft ausgeschlossen werden sollte. Das Strafgesetzbuch des Königreichs Bayern aus dem Jahre 1861, welches bei den Beratungen zur Sprache kam,[29] enthielt sogar explizit den Passus ,,Wer wegen einer ihm zur Last gelegten Tatsache rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, kann wegen derselben Tatsache nicht nochmals vor Gericht gestellt und bestraft werden […].“

In diesem Zusammenhang wird auch das BVerfG bzw. dessen Entscheidung vom 8.1.1981[30] fehlinterpretiert und als „Freifahrtschein“ zweckentfremdet. In der Debatte wird des Öfteren angeführt, das BVerfG habe judiziert, „Art 103 Abs. 3 GG steht Grenzkorrekturen nicht entgegen […]“.[31] Dies ist richtig und wurde, wie das Zitat zeigt, auch so niedergeschrieben. Dennoch kann daraus, was oftmals getan wird,[32] nicht geschlossen werden, dass eine generelle Öffnung der Norm für Randkorrekturen besteht. Betrachtet man den Abschnitt des gegenständlichen Judikats um den zitierten Satz genauer, so fällt auf, dass sich das BVerfG dort, wie in der gesamten Entscheidung, mit Fragen des Tatbegriffs auseinandersetzt. Es wird erörtert, inwiefern sich der einfachgesetzliche und der verfassungsrechtliche Tatbegriff decken und welche Konsequenz daraus folgt. Es wird sogar expressis verbis von den „offenen Randbereichen des Tatbegriffs“ gesprochen. Inwiefern damit eine Argumentation anhand dieser Entscheidung tragfähig ist, mag bezweifelt werden. Selbiges gilt für das Argument, das BVerfG und Art. 103 Abs. 3 GG stünden Neuerungen in Rechtsprechung und Prozessrechtswissenschaft nicht entgegen: Dass sich im Nachhinein Beweismittel offenbaren, die eine Verurteilung nun rechtfertigen würden, ist wahrlich keine Neuerung.[33]

Sofern in der Debatte darauf hingewiesen wird, das deutsche Strafprozessrecht kenne neben § 362 StPO auch im Strafbefehlsverfahren mit § 373a StPO eine Norm, die eine Wiederaufnahme zuungunsten zulasse,[34] so verkennt dieser Ansatz, dass das Strafbefehlsverfahren schon seinem Wesen nach einen vorläufigen, jedenfalls summarischen, Charakter hat,[35] welcher nicht mit einer rechtskräftigen Entscheidung durch ein Kollegialgericht (Schwurgericht) verglichen werden kann. Außerdem bleibt offen, inwiefern eine einfachgesetzliche Regelung, die eine Durchbrechung der Rechtskraft enthält, Rückschlüsse auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Durchbrechungen ermöglichen soll. Dieses Argument kann daher nicht von Gewicht sein. Dasselbe gilt auch, wenn argumentiert wird, dass die Durchbrechung zulässig ist, da eine Limitation durch die Begrenzung auf besonders schwere Verbrechen erfolgt, die der einfache Gesetzgeber für unverjährbar erklärt hat.[36] Unabhängig davon, dass die Wertung des einfachen Gesetzgebers nicht zwingend mit jener des Grundgesetzes einhergeht, stellt dies keine taugliche Limitation dar. Der einfache Gesetzgeber könnte auch andere Delikte für unverjährbar erklären und würde damit, folgte man der dargelegten Argumentationslinie, weiteren Ergänzungen der Wiederaufnahme zuungunsten den Weg ebnen.[37]

Die Schwäche einer Interpretation, die eine Abwägung zulässt, zeigt sich schnell: Danach ist eine solche mit weiteren, verfassungsimmanenten Grundsätzen und Rechtsgütern möglich. Dies hat zur Folge, dass in Fällen extremer Ungerechtigkeit bei schwersten Straftaten eine nochmalige Strafverfolgung möglich sein soll. Unabhängig davon, was man darunter überhaupt versteht, ist nicht von vornherein auszuschließen, dass zu Beginn eine Begrenzung auf äußerst schwerwiegende, ganz erhebliche Straftaten konsensfähig wäre. Im Laufe der Zeit könnte der Gesetzgeber unter geänderten Wertvorstellungen auch weniger schwere Straftaten für so gewichtig erachten, dass dafür ein nochmaliges Ermittlungsverfahren ermöglicht würde. Irgendwann wäre Art. 103 Abs. 3 GG stärker beschränkt als zu Beginn er- und bedacht. Was hier als Argument sehr düster gezeichnet wird, soll schlicht zeigen: Beginnt der Gesetzgeber einmal mit der Ausweitung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten, ist nicht auszuschließen, dass es nur bei den anfänglichen Modifikationen bleibt. Die Norm wäre fortan mit weiteren Einschränkungen konfrontiert, sobald das Gefühl entsteht, dass die geltende Rechtslage zu unbefriedigenden, „schlechterdings unerträglichen Ergebnissen“[38] führt.[39] Dies mag aus jetziger Sicht überzeichnet erscheinen, illustriert aber die Gefahr, die einer Erweiterung innewohnt.[40] Eine solche Gefahr[41] sollte auch auf verfassungsrechtlicher Ebene bedacht und antizipiert in den Diskurs integriert werden.

Es könnte gegen diese Sicht eingewandt werden, dass sie die bestehenden Regelungen der Wiederaufnahme zuungunsten eines Verurteilten nicht zu erklären vermag. Der absolute Charakter von Art. 103 Abs. 3 GG würde auch hier zur Verfassungswidrigkeit führen. § 362 StPO wird im Ergebnis von Rechtsprechung und Wissenschaft nicht für verfassungswidrig gehalten.[42] Dogmatisch wirft dies komplexe Fragen auf. Möchte man zu dem Ausgeführten nicht in Widerspruch treten und eine konsistente Begründung liefern, kann eine Berufung auf verfassungsimmanente Begrenzungen durch kollidierendes Verfassungsrecht[43] nicht vorgetragen werden. Auch in der Literatur anzutreffende Begrenzungen durch eine „Unerträglichkeitsgrenze“[44] sind dogmatisch inkohärent. Ausgangspunkt muss ein anderer sein: Das Bonner Grundgesetz ist wesentlich jünger als die StPO. Die Mütter und Väter des GG kannten die StPO bzw. die RStPO[45] und mussten sich über die existierenden Regelungen zur Wiederaufnahme im Klaren gewesen sein (in der RStPO §§ 399 ff.). Es ist anzunehmen, dass sie diese unberührt lassen und ihnen insbesondere nicht die Legitimation versagen wollten.[46] Art. 103 Abs. 3 GG ist im Lichte des historischen Kontexts zu interpretieren und mithin so zu lesen, dass schon bestehende Regelungen unberührt bleiben, neue Fallgruppen aber nicht begründet werden sollten.[47] Konsequenz dessen ist, dass eine Erweiterung der bestehenden Gründe zuungunsten des Angeklagten nicht möglich ist.[48] Mag dies auf den ersten Blick zu eng erscheinen, handelt es sich im Ergebnis um die bloße Fortführung der dargelegten Dogmatik.

Will man den abwägungsfesten Charakter trotzdem verneinen und eine Abwägung gestatten, so darf auch nach dieser Ansicht keine Beschränkung des Kerns von Art. 103 Abs. 3 GG erfolgen.[49] Es kommt somit darauf an, was Kern des Art. 103 Abs. 3 GG ist. Wie dargelegt, soll die gegenständliche Verbürgung eine Mehrfachverfolgung wegen derselben Tat verhindern. Wesentliches Element ist damit, reduziert auf einen Begriff, das Mehrfachverfolgungsverbot. Gerade dieses wird aber durch die Neuerung angegriffen. Es findet keineswegs die Modifikation äußerer Umstände statt; das, wovor die Norm gerade schützen möchte und das, was der originäre Gehalt der Norm ist, wird tangiert. Die Funktion der Norm wird angegangen. Das Gesetzesvorhaben kann sich damit nicht mehr nur als Grenzkorrektur rühmen.

Lässt man sich ein letztes Mal auf jene Ansicht ein und ermöglicht eine Abwägung, so müssen weitere Rechtsgüter von Verfassungsrang aufgetan werden und in einer Abwägung überwiegen. Die Befürworter führen das Rechtsstaatsprinzip ins Feld und rekurrieren auf die Unterkategorie der materiellen Gerechtigkeit.[50] In Fällen, bei denen ein Freispruch einen „unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß“[51] darstellt, müsse eine Beschränkung von Art. 103 Abs. 3 GG möglich sein. Hier zeigt sich, dass auch der Gesetzgeber einem sehr einseitigen Verständnis materieller Gerechtigkeit Gefolgschaft leistet. Gerechtigkeit kann danach wohl nur vorliegen, wenn ein Täter verurteilt wird und dies möglichst hart. Im Rechtsstaat des Grundgesetzes ist es jedoch auch und gerade gerecht, wenn ein prozedural rechtmäßiges, einem rechtsförmigen Ablauf folgendes, Verfahren zu einem Freispruch geführt hat; dass sich im Nachhinein etwas anderes als vermeintlich wahr erweist, hat dann keinen Einfluss mehr auf das Ergebnis – selbst wenn dies unbefriedigend[52] erscheint. Gerecht ist, dass eine Entscheidung getroffen wurde. Es ist im Übrigen Konsens, dass der Rechtsstaat nicht nur primär darauf abzielen kann, ein möglichst richtiges, vermeintlich materiell gerechtes Urteil[53] zu sprechen. Auch der Weg dorthin ist entscheidend.[54]

Die Zulässigkeit einer Abwägung würde auch dazu führen, dass der Schutz durch strafprozessuale und verfassungsrechtliche Verbürgungen abnimmt, wenn die Schwere der vermeintlich begangenen Straftat zunimmt. Der Wortlaut der Norm differenziert jedoch nicht nach Art und Schwere der Tat oder gesteht die Verbürgung erst bei Unterschreitung gewisser Grenzen zu.

2. Rechtsstaatsprinzip

Die Erweiterung des § 362 StPO ist auch mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.

a) Vertrauensschutz

Die Fassung des Gesetzes, wie vom Bundestag beschlossen, enthält keine Beschränkung auf Fälle, die nach Verabschiedung abgeurteilt werden. Vielmehr können auch Altfälle wiederaufgenommen werden. Das Rechtsstaatsprinzip enthält als Ausprägung das Gebot der Rechtssicherheit, das die Verlässlichkeit der Rechtsordnung gewährleistet.[55] Ohne das Vorhandensein eines Minimums an Beständigkeit und damit einhergehender Verlässlichkeit wird staatliches Handeln für den Bürger unkalkulierbar und in der Folge unverständlich. Weiter würde das staatliche Agieren irgendwann sogar willkürlich erscheinen und den Bürger zum bloßen Objekt dieser fluiden Rechtssetzung machen.[56] Nötig ist daher eine verfassungsrechtliche Einhegung möglicher Rückwirkung. Traditionell wird zwischen echter und unechter Rückwirkung unterschieden.[57]

Die Neuregelung des § 362 StPO knüpft an einen Freispruch an, der in der Vergangenheit liegt und in Rechtskraft erwachsen ist – es handelt sich mithin um einen Fall echter Rückwirkung. Der Versuch der Begründung unechter Rückwirkung muss scheitern, da man ansonsten argumentieren muss, die Entstehung der Rechtskraft sei ein Prozess, der erst im Laufe der Zeit voranschreitet. Richtig ist, dass Rechtskraft zu einem konkreten Zeitpunkt eintritt und ab diesem besteht.[58] Mit der Entstehung ist der Sachverhalt abgeschlossen und der Bürger darf vertrauen.

Gesetze mit echter Rückwirkung sind grundsätzlich unzulässig,[59] da das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand von Regelungen, die für abgeschlossene Tatbestände gefunden wurden, eine nachträgliche Verschlechterung der Gesetzeslage ausschließt. Vertrauensschutz hat Vorrang. Da dieses Kriterium entscheidend ist, muss aber auch tatsächlich Vertrauen gebildet worden[60] und dieses auch schutzwürdig sein. Mithin sind in engen Grenzen Ausnahmen denkbar; diese hat das BVerfG typisierend in verschiedene Fallgruppen geordnet. Hier interessierend ist der Ansatz, dass der Vertrauensschutz zurücktreten muss, wenn überragende Belange des Gemeinwohls eine Rückwirkung erfordern.[61] Als überragender Gemeinwohlbelang könnte wiederum die materielle Gerechtigkeit angeführt werden. Die Schutzwürdigkeit ließe sich mit dem Argument ablehnen, dass nicht schutzwürdig ist, wer schwerste Straftaten begeht und der Täter auch damit rechnen konnte, dass unverjährbare Taten, die ad infinitum verfolgt werden können, wenn nachweisbar, zu einer Verurteilung führen.

Dem ist zu entgegnen, dass Täter, die einen Strafprozess bis zum Freispruch erlebt haben, durchaus nachvollziehbarer darauf vertrauen, dass der Staat sich von ihrer Unschuld überzeugt hat und nicht erneut auf sie zugreift. Entscheidend ist aber ein systematischer Blick. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot ist im Lichte von Art. 103 Abs. 2 und 3 GG zu sehen – dort fällt die Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit und Vertrauensschutz stets zugunsten des Letzteren aus. Diese Grundentscheidung muss auch in allgemeine Grundsätze hineinwirken, wenn sie für Fragen zu dem speziellen Problemkomplex herangezogen werden.[62] Insofern ist die Neuregelung nicht mit Grundsätzen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes vereinbar.

Dass hieraus auch erhebliche Zweifel an der Bestimmtheit entstehen, kann nur angedeutet werden. Dasselbe gilt für die Vereinbarkeit dieser Nichtregelung für Altfälle durch den Gesetzgeber mit der Wesentlichkeitslehre des BVerfG.

b) Verhältnismäßigkeit

Auch den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügt die Erweiterung nicht. Das Gesetz sieht keine Begrenzung auf eine bestimmte Anzahl an Wiederaufnahmen vor. Es ist möglich, dass ein Angeklagter freigesprochen wird, das Verfahren wiederaufgenommen wird, einen Freispruch zur Folge hat und sodann nochmals wiederaufgenommen wird. Eine lebenslange Strafverfolgung ist damit nicht ausgeschlossen. Freisprüche werden zu solchen auf Widerruf.

Des Weiteren muss bedacht werden, dass auch tatsächlich unschuldige Personen beliebig oft verfolgt werden können. Diesen gegenüber kann nicht angeführt werden, dass die materielle Wahrheitsfindung eine Wiederaufnahme zu rechtfertigen vermag. Auch der Gesetzgeber erklärt nicht, wie diese Belastung verfassungsrechtlich zulässig sein soll. Dabei liegt dort ein erheblicher Schwachpunkt des Gesetzes. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bezeichnet dies,[63] mit Blick auf die Terminologie des aktuellen Gesetzentwurfs durchaus interessant, mit der Wendung der „Unerträglichkeit eines weiteren Strafverfahrens“.

III. Legitimation anhand der EMRK

Abschließend soll die nationale Ebene verlassen und ein Blick auf die EMRK geworfen werden. Dass eine gegen nationales Verfassungsrecht verstoßende Norm nicht verfassungskonform wird, weil sie mit dem Konventionsrecht vereinbar ist, ist unstrittig. Dennoch wird die Zulässigkeit der Erweiterung des Öfteren auch unter Rekurs auf die EMRK zu begründen versucht. Nach Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK[64] darf niemand wegen einer Straftat, wegen welcher er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden. Kern der Argumentation ist Absatz 2 der Norm. Danach soll die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht ausgeschlossen sein, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen. Die Schaffung eines Wiederaufnahmegrundes für das Auftreten neuer Tatsachen ist somit im Grundsatz nicht konventionswidrig. Drei Aspekte, die bei Rekurs auf das Zusatzprotokoll verkannt werden, sind jedoch zu beachten. Deutschland hat dieses Zusatzprotokoll nie ratifiziert,[65] sodass es weder für die BRD noch für die Argumentation in der aktuellen Debatte Wirkung entfalten kann. Nimmt man den Wortlaut des Absatz 2 eng, so wäre eine Interpretation dahingehend denkbar, dass die neuerliche Untersuchung einer alten DNA-Probe schon keine neue oder neu bekannt gewordene Tatsache ist; vielmehr wird eine alte Tatsache neu ausgewertet.[66] Ein Ausnahmefall von Absatz 1 wäre nicht begründet. Im Übrigen verkennt jene Argumentation wiederum Art. 53 EMRK, wonach eine Auslegung untersagt ist, die Menschenrechte und Grundfreiheiten beschränkt, die in den Gesetzen einer Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden. Die EMRK will mithin nur Mindeststandards schützen,[67] also gerade nicht als Vehikel zur Beschränkung national gewährleisteter Rechte dienen. Insofern geht jegliche legitimierende Argumentation anhand der EMRK fehl.

IV. Handhabung der Neuregelung im Lichte des Grundgesetzes

Trotz der dargelegten Unvereinbarkeit der Erweiterung mit dem Grundgesetz wird die Praxis alsbald mit der Neuregelung konfrontiert werden. Es gilt daher abschließend darzulegen, wie eine Handhabung aussehen sollte, die dennoch versucht, die Vorschriften und Wertungen des Grundgesetzes möglichst weitgehend zur Geltung zu bringen. Auch Exekutive und Judikative sind verpflichtet, jegliches Recht im Lichte des Grundgesetzes anzuwenden (Art. 20 Abs. 3 GG).

Dabei sei darauf hingewiesen, dass das Folgende keine verfassungskonforme Handhabung in dem Sinne ermöglicht, die das Gesetz als Ganzes verfassungskonform erscheinen lässt; der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG lässt sich nicht im Wege der Auslegung beseitigen.

Auf einer ersten Ebene ist der Anwendungsbereich zu beschränken. Dieser kann nur eröffnet sein, wenn das freisprechende Urteil nach Inkrafttreten des Gesetzes erging. Altfälle dürfen nicht wiederaufgenommen werden – auch wenn dies wohl Hauptintention des Gesetzgebers war, was daraus ersichtlich wird, dass in der Begründung explizit auf Altfälle Bezug genommen wird. Diese Beschränkung ist zur Wahrung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots erforderlich.

Im Weiteren muss die Anzahl möglicher Wiederaufnahmen mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit begrenzt werden. Ist das Verfahren einmal wiederaufgenommen worden und kam es zu einem erneuten Freispruch, darf keine weitere Wiederaufnahme erfolgen.

Der Tatbestand der Norm muss eng ausgelegt werden. Der Passus, eine Wiederaufnahme dürfe erfolgen, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden“ ist einschränkend auszulegen. § 359 Nr. 5 StPO kann dabei zur grundsätzlichen Herleitung der Begrifflichkeiten behilflich sein. Überträgt man vorsichtig die dort herausgebildeten Definitionen auf § 362 Nr. 5 StPO n.F., so ist für die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen erforderlich, dass Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die von dem erkennenden Gericht unberücksichtigt geblieben sind und sowohl abstrakt als auch im konkreten Fall unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu einer Verurteilung führen.

Soweit das Gesetz davon spricht, dass dringende Gründe vorliegen müssen, so ist hierin die Einbruchstelle für eine Handhabung im Lichte des Grundgesetzes zu sehen. Dringende Gründe können nur dann angenommen werden, wenn eine Verurteilung im wiederaufgenommenen Verfahren höchst wahrscheinlich ist[68] und letztlich keine ernsthaften Zweifel an der Täterschaft bestehen. Handelt es sich um Beweise naturwissenschaftlicher Art, ist es erforderlich, dass mindestens zwei verschiedene Sachverständige zum selben Ergebnis kommen. Es könnte sogar angedacht werden, dass als neue Beweise nur solche naturwissenschaftlicher Art anerkannt werden;[69] letztlich stellt auch der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung im Wesentlichen auf Neuerungen in diesem Bereich, insbesondere bei der DNA-Auswertung, ab.[70] Die Qualität und damit die verfassungsrechtliche Bewertung von Zeugen als Beweismittel nach teils erheblicher Zeit erscheint fraglich.[71]

Es ist auch geboten, dass der Freigesprochene bereits zuvor wegen eines Delikts angeklagt war, für das nun die Wiederaufnahme möglich sein soll – zieht man hier keine Grenze, ist der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Daraus folgt, dass eine Wiederaufnahme nicht möglich sein darf, wenn eine Verurteilung wegen eines weniger schweren Delikts erfolgt ist. Zeigt sich innerhalb der neuen Hauptverhandlung, dass sich der Angeklagte zwar strafbar gemacht hat, dies jedoch nicht wegen Mordes, so muss eine Verurteilung (abgesehen von Fragen der Verjährung) unterbleiben. Wie dies konkret erfolgt, durch Einstellung, bestätigendes Urteil oder erneuten Freispruch, kann hier offenbleiben. Insofern ist § 370 Abs. 2 StPO restriktiv zu handhaben, wobei methodisch eine teleologische Reduktion vorzugswürdig erscheint. Nach dieser Norm beseitigt die Anordnung der Wiederaufnahme die Rechtskraft des Freispruchs und das Verfahren wird in jenen Zustand zurückversetzt, in dem es sich vor Urteilserlass befand.[72] Damit wäre der Weg frei für eine Verurteilung, losgelöst vom strafrechtlichen Vorwurf, die, wie gezeigt, zu verhindern ist.

V. Resümee und Ausblick

Die einfachgesetzliche Erweiterung der strafprozessualen Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Freigesprochenen ist verfassungsrechtlich unzulässig und stellt eine Verbürgung des rechtsstaatlichen Kerns des Grundgesetzes in Frage. Art. 103 Abs. 3 GG, das Rechtsstaatsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen der Gesetzesänderung entgegen. Abhilfe könnte nur eine Änderung des Art. 103 Abs. 3 GG schaffen.[73]

Bis zu einer möglichen Klärung durch das BVerfG muss die Norm durch die Rechtsanwender möglichst sorgsam gehandhabt und im Lichte des Grundgesetzes angewandt werden. Die rechtswissenschaftliche Debatte sollte bis dahin volle Fahrt aufgenommen haben.

Dass der Gesetzentwurf die Überschrift „[…] Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten […]“[74] trägt, sei dabei abschließend nur am Rande erwähnt.

 

[1]      Siehe BR-Drs. 16/7957 (= BR-Drs. 655/07) – siehe dazu Grünewald, R&P 2009, 1.
[2]      BVerfGE 33, 367 (378, 383); 38, 105 (115 f.).
[3]      BVerfGE 56, 22 (31).
[4]      BT-Drs. 19/30399, S. 4.
[5]      A.a.O., S. 1.
[6]      Diese Hoffnung teilend Schiffbauer, NJW 2021, 2097 (2099); Arnemann, NJW-Spezial 2021, 440).
[7]      Schlussantrag Sharpston in Rechtssache C-467/04 Rn. 56; nach Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. (2021), Art. 103 Rn. 76 ist der Grundsatz ins römische Recht zurückzuverfolgen; instruktiv dazu auch Brade, AöR 2021, 130 (135).
[8]      Radtke, in: BeckOK-GG, 47. Ed. (15.5.2021), Art. 103 GG Rn. 44.
[9]      Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl. (2018), Art. 103 Abs. 3 Rn. 12; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), S. 79 spricht von „[…] der Gestaltung des menschenwürdigen Seins […]“.
[10]    Den Bezug zur Menschenwürde betonend Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. (2018), Art. 103 Abs. 3 Rn. 231 und Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 12, 36.
[11]    Dies andeutend Letzgus, NStZ 2020, 717 (719).
[12]    BVerfGE 12, 62 (66); Bayer, R&P 2021, 231.
[13]    Zinn, Wortprot. der 8. Sitzung im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, siehe in Büttner/Wettengel, Rat 13/II, S. 1449 (1465).
[14]    So auch Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 94. EL (01/2021), Art. 103 Abs. 3 Rn. 65.
[15]    BGHSt 44, 1 (3); 9, 190 (192).
[16]    Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 40.
[17]    Kritisch zu den Durchbrechungen anhand der Radbruch’schen Formel: Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 131 ff.
[18]    Remmert, a.a.O. Rn. 7.
[19]    BVerfGE 95, 96 (131 f.); 109, 133 (171).
[20]    Genau gegenteilig: Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, S. 220.
[21]    BVerfGE 56, 22 (31).
[22]    BVerfGE 59, 128 (152); 105, 48 (57).
[23]    Marxen/Tiemann, ZIS 2010, 188 (192) sprechen von Art. 103 GG als einer „Spezialnorm“.
[24]    Wortprot. der 8. Sitzung im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, siehe in Büttner/Wettengel, Rat 13/II, S. 1465.
[25]    So auch Wiss. Dienst des Bundestages, Az. WD 7 – 3000 – 121/16, S. 12; Leitmeier, StV 2021, 341 (343).
[26]    Bohn, S. 86.
[27]    Wortprot. der 8. Sitzung im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof u. Rechtspflege, siehe in: Büttner/Wettengel, Rat 13/II, S. 1465.
[28]    A.a.O., S. 1465.
[29]    A.a.O., S. 1465.
[30]    BVerfGE 56, 22
[31]    BVerfGE 56, 22 (34).
[32]    Exemplarisch Zehetgruber, JR 2020, 157 (161).
[33]    Vgl. Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188 (191), die von einem nur graduellen Unterschied sprechen.
[34]    Letzgus, NStZ 2020, 717 (719); Zehetgruber, JR 2020, 157 (164).
[35]    BVerfGE 65, 377 (383, 385).
[36]    Zu dieser Argumentation exemplarisch Zehetgruber, JR 2020, 157 (166).
[37]    Ob die Begrenzung insofern „klar umrissen“ ist, wie dies Zehetgruber, JR 2020, 157 (166) behauptet, bleibt fraglich.
[38]    BT-Drs. 19/30399, Seite 1 a.E.
[39]    Nach Müller-Metz, NJW 2003, 3173 (3175) bedarf es eines „[…] unabweisbaren, […] Bedürfnisses der Allgemeinheit.“, wobei dieser einer Ausweitung im Zusammenhang mit Maßregeln kritisch sieht.
[40]    Nach Saliger, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Vol. 15 2007, S. 633 (652) kann die Verwendung des Slippery-Slope-Arguments nur dann Überzeugungskraft entfalten, wenn die schiefe Bahn bzw. der Dammbruch genau bezeichnet wird – die skizzierte Gefahr muss also tatsächlich bestehen; dass dies hier der Fall ist, zeigen: Helbing, ZRP 2010, 271; Stoffers, ZRP 1998, 173 (178); Wasserburg, ZRP 1997, 412 (415); für das Ausland: Swoboda, HRRS 2009, 188 (197).
[41]    Diese wird auch gesehen von: Frister/Müller, ZRP 2019, 101 (104); Papst, ZIS 2010, 126 (133); Scherzberg, ZRP 2010, 271, der explizit davon spricht, dass „Ein weiterer Systembruch“ wohl „damit vorprogrammiert“ sei; Scherzberg/Thiee, ZRP 2008, 80 (83); a.A. ausdrücklich Zehetgruber, JR 2020, 157 (167).
[42]   Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 32; Kment/Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. (2020), Art. 103 Rn. 110; Kunig/Saliger, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. (2021), Art. 103 Rn. 78; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, 194. Akt. (2018), Art. 103 Abs. 3 Rn. 65f.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 84 spricht von einer immanenten Schranke.
[43]    So aber Kment/Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 106.
[44] Wohl für denkbar gehalten von: Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. (2018), Art. 103 Abs. 3 Rn. 222; Nolte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. V, (2013), § 135 Rn. 19; dagegen Sodan, in: Sodan, GG, 4. Aufl. (2018), Art. 103 Rn. 32.
[45]    StPO v. 1.2.1877 (RGBl. 1877, S. 253).
[46]    So auch Kunig/Saliger, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 103 Rn. 47; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 222; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 32; Kment/Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 105 f.
[47]    Papst, ZIS 2010, 126 (127) spricht von einer immanenten Schranke des Art. 103 Abs. 3 GG.
[48]    Statt aller Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 63 m.w.N.
[49]    Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. (2017), Art. 103 Rn. 82; Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188 (191).
[50]    Letzgus, NStZ 2020, 717 (719).
[51]    BT-Drs. 19/30399, S. 5.
[52]    Winkelmeier-Becker, ZRP 2018, 62.
[53]    Siehe rechtsvergleichend Swoboda, HRRS 2009, 188 (190), mit Hinweis, dass auch die angelsächsischen Rechtsordnungen immer öfter dem Kriterium der materiellen Gerechtigkeit den Vorzug geben.
[54]    BVerfG, NJW 1984, 428 (429); BGHSt 14, 358 (365); 31, 304 (309); insofern verkennt Zehetgruber, JR 2020, 157 (158), dass die Annäherung an die Wahrheit nicht dem „tatsächlich vorrangigsten Ziel“ entspricht, sondern die Ziele des Strafprozesses stets in einem Verhältnis stehen, das keinem Prinzip den Vorrang einräumt.
[55]    BVerfGE 24, 75 (98); 109, 133 (180).
[56]    Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 50.
[57]    BVerfGE 11, 139 (145 f.); 13, 261 (271); zu beachten, dass der 2. Senat seit BVerfGE 72, 201 zwischen Rückbewirkung von Rechtsfolgen und tatbestandlicher Rückanknüpfung unterscheidet.
[58]    Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 15. Aufl. (2020), Rn. 771 f.
[59]    BVerfGE 13, 261 (271); 97, 67 (78).
[60]    Nach BVerfG, NJW 2021, 1222 (1228) findet der Grundsatz im Vertrauen nicht nur seine Grundlage, sondern auch seine Grenze.
[61]    BVerfGE 13, 261 (272); 135, 1 (22).
[62]    Ähnlich Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251 (254).
[63]    Az. WD 7 – 3000 – 121/16, S. 12.
[64]    Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 22.11.1984, UNTS Nr.2889, Bd.1989, S. 195.
[65]    Grabenwarter/Pabel, EMRK, 7. Aufl. (2021), § 24 Rn. 162.
[66]    Neue Zeugen lassen sich wohl schon nicht unter den Tatsachenbegriff fassen.
[67]    Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. (2017), Art. 53 Rn. 1.
[68]    Nach Frister/Müller, ZRP 2019, 101 (102) sei auch der Gerechtigkeit nur gedient, wenn tatsächlich ganz konkrete Umstände gegeben sind, die zeigen, warum ein weiteres Verfahren zu einer gerechteren Entscheidung führt; krit. dazu Füllkrug, Kriminalistik 2020, 405.
[69]    So auch die Initiative 2007, BR-Drs. 655/07, S. 1, 5, 6 der Anl. 
[70]    BT-Drs. 19/30399, Seite 1, 2, 9, 10; dies explizit ablehnend Frister/Müller, ZRP 2019, 101 (103).
[71]    Darauf hinweisend Hanack, JZ 1973, 393 (394); Frister/Müller, ZRP 2019, 101 (102); Ruhs, ZRP 2021, 88 (91).
[72]    BGHSt 14, 64 (66); Schmidt in: KK-StPO, 8. Aufl. (2019), § 370 Rn. 13 m.w.N.
[73]    Dies in Erwägung ziehend auch Brade, ZIS 2021, 362 (364) und ausdrücklich Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 3, Rn. 35; a.A. Zehetgruber, JR 2020, 157 (167).
[74]    BT-Drs. 19/30399, S. 1, 2, 9, 10.

 

 

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